Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Wo waren eigentlich in grauer Vorzeit (also bis vor etwa 15 Jahren) all die Millionen Menschen hierzulande, die sich seitdem in ständig wachsender Zahl bei facebook und anderen (a)sozialen Medien austoben? Oder, anders gefragt, wie haben die damaligen Zeitgenossen miteinander kommuniziert? Doch wohl kaum in der Fäkal- und Gossensprache und mit denselben lustvollen Beleidigungs-Arien, die sie jetzt vorzugsweise über Politikern, scheinbar oder tatsächlich Bessergestellten und überhaupt der ganzen, korrupten Kaste „derer da oben“ auskübeln. Wie gesagt, vorzugsweise. Denn untereinander – sozusagen unter sich – ist der Ton ja nicht weniger rau, ungehobelt und (sagen wir es ruhig altmodisch) unanständig.

Es gab einmal die „Kinderstube“

War demnach früher wirklich alles besser? Unsinn! Die Zeiten waren nicht besser, sondern – vor allem was die Lebensverhältnisse anbelangt – in der Breite viel schlechter. Allerdings existierten bis eben vor gar nicht so langer Zeit ein paar „kulturelle“ Unterschiede zu heute. Dazu zählt, ganz zuvorderst, das Fehlen jener Massenverbreitung von Beschimpfungen und Pöbeleien bis hin zu regelrechten Hass-Tiraden – und zwar nicht einfach so „ins Blaue“ gesendet, sondern direkt personenbezogen. Logisch, für diesen Wandel der innerhalb der (hierzulande im Übrigen nie unproblematischen) Dialogkultur gibt es Gründe. Es ist nun einmal schwieriger, einen unmittelbar Gegenüberstehenden, quasi Auge in Auge, mit verbalem Unflat zu bewerfen, als dies vom sicheren Schreibtisch aus in der Anonymität der eigenen vier Wände zu tun, über den Laptop oder von der Parkbank via Smartphone. Außerdem gab es in jenen altmodischen Zeiten noch so einen Begriff namens „Kinderstube“, was häufig umschrieben wurde mit der kurzen Weisung „Das tut man, und das tut man nicht“. Zu Letzterem gehörte auch das bewusste, vorsätzliche Beleidigen und Herabsetzen von Menschen. Erinnert sich noch jemand?

 Jetzt also die modernen Zeiten. Schrill, prollig und – deutsch? Bewährte alte Weisheiten und Verhaltensmuster wie „Erst denken, dann sagen“? Dummes Zeug! Weg damit! Wichtig ist allein, die Deutungshoheit zu erringen. Bei was? Das ist doch nebensächlich. Auf diesem Gebiet findet, ohne Frage, keineswegs nur in Deutschland, sondern grenzübergreifend ein Wettstreit statt. Was allerdings wirklich beunruhigt, ist die Wirkung dieser jungen Medien als Brandbeschleuniger gefährlicher Spaltungserscheinungen in unserer Gesellschaft. In den facebook-, Twitter-, WhatsApp-„Dialogen“ und Diskussionen geht es ja mehrheitlich überhaupt nicht um den Austausch von Argumenten und Informationen und schon gar nicht um das Nachdenken darüber. Wesentlich ist einzig, dass der eigene Standpunkt möglichst oft „geteilt“ wird. Denn nur das entscheidet über Sieg und Niederlage. Und wer, wiederum, vereinigt in aller Regel die meisten „likes“ hinter sich? Klar, natürlich der die „härteste“ Formulierung und – wenn möglich – beim Gegenüber den gemeinsten Treffer landet. Nicht inhaltlich-argumentativ, sondern am besten mit einem Frontalangriff auf die Integrität der anderen Person.

