Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Armin Laschet, Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident, hat in den vergangenen drei Wochen – genau wie seine rheinland-pfälzische Kollegin Malu Dreyer – mehrfach die in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli von Wasserfluten zerstörten Orte und Landschaften und die verzweifelten Menschen dort besucht. Eigentlich gehört so etwas zu den Grundregeln der Fürsorgepflicht von Politikern. Allerdings wurde Laschet, der CDU-Bundesvorsitzende, bei seiner Ankunft in Swisttal von den dortigen Bürgern massiv, ja geradezu aggressiv, angegangen. Die Sozialdemokratin Dreyer, dagegen, traf – wohin immer sie kam – auf eine freundliche Atmosphäre. Obwohl die Menschen dort von der Wasserkatastrophe genauso unbarmherzig getroffen worden waren wie jene nur ein paar wenige Kilometer weiter nördlich im anderen Bundesland.

Das mag bewertet werden wie es will. Kann sein, dass von dem einen einfach mehr erwartet wird als von der anderen, weil dieser sich in ein paar Wochen der Wahl zum Bundeskanzler stellen will und jene nicht. Vielleicht auch vermag der Christdemokrat aus Aachen nicht so viel Wärme und Herzlichkeit verbreiten wie die Frau aus Trier. Möglicherweise aber auch hatte sich bei den verzweifelten, um Hab und Gut und manchmal sogar um ihren Lebensmut gebrachten Menschen in Swisttal eine solche Menge an Kummer und Zorn angesammelt, dass das abgeladen werden musste – ganz gleich auf wem. Und als Blitzableiter werden Politiker bei Bedarf seit eh und je gern genutzt. Schließlich, so das allgemeine Diktum: Niemand hat sie ja gezwungen, dieses Metier zu ergreifen und sich dem Votum der Bürger zu stellen.

Diese Vorbemerkungen wären unvollständig ohne den Verweis auf zwei Nebenaspekte. Erstens: Weder Laschet noch Dreyer oder (ein paar Jahre zurück bei den Hochwassern an Oder und Elbe) die Ministerpräsidenten von Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt sind und waren für die verheerenden Überflutungen direkt verantwortlich. Ganz anderes wird für die Lehren gelten, die nun aus den Katastrophen gezogen werden. Da können – und müssen – Worte und Taten direkt und persönlich zugeordnet verglichen werden. Zweitens – und das gilt zuvorderst für einen großen Teil der Medien sowohl „vor Ort“ als auch in den gut klimatisierten Kommentatoren-Büros von Sendern und Verlagen –: Kaum eine Frage an „die Politik“ wurde estellt und selten eine Analyse kam gleich am Anfang ohne Erwähnung des bevorstehenden Wahlkampf aus. Tenor: “Sind Sie vor allem aus taktischen Gründen hierher gekommen?”.

Das – mit Verlaub – war und ist nicht Ausdruck „kritischen Nachfragens“ oder von „hartem“ Journalismus. Sondern schlicht und einfach unanständig. Die apokalyptische Flut an Ahr, Erft, Swist oder Lenne ist gewiss nicht gekommen, weil am 26. September in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt und in dessen Folge irgendwann einmal das Kanzleramt in Berlin neu besetzt wird. Für die betroffenen oder auch nur beteiligten Politiker (und selbstverständlich auch Politikerinnen) aber hat als oberste Handlungsmaxime zunächst einmal die Hilfe für die Flutopfer zu stehen. Und das ist, soweit man es verfolgen konnte, ja auch geschehen. Ob Armin Laschet, Malu Dreyer, Angela Merkel oder auch der sozialdemokratische Bundesfinanzminister (immerhin Kanzlerkandidat seiner Partei) – niemand von ihnen hat sich zu irgendwelchen billigen, unpassenden Seitenhieben hinreißen lassen.

