Von Günter Müchler

Günter Müchler

Die Erfahrung, dass viele Vergleiche hinken, setzt den Vergleich nicht außer Kurs. Er bleibt trotz seiner Schwächen ein brauchbares Mittel, Einsichten zu gewinnen, die hier und da vielleicht sogar zu Lösungen führen. Wagen wir also den Versuch und stellen die Nationalfeiertage, wie sie in Frankreich und in Deutschland begangen werden, nebeneinander. Der 3. Oktober schneidet dabei nicht gut ab.  Vor allem in diesem Jahr, 33 Jahre nach dem Ende der deutschen Teilung, war bei uns von Feierlaune wenig zu spüren. Dafür umso mehr von Ratlosigkeit, Besorgnis und Gereiztheit.  Wie groß mag wohl die Zahl derjenigen gewesen sein, die überhaupt wussten, weshalb an dem Tag arbeitsfrei war? Fragen wir besser nicht.

In Frankreich wird der 14. Juli mit Aplomb gefeiert. Paraden auf den Champs Élysées, Flugzeuge, die über die Hauptstadt brausen, lange Streifen in blau-weiß-rot hinterlassend. Das Staatsspektakel muss  nicht jedem gefallen, es macht aber bestenfalls eine Hälfte des Nationalfeiertags aus. Die andere Hälfte spielt sich überall im Land ab, in den Städten und Dörfern, wo ordentlich gefeiert wird, mit Musik und Tanz und oft mit Feuerwerk. Der Quatorze Juillet ist populär und ein Merkposten im Jahreskalender der Franzosen. Dabei verweist er auf ein Ereignis, das nicht nur bereits über zweihundert Jahre zurückliegt, sondern auch keineswegs unumstritten ist. Einerseits war die Revolution, die mit der Erstürmung des Bastille-Gefängnisses eingeläutet wurde, der Quell großartiger Neuerungen. Andererseits bescherte die Revolution eben auch das Gegenteil von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Nämlich Intoleranz, Tugendterror und Bürgerkrieg.

Dagegen markiert unser 3. Oktober einen Tag von fast makelloser Schönheit. Er bildete den Schlusspunkt einer glückhaften Periode, für die es in der deutschen Geschichte keine Parallele gibt. Wer hatte den Deutschen schon zugetraut, sie würden am Ende eines hauptsächlich durch sie blutig getränkten Jahrhunderts eine Revolution für die Freiheit hinbekommen, eine Revolution ohne Gewalt und Guillotine? Die elf Monate vom Mauerfall bis zum Vereinigungsakt, dazwischen Kohls historische Rede vor der Dresdner Frauenkirche und die freie Volkskammerwahl – sie waren ein einziger Traum, dessen man sich heute nicht ohne Rührung erinnern kann.

Freilich, Lücken im Reigen der Freude waren schon damals erkennbar. Dass die Nomenklatura des SED-Staates nicht begeistert war, überraschte niemanden. Bemerkenswerter waren die westdeutschen Dissonanzen. Es wurden alarmistische Bücher verfasst. Eines hieß „Im Nationalrausch“ und erklärte die Wiederkehr deutscher Großmannssucht für unweigerlich. Der Großteil der bundesrepublikanischen Linken war sowieso neben der Spur. Jahrelang hatte man Freiheitsbewegungen im Warschauer Pakt als Bedrohung der Entspannungspolitik misstrauisch beäugt. Der Status quo war ein unbedingtes Rühr-mich-nicht-an, der moralischen Fragwürdigkeit zum Trotz. Als dann die Mauer fiel, beklagten viele Linke das Hinscheiden der DDR als Verlust einer Utopie. Andere haderten mit dem alttestamentarischen Gott der Vergeltung. Günter Grass war nicht der einzige, der in der deutschen Teilung die gerechte Strafe für Auschwitz sah, womit er bequemerweise allein den Ostdeutschen  zumutete, die Suppe auszulöffeln. Die westdeutsche Intelligenzia habe die Wiedervereinigung mit „gestopften Trompeten“ begrüßt. Dem Urteil des verstorbenen Historikers Hans-Peter Schwarz kann man schwerlich widersprechen.