Die Angst als Waffe

Noch einmal – geschickte und perfide „Techniken“ im Kampf um Meinungsführerschaften bei politischen (und dabei vor allem ideologisch bzw. moralisch besetzten) Fragen sind keine Produkte der modernen Medien. So etwas gab es auch in früheren Jahren. Gerade bei uns in Deutschland. Dabei war in aller Regel die Person (oder die Gruppierung) in der Vorhand, die am schnellsten einen möglichst historisch-negativ oder scheinbar moralisch besetzten Totschlagbegriff aus ihrem Repertoire hervorzuzaubern wusste. Als Beispiele seien hier nur benannt der in den 1970/80-er Jahren ungeheuer aufgeheizte Streit um die NATO-Raketen-Nachrüstung und die immer mal wieder ausbrechende Debatte um Sterbehilfe. Im ersten Fall brauchte bei Diskussionen nur jemand zu sagen „Egal was hier noch vorgebracht werden mag, ich habe Angst“ – schon hätte die Veranstaltung beendet werden können. Denn Angst zu empfinden, adelte zu jener Zeit gleichsam. Wer sich zur Angst bekannte, gab damit  zu verstehen, dass er empfindsamer, dem Weltfrieden verpflichteter und darüber hinaus sowieso mit größerem Durchblick ausgestattet war als die tumben politischen Rationalisten ringsum.  

Zweites Beispiel: Sterbehilfe. Anderer Inhalt, anderer Kampfbegriff, dieselbe Wirkung. Gar keine Frage, dass es sich dabei um ein ganz, ganz schwieriges Thema handelt. Hier ist vieles ineinander verzahnt. Glaube und Religion, Medizin und Ethik, Entscheidungsfreiheit und Gewissensnot, Pflicht zum absoluten Erhalten von Leben und Barmherzigkeit bei der Erlösung von Schmerzen. Alles Fragen und Probleme, die jeden Einzelnen betreffen und nicht einfach mit Gesetzen und Rechtsnormen geregelt werden können. Umso wichtiger wäre eine möglichst breite Debatte darüber, in der alle Aspekte von sämtlichen Seiten beleuchtet werden. Sicher, der Deutsche Bundestag hat sich der Problematik schon mehrfach angenommen, wobei die Abgeordneten auch keine Rücksicht auf Parteigrenzen nehmen mussten, sondern allein ihrem Gewissen folgten. Ganz anders die Vorgänge außerhalb des Parlaments – die Inszenierungen der diversen Talkshows, die meistens allein auf Medienwirkung zugeschnittenen Podiumsdiskussionen usw.  Auch hier funktionierte das Ritual: Sobald einer bloß „Euthanasie“ sagte, bedeutete das im Prinzip das Ende jeglichen vernünftigen Gesprächs. Denn „Euthanasie“ hing ja mit den Nazis zusammen. Und wer mochte mit denen schon in einem Atemzug genannt werden.

Völlig falsche Gleichsetzung

Dabei gibt es keine falschere, dümmere und letztlich auch gefährlichere Gleichsetzung eines Wortes mit einem schrecklichen Geschehen. Was die Hitler-Schergen und ihre willigen Helfer aus der Ärzteschaft taten, indem sie sich zu Richtern über den Wert menschlichen Lebens aufwarfen, war nichts anderes als blanker Mord an tausenden geistig oder körperlich behinderter Menschen. Mord, den sie allerdings als „Euthanasie“ bezeichneten. In Wirklichkeit versteht man darunter die Begleitung totkranker Menschen und die Erlösung von ihren Schmerzen. So gesehen ist es geradezu zynisch, wenn sich die Gegner einer jeglichen rechtlichen Regelung (wie etwa einer Straffreistellung von hilfsbereiten Ärzten) auf die Untaten der Nazis berufen.

Was diese Exempel mit dem eigentlichen Thema der aktuellen Kriege um die Meinungsführerschaften an Stammtischen und – erbitterter noch – im „Netz“ zu  tun haben? Ganz einfach, wir haben es in Deutschland mit einer eigenartigen, sagen wir: suboptimalen, Streit- und Diskussionskultur zu tun. Das gilt für die „Profis“ in Politik und Medien genauso wie für die „Amateure“ der parteilichen Fußvölker oder an den facebook-Computern. Im Prinzip wird immer denselben Mustern gefolgt. Zum Beispiel, dass man sich aus einer Rede, einem Interview oder einer Stellungnahme einer bestimmten Person nur einen Satz (oder Absatz) herauspickt, ihn zum Kern (oder besser gleich zum – natürlich negativen – Markenzeichen) dieses Menschen erklärt und dann munter drauf los drischt.

