„Klaus“, der Dechant von Kyllburg, und seine ukrainischen Gäste

 Von Gisbert Kuhn

Dechant Klaus Bender mit seinen „Gästen“

Die Stimmung von Nastja schwankt zwischen trotzig und verzweifelt. Da kommt zum Beispiel, wie aus der Pistole geschossen, der Satz: „Sieg für die Ukraine und Freiheit für uns alle!“ Es ist die Antwort auf die Frage an die junge Frau, was sie sich für die denn – wenn möglich, nahe – Zukunft erwarte. Doch keine zwei Minuten später schon versagt ihr die Stimme, als sie auf dem Smartphone Bilder aus der Heimat zeigt und von den Erlebnissen erzählt, die ihr Mann aus der Heimat berichtet. Nastja ist 24 Jahre alt, hat eine acht Monate alte Tochter Dinara und bringt seit etwa einem Monat zusammen mit ihrer Mutter Olga (43), der gemeinsamen Freundin Ilona (26) sowie deren beiden Söhnen Dima (11) und Mischa (4) ordentlich Leben in das Pfarrhaus oben auf dem Stiftsberg des kleinen Eifelstädtchens Kyllburg.

Offene Tür, offene Arme

Die – trotz der winterlichen Kälte – offene Haustür des mächtigen Steinbaus von 1758 mit seinen fast einen Meter dicken Wänden ist gleichsam symbolhaft. „Herr“ des Anwesens ist Klaus Bender, Dechant der Stadt und zuständig für 45 Gemeinden. Als schon kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar im Ort die Frage nach möglichen Unterkünften für Flüchtlinge die Runde machte, meldete sich der Pastor sofort. „Ich habe in diesem großen Haus Platz genug“, sagt Bender und fügt schmunzelnd hinzu, der Herr lasse seine Diener nicht nur selbst nicht darben, sondern versetze sie durchaus auch in die Lage, für ein paar Lebensmittel zusätzlich zu sorgen. Mit anderen Worten – das schon historisch anmutende Pfarrhaus steht für offene Türen und offene Arme.

Olga zeigt ein Foto mit ihrem Mann aus glücklichen Zeiten

Die drei Frauen und drei Kinder stammen aus Kriwoj Rog, einer Industriestadt in der südlichen Ukraine. Bis zum Kriegsbeginn lebten dort rund 630 000 Menschen. Sie arbeiteten im Maschinenbau, in der Chemieindustrie, in der Uran- und Eisenerzförderung. Kriwoj Rog ist der Geburtsort des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij. Mit Deutschland ist die Stadt, im Übrigen, in doppelter Weise verbunden. Und das nicht nur in ruhmreicher Form. Da ist einmal die (später vor allem in der DDR gefeierte) Geschichte der „Fahne von Kriwoj Rog“. 1929 war die Flagge als Geschenk der kommunistischen Partei der KPdSU an die deutschen Genossen den Kumpels im Mansfelder Land übergeben worden. Sie „überlebte“ die Nazi-Zeit eingenäht in zwei Tischtücher und wurde in den 50-er Jahren Gegenstand eines Romans und dessen Verfilmung. Und da war, zweitens, die Besetzung der Stadt von 1941 bis 1944 durch die Wehrmacht sowie das Wüten von SS und deutscher Sicherheitspolizei mit dem Auftrag, sie als „judenfrei“ zu melden.

Die Männer blieben dahein

Die drei Frauen mit den Kindern kamen allein nach Deutschland. Die Männer blieben daheim – der eine (Ehemann von Olga Kapinos, der Ältesten) in seiner Eigenschaft als Polizist, die beiden jüngeren eingezogen zur Armee. Sie hatten ihre Frauen und Kinder gleich nach Ausbruch der Kämpfe aus dem Land geschickt, damit wenigstens sie in Sicherheit wären. Die Situation mutet schon ein wenig unwirklich an. Da herrscht auf der einen Seite ein brutaler Krieg, und da können sich (dank moderner Medientechnik) trotzdem über mehr als 1000 Kilometer Menschen in (sorgenvoller) Sicherheit laufend über die Geschehnisse unterrichten lassen. Und diese Berichte sind grausam. Sie handeln von Verbrechen, am häufigsten – und fast typisch als kriegerische Nebenerscheinung – von Vergewaltigungen. Wobei die Alterskette von Kleinkind bis zur über 80-jährigen Greisin reicht.

Pastor Klaus Bender mit Olga, Nastja, Dinara, Ilkona, Dima und Mischa

Die Verständigung zwischen „Klaus“ (wie der katholische Pfarrer längst genannt wird) und seinen Gästen? Kein Problem. Immerhin gibt es doch das Smartphone, und dort ist natürlich längst eine App für Sprach-Übersetzungen aufgeladen. Und man ist entschlossen, die Sprache des fremden Landes zu lernen. Denn: Wer weiß, wie lang der Zwangsaufenthalt dauern wird? Und ob es überhaupt noch einmal eine Rückkehr gibt? Und, selbst wenn ja, wie wird die Heimat dann wohl aussehen? Fragen wie diese lösen immer wieder Tränen aus. Aber gleichzeitig auch wieder Trotz und Entschlossenheit. Olga, die Großmutter, war vor dem Krieg Verkäuferin. Nastja Yasnaja, ihre Tochter, befindet sich noch im Mutterschutz und wird sich zunächst vor allem um das eigene Töchterchen Dinara kümmern müssen. Und Ilona Zaimenko, die Mutter der beiden Buben Dima und Mischa, ist Lehrerin von Beruf.

Gar nichts Klerikales

Sie wollen wieder nach Hause. Am liebsten so rasch wie möglich. Doch wer vermag die Dauer und – vor allem – den Ausgang des Krieges vorhersagen? Pastor Bender, der so überhaupt nichts Klerikales an sich hat, macht sich über die Verweildauer seiner Gäste jedenfalls keine großen Gedanken. Sie könnten im geräumigen Pfarrhaus auf dem Stiftsberg so lang bleiben wie erforderlich. Tatsächlich ist nicht nur das Hauptgebäude ziemlich geräumig. Das dazu gehörende Umland ist es ebenso. Und zu diesem zählen sogar noch drei Pferde, an denen die Kinder ihre Freude haben könnten. Freilich – Pferde hin, Verbindungstechnik und das Gefühl von Willkommensein her, was zählt das im Vergleich mit der Sorge um die im Krieg befindlichen Angehörigen, um den Verlust der Heimat und der Ungewissheit gegenüber der Zukunft?

„Sieg für die Ukraine und Freiheit für uns!“ Wahrscheinlich ist es die Hoffnung, die in der Fremde Kraft gibt.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

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