Und später? Die Begeisterung verflog allzu rasch, hüben wie drüben. „Frei werden ist alles, frei sein ist nichts“, schrieb vor mehr als hundertfünfzig Jahren Heinrich Heine, der große Menschenkenner. So wog man irgendwann in der verflossenen DDR den Gewinn an „liberté“ gegen die versprochene, aber nicht eingetroffene „égalité“ ab, und Viele fanden, man sei, wieder mal, zu kurz gekommen. Dabei wurden in den vergangenen drei Jahrzehnten materiell Berge versetzt. Billionen flossen in die Angleichung der Verhältnisse. Die „blühenden Landschaften“ sind, wenn auch nicht ohne Einschränken, längst Realität.

Die meisten Menschen in den neuen Bundesländern erkennen das Erreichte ja auch an. Trotzdem ist die Unzufriedenheit groß. Dabei sind im Osten die Straßen besser als mancherorts im Westen, das Internet ist schneller, die Renten sind auf Pari, die Verdienste nähern sich an. Wenn von Abgehängtsein die Rede ist, geht es also nicht in erster Linie um Geld. Es geht um Empfindlichkeiten, um erlittene Verletzungen und das Gefühl, nicht gleichwertig zu sein. Gut, man hat vierzig Jahre in der Diktatur gelebt und sich darin eingerichtet oder auch nicht. Aber keiner lässt sich gern vorhalten, schon gar nicht von Besserwessis, dieses Leben sei nichts wert gewesen. Es hatte Höhen und Tiefen wie jedes Leben.

Die Jahre nach der Wiedervereinigung waren für die 16 Millionen Ostdeutsche eine Stresszeit. Man musste sich anpassen, unendlich viel lernen und nebenbei erfahren, dass Qualifikationen, auf die man stolz gewesen war, nicht mehr viel zählten. Das wurde und wird in der alten Bundesrepublik bis heute gern übersehen. Bei sich selbst sahen und sehen die Westdeutschen keinerlei Änderungsbedarf. Das Ergebnis ist eine doppelte Fehlhaltung. Im Westen rollt man die Augen ob der angeblichen Bräsigkeit und sonstiger eingeborener Merkwürdigkeiten der Ostdeutschen. Im Osten wiederum gefällt man sich in der Rolle des Opfers westlicher Bevormundung. Muss man hinzufügen, dass diese Rollenübernahme von der AfD (und auch der Linken) hingebungsvoll unterstützt wird? Ohnehin entspricht sie dem Geist der Zeit, der Opfer ohne Zahl gebiert: Frauen, Homosexuelle, Transsexuelle, ehemalige Kolonialvölker, dazu den kompletten „Globalen Süden“. Weshalb soll ausgerechnet der globale Osten Deutschlands auf den Opferstatus verzichten?

Von den ungelösten Knoten der Vereinigung zeugt eine Welle von Literaturproduktionen, die das Thema der Nachwendezeit aufgreifen. Der Erfolg von Dirk Oschmanns „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ und Katja Hoyers „Diesseits der Mauer“ sind Beispiele, die belegen, dass die Antennen auf Empfang stehen. Die Schalen der Unzufriedenheit und der Ratlosigkeit sind, so scheint es, randvoll. Das muss nicht schlecht sein. Es könnte der Moment sein, in dem man anfängt, miteinander zu reden und einander zuzuhören, was in der Vergangenheit zu selten der Fall war. Haben sich Westdeutsche in größerer Zahl jemals für die neuen Bundesländer interessiert und sei es auch nur, um an Ort und Stelle ihre selbstgewissen Urteile zu überprüfen?

Ein aktives Aufeinanderzugehen wird zu der Erkenntnis führen, dass ein geschichtlicher Umbruch nicht so leicht verdaut ist. Vierzig Jahre Teilung bedeutet vierzig Jahre andere Bilder, unterschiedliche Erfahrungen, getrennte Narrative. Sie zusammenzuführen, bedarf es wahrscheinlich der Aufgeschlossenheit einer neuen Generation. Ein Fortschritt wäre schon, sich immer wieder die Geschichten der glorreichen Wendezeit zu erzählen. Es könnte sein, dass dann eines Tages der 3. Oktober gemeinsam und fröhlich gefeiert wird So wie der 14. Juli in unserem Nachbarland Frankreich.   

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.   

 

 

 

 

    

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