Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Wohl dem fantasiebegabten Zeitgenossen, der es versteht, unangenehme Vorgänge mit freundlichen Formulierungen zu umkränzen oder gar abschreckende Begriffe mit einer zuckersüßen Sprachummantelung genießbarer zu machen. Sie könnten (und tun das natürlich auch) sich diese Fähigkeiten mit klingender Münze gut bezahlen lassen. Denn Politik und auch die Wirtschaft brauchen solche Leute. Man nennt das Public Relation oder Öffentlichkeitsarbeit. Beispiele gefällig? Nichts leichter als das. Gerade in diesen Monaten der knappen Energien argumentieren Kernkraftgegner gegen die von vielen Seiten geforderte Verlängerung der Laufzeit der noch bestehenden drei deutschen Atommeiler mit dem noch immer ungeklärten Endverbleib des strahlenden Abfalls. Tatsächlich gibt es kaum etwas Gefährlicheres und länger „Lebendes“ als dieses Zeug.

In der Behördensprache und im trockenen Nachrichtendeutsch der Medien nennt man das Ziel der schwierigen Suche nach Verbleibsorten “Zwischenlager“. Wobei man freilich am liebsten „Endlager“ hätte , die allerdings bislang immer am Widerstand nicht nur der lokalen und regionalen Bevölkerung scheiterten. Hier haben selbst die findigsten Öffentlichkeitsarbeiter bisher auf Granit gebissen, obwohl sie die ins Auge gefassten, tief im Erdinneren befindlichen Stein-, Ton- oder Salzstöcke leichter genießbar als „Entsorgungsparks“ schmackhaft zu machen versuchten. Schließlich hört sich „Park“  ja auch viel  angenehmer an. Das Wort lenkt die Gedanken ins Grüne, vielleicht an Seerosen, frische Luft und Sonne. Ganz ähnlich, übrigens, wie „freisetzen“. Der Begriff „frei“ lässt Zwang vergessen, möglicherweise auch den täglichen Trott, verhasste Anweisungen „von oben“ und Vieles mehr. Ob so oder so ähnlich freilich jemand empfindet, dem gerade die Arbeitsstelle gekündigt und damit die Existenz gefährdet wurde, ist kaum anzunehmen.

Zurzeit ist Hochsaison für die Begriffsverniedlichungs-Profis. Besonders für jene Agenturen, die vor allem bei der Politik in Lohn und Brot stehen. Täglich fliegen uns Worte um die Ohren wie „Zuschuss“, „Deckelung“ „Doppel-Wumms“ oder gar „Entlastungspaket“ und „Sondervermögen“. Stets verbunden zumeist mit dem Versprechen auf  staatliche Wohltaten vor allem von sozialer oder finanzieller Art. Mit wachsendem Staunen verfolgt der des Rechnens und Mitdenkens einigermaßen kundige Bürger, wie locker dabei die Schwindel erregenden Summen jongliert werden. Eine Milliarde scheint nicht selten die kleinste mathematische Einheit zu sein, selbst ein paar hundert Millionen hören sich bereits wie Kleingeld an. Doch all diese wohlklingenden Begriffe sind – der blumigen Verkleidung entzaubert – in Wirklichkeit nur eines: Schulden. Schulden, die  „der Staat“ – also Bund, Länder und auch die Kommunen – aus guten Gründen aufnehmen muss, um zum Einen wirklich notleidenden Bürgern über schwierige Zeiten zu retten, aber sich andererseits auch die Gunst der wohlhabenderen zu erhalten. Aber auf jeden Fall Schulden, die irgendwann in der Zukunft zurückgezahlt werden müssen.

In Zukunft – das werden die jetzt jungen Generationen und sogar vermutlich deren Nachfolger sein. Dann leben die heute Verantwortlichen vermutlich gar nicht mehr, sind jedenfalls längst außer Amt und Würden. Gerade deswegen aber müsste der Gesellschaft die Pflicht auferlegt werden, darüber zu diskutieren und Möglichkeiten zu erörtern, diese Zukunft trotzdem gestaltungsfähig und lebenswert zu unterhalten. Stattdessen wird der Öffentlichkeit nahezu täglich suggeriert, man habe die „Lage im Griff“, werde die allgemeinen Kosten (für fast Alles) erschwinglich halten, am Geld jeden falls solle es nicht mangeln. Na klar, es ist ja unser aller Geld, es sind unser aller Abgaben und Steuern, womit die Hilfsprogramme bezahlt werden. Aber man meidet den Begriff „Schulden“ wie der Teufel das Weihwasser. „Schulden“ ist ein Giftwort. Und wer nicht beinahe jeden Tag das gerade in der Diskussion, in Vorbereitung oder gar schon beschlossene neue Programm jeweils sorgsam notiert und den schon existierenden Projekten zuordnet, gerät leicht in Gefahr, den Überblick zu verlieren.