Schublade auf und rein

Das funktioniert umso leichter, je stärker diese Person bereits in eine bestimmte Ecke gesteckt wurde – oder sich selber dahin manövriert hat. Das folgende Beispiel ist in diesem Zusammenhang weder eine Sympathiegeste, noch das Gegenteil. Es soll nur ganz leidenschaftslos eine „Technik“ innerhalb der öffentlichen Auseinandersetzung aufzeigen. Es geht um den neuen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Zugegeben um jemanden, der sich nie dagegen wehren würde, vom politischen Gegner oder in Zeitungskommentaren als „konservativ“ eingestuft zu werden. Dieser CDU-Mann hatte jüngst erklärt, mit dem Hartz-IV-Satz habe jeder Empfänger, was er zum Leben brauche. Erneut zugegeben – aus diesen Worten spricht keine besonders große Herzenswärme. Trotzdem ist der Satz zunächst einmal nichts anderes als die banale Feststellung, dass es sich bei dieser Unterstützung nur um die Grundsicherung handelt. Spahn hat nicht etwa gefordert, die Sätze zu senken. Auch warf er den Beziehern nicht vor, sie lägen der Allgemeinheit auf der Tasche. Trotzdem brach eine Welle der Empörung über dem Minister herein – vom Bundespräsidenten bis zur neuen CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer. Und, nicht zu vergessen, natürlich auch aus den Reihen des alten und neuen sozialdemokratischen Koalitionspartners, unter dessen damaliger Führung aber doch das Hartz-IV-System eingeführt worden war. Natürlich gehört es zu den Hauptaufgaben der Sozialpolitik, staatliche Zuwendungen an Bedürftige immer zu erörtern und auf der Basis der finanziellen Möglichkeiten zu justieren. Aber muss bei dieser Erörterung stets sogleich auch die Streitaxt mit Namen „soziale Kälte“ eingesetzt werden?

Die konservativ-liberale „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) hat kürzlich ein interessantes Massenphänomen in Deutschland beschrieben. Sobald hier irgendjemand, schrieb die NZZ, etwas wirklich oder auch nur scheinbar Provokatives  sage, „sitzt sofort halb Deutschland auf dem Sofa und ist beleidigt“. Der Autor bezeichnete dies als „Lagerbildung“, denn die andere Hälfte der Gesellschaft verhalte sich ja genauso. Der Artikel nimmt sich u. a. der jüngsten Aufregung um den Dresdener Erfolgsautor Uwe Tellkamp („Der Turm“)  an. Es ging bei einer Podiumsdiskussion mit dem Schriftsteller-Kollegen Durs Grünbein um die Flüchtlingspolitik Angela Merkels. Und es war, man kann es auf YouTube nachschauen, ein erfreulich gesitteter Hochschulabend mit zwei unterschiedlich denkenden Literaten. Ein Streitgespräch, gewiss. Aber ruhig und mit offenkundigem Respekt voreinander geführt. Tellkamp warnte vor drohender Überfremdung, Grünbein vor gefährlichem Nationalismus.

Zweierlei Maß

Nun kann man, angesichts diverser politischer Entwicklungen während der vergangenen Jahre in Deutschland, nicht leugnen, dass es in dieser Frage tatsächlich nicht nur eine Wahrheit gibt und – ob immer berechtigt oder mitunter auch nur gefühlt – bei den Bürgern Ängste und Sorgen vor vielleicht dramatischen Veränderungen in der Gesellschaft wachsen. Was im Dresdener Kulturpalast honorig abgelaufen war, brach sich freilich kurz darauf in den Talkshows und – natürlich drastischer noch – facebook etc. in aller Brutalität Bahn. Tellkamp wurde vorgeworfen, von einer „Gesinnungsdiktatur“ hierzulande gesprochen zu haben. Das hat er (ausweislich YouTube) nicht. Was er vielmehr beklagte, nannte er eine „Asymmetrie“ bei der öffentlichen Behandlung linker und rechter Ansichten. Er (Tellkamp) fürchte zum Beispiel die Masseneinwanderung muslimischer Jugendlicher und dass sich das Land zu seinem Nachteil verändere. Wer das aber sage, werde dadurch herabgewürdigt, dass man ihn in die rechte Ecke stelle. Und wer, so der Autor abschließend, auf solch leichtfertige, ungerechte Weise zum Nazi erklärt werde, der könne leicht in Versuchung geraten, wirklich einer zu werden.