Jetzt muss der Blick ist in die Zukunft gerichtet sein  – aber diese präsentiert sich alles andere als licht und hoffnungsfroh. „Wir werden“, hatten von Merkel über Laschet bis Dreyer alle versprochen, „die Orte und Landschaften wiederaufbauen – so schön wie sie einst waren“. Die Worte wurden von den so schlimm gebeutelten Menschen wohl vernommen, und sie werden ihnen vermutlich im Prinzip auch glauben wollen. Was bleibt ihnen denn schließlich auch anderes übrig? Indes, wie lange wird sich wohl jemand, der und dessen Familie kein Dach mehr überm Kopf hat, gedulden, bis möglicherweise überhaupt Klarheit darüber geschaffen wird, ob etwa an der alten Stelle wieder gebaut werden darf?

Denn: Was kann denn „die“ so oft und massiv gescholtene „Politik“ in Wahrheit an Sofort- beziehungsweise Schnellmaßnahmen bewerkstelligen? Sicher, Bund und Länder (unterstützt von geradezu unfassbar spendenbereiten Mitbürgern) können Hilfsgelder und Sonderfonds bereitstellen. Das ist auch bereits geschehen oder auf gutem Weg. Sie können bürokratische Hemmnisse für Planung, Genehmigungs-Prozesse und Bauen beseitigen. Auch das passiert. Aber, abgesehen von öffentlichen Aufträgen zum Beispiel bei der Wiederherstellung zerstörter Verkehrs- oder Versorgungs-Infrastrukturen – keine Regierung ist in der Lage, die notwendige Zahl Maurer, Zimmerleute, Installateure usw. zu backen, die notwendig wären, um in einem wenigstens überschaubaren Zeitraum wieder Häuser, Wohnungen, Dörfer, Städte, kurz: Heimat zu schaffen. Schon vor dem verheerenden Hochwasser waren die Auftragsbücher vieler Handwerksbetriebe randvoll. Dazu kommt, zum Beispiel bei Holz, eine lange nicht gekannte Knappheit von Baumaterialien.

Es lässt sich so leicht in Leserbriefen oder in den (oft genug un-) sozialen Netzen formulieren, man hätte doch schon längst wissen können, welche Orte an der Ahr und den anderen Flüsschen gefährdet seien. Und, selbstverständlich, dürfe an dieser oder jener Stelle nie wieder ein Haus erstehen. Schön und gut und mal ganz abgesehen davon, dass in den kleinen Dörfern zum Beispiel an der Ahr schon seit Jahrhunderten „am Wasser“ gesiedelt wurde – wie sollten die betroffenen Flutopfer denn entschädigt werden?

Finanziell? Das mag ja vielleicht machbar sein. Aber wenn die Menschen heimatverbunden sind und, trotz des erlittenen Schicksalsschlages, nicht fortziehen wollen? Oder mit, am besten höher gelegenen, Ersatzgrundstücken? Schön und gut. Aber verfügen die Kommunen denn über solche? Und dies auch noch in ausreichender Zahl, Größe und Qualität? Man soll den Teufel bekanntlich ja nicht an die Wand malen. Aber an solchen Fragen und Problemen zerbrechen schon im „normalen“ Leben oft genug Freundschaften. Noch überwiegt in den Katastrophengebieten und darüber hinaus noch massive Hilfsbereitschaft. Noch schwappt auch diese wunderbare Welle der Solidarität durch das Land. Es wäre wundervoll (gliche aber zugleich auch ein Wunder), wenn das noch lange anhielte. Das könnte eine fantastische Lehrstunde für wahren Patriotismus werden – für praktische Nachbarschafts- und Freundeshilfe, die allerdings weit über eng gezogene Talgrenzen hinausgeht. Was sich in der Nacht vom 14. Auf den 15. Juli in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz vollzog, kann schließlich morgen überall anderswo genauso passieren.

Gisbert Kuhn war langjähriger politischer Korrespondent in Bonn und Brüssel für zahlreiche Zeitungen in Deutschland sowie freier Mitarbeiter für TV und Rundfunk. Seit geraumer Zeit arbeitet er als freier Journalist aus der alten Bundeshauptstadt.   

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