Da sind die 100 Milliarden Euro „Sondervermögen“, um die in rund 30 „Friedensdividende“-Jahren in einen erbarmungswürdigen Zustand heruntergesparte Bundeswehr wieder in den Zustand einer Armee zu versetzen, die diesen Namen auch wirklich verdient. Nichts gegen das Projekt. Das war lange schon überfällig. Und es bedurfte ganz offensichtlich des von  Wladimir Putin befohlenen, brutalen  russischen Überfalls auf die Ukraine, um den in behaglichem Wohlstand lebenden westlichen Gesellschaften die Augen für die dramatischen Wirklichkeiten in der Welt zu öffnen. Außen- und Sicherheitspolitik spielten, zum Beispiel, seit vielen Jahren im deutschen Regierungs- und Parteiengeschehen (einschließlich in deren Programmen und Wahlkämpfen) praktisch keine Rolle mehr. Wie anders wäre der eklatante Fehlgriff von Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Besetzung des Bundesverteidigungsministeriums mit der total überforderten Christine Lambrecht zu erklären? Aber Sondervermögen?! Darauf muss erst mal jemand kommen. Das klingt so, als hätten in irgendeiner Schublade des Kanzleramts oder des Finanzministeriums ein paar prall gefüllte Geldsäckel herumgelegen, derer man sich nur bei Bedarf zu bedienen brauchte. Nein, diese Summe ist ein veritabler Nebenhaushalt. Nichts gegen das längst überfällige Projekt. Aber es besteht aus 100 Milliarden Euro Schulden.

Dann die sozialen Wohltaten. Oder sagen wir besser: Notwendigkeiten. Mehr als 95 Milliarden kostet das „Entlastungspaket“ des Bundes. Mit zusätzlich 200 Milliarden sollen die nach dem Ende des „Russengases“ drastisch angestiegenen Energiekosten „gedeckelt“ werden. Dann die Kosten für die Bewältigung der Migrationsprobleme, der Hilfen bei Naturkatastrophen wie jüngst in der Türkei und Syrien, gegen den unerträglich zunehmenden Hunger in Zentralafrika und, und und. Alles richtig und nicht zu kritisieren. Natürlich muss ein Sozialstaat wie Deutschland dafür Sorge tragen, dass die weniger gut Betuchten im Land nicht frieren und hungern müssen. So unbestreitbar auch die These ist, dass unser (im Vergleich ja nicht sonderlich großes Land) wirklich nicht das ganze Elend der Erde aus der Welt schaffen kann, so wahr ist auch, dass es – ob aus christlicher Nächstenliebe oder ganz einfach aus Menschlichkeit und Solidarität- eine Verpflichtung gibt, zu helfen  wo man kann. Und dass dafür in der Bevölkerung die Bereitschaft groß ist, beweisen die jährlichen Spendenaktionen.

Doch kann das einfach so weitergehen? Fast immer heißt es im Zusammenhang gerade mit den sozialen Zuwendungen, diese seien unumgänglich, „um den Wohlstand im Lande zu sichern“. Das klingt gut und schön. Aber wer stellt eigentlich einmal die Frage, ob ein Staat wie Deutschland und seine Bürger ihren Wohlstand tatsächlich erhalten können, wenn bloß so weiter gewirtschaftet wird wie bisher. Nach dem Ende der Kohle besitzen wir nur noch einen einzigen Rohstoff – unseren Grips. Hierzulande also müsste wieder erfunden werden, muss die Zahl der Patente für völlig neue Ideen sprunghaft ansteigen. Von diesem Land müssten sich Geistesheroen aus der ganzen Welt angezogen fühlen. Doch es ist eher das Gegenteil der Fall. Doch es kann nicht sein, dass die besten Leute aus der Wirtschaft, der Wissenschaft aus den Universitäten in die USA abwandern – keineswegs allein, weil dort   mehr Geld zu verdienen ist, sondern vor allem die Arbeitsbedingungen besser und  die  bürokratischen Hemmnisse geringer sind.