Starker Tobak, ohne Zweifel. Und keiner braucht diese Meinung zu teilen. Aber sollten die Kritiker, bevor sie die dicken Knüppel aus dem Sack ziehen, nicht wenigstens die Argumente auf ihre Schlüssigkeit hin begutachten? Erstaunlicherweise hat ausgerechnet die linksliberale „Zeit“ jüngst diese Frage aufgeworfen und ist zu dem Ergebnis gekommen, „in unserer Streitkultur hat die Zahl der Platzanweiser zugenommen“. Was damit gemeint ist? Anhand bestimmter Vokabeln (so die „Zeit“) und mithilfe einer hämischen, vereinseitigenden Lesart sammelten diese „Platzanweiser“ ideologische Anklagepunkte. Dann gerate jeder, der Begriffe wie „deutsch“, „Volk“ oder „Heimat“ verwende, „unter schwersten Verdacht“. Indessen: In Deutschland gibt es nun halt einmal ein Volk; das steht sogar im Grundgesetz.  Nur – wer liest das schon von der Schar der Gerechten?

Konservativ“ geht gerade noch

Es ist ja schon fast paradox in diesem Land. Ausweislich der allermeisten Wahlen zum Bundestag und zu den Landesparlamenten wählen die Deutschen überwiegend „bürgerlich“. Gleichzeitig legt jede selbst oberflächliche Überprüfung offen, dass sich diese Tendenz weder in der lautstarken „öffentlichen“ noch in der „veröffentlichten“ politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung widerspiegelt. Ja, es gibt dort nicht einmal so etwas wie gleiche Abstände zu „rechts“  und „links“. Genauer gesagt: Die schärfste Waffe im Kampf um Meinungen und Klicks ist ganz offensichtlich der Vorwurf, jemand sei „rechts“. Wem es als erstem gelingt, den Gegenspieler in diese Ecke zu drängen, hat gewonnen.  Gut, auch dafür gibt es natürlich Gründe. Die 12 Jahre von 1933 bis 1945 und die entsetzlichen Verbrechen des Hitler-Reichs sind wahrhaftig Mahnung genug gegen Nationalismus und überbordende „Tümelei“.

Aber das reicht doch nicht, um einer so vielschichtigen und farbigen Gesellschaft politisch und intellektuell gerecht zu werden, wie es die unsrige inzwischen ist. Rechts steht doch nicht ausschließlich für extrem und nationalsozialistisch. Und links ebenso wenig ausnahmslos für fortschrittlich, positiv und gut. Heute tut die „Linke“ im Bund und in den Ländern so als wäre sie nicht nur eine demokratische Partei, sondern habe die Demokratie eigentlich erfunden. Dabei handelt es sich in Wirklichkeit – selbst fast drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung – nur um die dreimal umgetaufte einstige DDR-Staatspartei SED. Also um jene Organisation, die ein Land zuschanden gewirtschaftet und mit Hilfe der ihr unterstehenden Stasi tausende und abertausende Menschen kaputt gemacht hat. Trotzdem herrscht bei vielen Medienschaffenden und anderen Intellektuellen noch immer eine Art Grundsympathie für alles „Linke“, während auf der anderen Seite der Mitte allenfalls (und gerade noch) „konservativ“ durchgeht.

Es wäre gewiss an der Zeit, dass sich bei uns hier etwas mehr Normalität entwickelte. Die Welt ist nicht so einfach gestrickt, um simpel in schwarz oder weiß, gut oder böse, links oder rechts eingeteilt zu werden. Aber die Zweifel überwiegen die Hoffnungen bei Weitem. Theoretisch gesehen hatten die Menschen noch nie so viele Möglichkeiten, sich zu informieren. Allerdings lastete auch kaum jemals so viel Verantwortung bei jedem Einzelnen, dieses Wissen auf Wahrheit abzuklopfen. Oder wenigstens auf Wahrscheinlichkeit.

                                                                    *

Ist es ein Zufall, dass dem Autor beim Schreiben das ebenso schöne wie satirische Gedicht Erich Kästners einfiel ?:

Einst haben die Kerle auf den Bäumen gehockt,

behaart und mit böser Visage.

Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt

und die Welt asphaltiert und aufgestockt

bis zur dreißigsten Etage.

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,

in zentralgeheizten Räumen.

Da sitzen sie nun am Telefon.

Doch es herrscht noch genau derselbe Ton

Wie seinerzeit auf den Bäumen.

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund

den Fortschritt der Menschheit geschaffen.

Doch davon mal abgesehen und

bei Lichte betrachtet sind sie im Grund

noch immer die alten Affen.

 

      

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