Doch der Blick aufs Land ist nicht sonderlich erhebend. Dass unser Schulsystem dringend  modernisiert und an die Bedürfnisse der Zeit angepasst werden müsste, wird schon seit den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts beklagt. Der Mangel an Lehrpersonal ist eklatant. Das eigentliche Krebsgeschwür liegt in diesem Fall jedoch im Föderalismus begründet. Jedes Bundesland kocht sein eigenes bildungspolitisches Süppchen. Wobei erschwerend hinzukommt, dass ausgerechnet der Bildungsbereich die Spielbühne ist, um auch die ausgefallensten ideologischen Versuchsideen umzusetzen. Schreibenlernen nach Gehör ist nur ein Beispiel dafür. Immer auf dem Rücken der Schüler – also derer, die aufgrund ihres erlernten Wissens und Könnens überhaupt erst jenes Geld wieder zu erwirtschaften können, das zur Tilgung der jetzt gemachten Schulden benötigt werden wird. Und gehört zum Erhalt unseres Wohlstands nicht auch die Notwendigkeit, möglichst dabei mitzuwirken, dass  die Millionen Menschen nicht mehr wegen Hunger und Terror aus ihrer Heimat fliehen müssen, die jetzt zu uns kommen und mitunter die Integrations-Fähigkeit vieler Kommunen zu überfordern drohen? Woher sollen die Mittel dafür denn kommen, wenn nicht aus unserem Können und dem unserer Kinder?

Gerade die Bildungsmisere ist ein Beleg dafür, dass in weiten Teilen unserer Gesellschaft noch gar nicht begriffen wird, dass es wirklich nicht so toll um unser schönes Land bestellt ist. Die Digitalisierung mit all ihren Vorteilen und Gefahren schreitet unaufhaltsam voran. Ihr Einsatz als Künstliche Intelligenz stellt nicht nur Informatiker vor dramatische Fragen, sondern auch Mediziner, Ethiker, Wissenschaftler jeder Art und natürlich auch die Politik. Wenn nicht nur Schüleraufsätze, sondern selbst Doktorarbeiten demnächst automatisch von Maschinen erstellt werden können – was bedeutet das für Abschlüsse und Prädikate? Wenn Roboter künftig in der Lage sein werden, medizinische Diagnosen in Sekundenkürze auszudrucken – wer soll verantwortlich sein, wenn etwas schief geht? Wenn mithilfe von (glaubhaft erscheinenden) Lügenprogrammen in vielleicht gar nicht weiter Zeit irgendwo von außen massiv Wahlergebnisse beeinflusst werden kann – wer (und womit) schafft es, die Menschen auf der Straße von wahr und richtig zu überzeugen? Die Vorgänge um und während Corona, um das Impfen sowie um den Zulauf beim amerikanischen Lügenbaron Donald Trump sollten eigentlich alarmierend genug sein.

Das hat nichts miteinander zu tun? Doch. Hat es sehr wohl. Dieses Jahrhundert wird nämlich sicher kein gemütliches sein. Wir und alle, die nach uns kommen, werden mit großen  Herausforderungen konfrontiert werden. Das wird auch die Demokratie als politisches System sein. Wachsender Rechtsextremismus, scheinbar lächerliche Erscheinungen wie die Querdenker oder Reichsbürger – hier wächst unübersehbar ein Potential mit Hang zum „starken Mann“ und zum scheinbar überlegenen Totalitarismus. Andererseits – wer anders als eine Demokratie mit Meinungs- und Diskussionsvielfalt sollte in der Lage sein, im zunehmend unüberschaubaren Informations-Dschungel zwischen wahr und nicht wahr zu entscheiden? Despotie lässt immer nur eine Meinung zu – die jeweils herrschende. Mag sie wahr sein oder nicht, gut oder schlecht – sie hat dort zu gelten und befolgt zu werden.

Werden wir, werden unser Land und seine Menschen dafür gewappnet sein? Das wird einzig   und allein vom Grad des Wissens und der Aufklärung sowie dem kritisch-logischen Denkvermögen abhängen. Und damit von der Bildung als drängendster Zukunftsaufgabe. Auch dass gehört zum Begriff „Wohlstand“. Und zwar ganz vorn. Wachstum, stetige Zunahme wirtschaftlicher und materieller Werte – das dürfte erst einmal vorbei sein. Mehr noch, es ist vor dem Hintergrund der Kriege und Krisen rund um den Erdball eher wahrscheinlich, dass tatsächlich auch bei uns irgendwann einmal der Gürtel enger geschnallt, das heißt konkret: irgendwo Verzicht geleistet werden muss. Bei der Reise, beim Urlaub, beim Konsum, wo auch immer. Ist eine Gesellschaft auf so etwas vorbereitet, die bisher immer das scheinbar unaufhörliche „Mehr“ gewohnt ist? Dieses „bisher“ möglichst lang (scheinbar) zu erhalten – dem dienen (wenn auch nicht nur) eben jene so angenehm klingenden, aktuellen Unterstützungsprogramme, die aber halt nur auf Schulden gründen.

Aber, wie oben erwähnt, „Schulden“ ist ein Giftwort, das lieber nicht ausgesprochen wird.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.     

   

 

 

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