Schleudersitz und Wein-Idylle
Walter Jertz – Überschallpilot, Kinderbuchautor, kommunaler Hoffnungsträger. Eine bemerkenswerte Karriere
Von Gisbert Kuhn

Es müsste schon wirklich mit dem sprichwörtlichen Teufel zugehen, wenn Walter Jertz am 3. Juni nicht zum Bürgermeister von Oppenheim gewählt würde. Der Mann ist schließlich einziger Kandidat und wurde, darüber hinaus, nachgerade genötigt, sich dem Votum der Bürger zu stellen. Und zwar von einem überparteilichen Aktionsbündnis aus CDU, FPD, Grünen, Alternativer Liste und einem Sozialdemokraten. Zugegeben, so etwas ist nicht alltäglich im Land zwischen Flensburg und Konstanz, Aachen und Cottbus. Andererseits, besonders auf kommunaler Ebene, aber auch nicht absolut die Ausnahme. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass der heute 72-Jährige mit seiner Frau nach langer Abwsenheit in das idyllische rheinhessische Weinstädtchen zwischen Mainz und Worms zurückkehrte, aus dem sie beide stammen. Bemerkenswert ist da eher schon, dass Jertz über Jahrzehnte (zumeist in führender Position) an vielen Stellen im In- und Ausland bei der Luftwaffe diente, bevor er 2006 im Rang eines Generalleutnants mit drei goldenen Sternen im Eichenkranz auf den Schultern pensioniert wurde.
Heimkehr nach vielen Jahren
Eigentlich ideale Voraussetzungen für ein entspannt-angenehmes Leben nach einer erfüllten, nicht selten auch aufregenden und mitunter sogar gefährlichen Berufslaufbahn, während derer die Familie immerhin 18 Mal umziehen musste. Eine Heimkehr, um an den Orten von Kindheit und Jugend vielleicht noch einmal Wurzeln zu schlagen und in Muße seinen Hobbies nachzugehen. Wie zum Beispiel dem Schreiben von Sach- und Kinderbüchern. Oder tatkräftiger Unterstützung der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr und bei den Sammelbemühungen des Orgelbauvereins zugunsten der weit über die Stadt hinaus berühmten gotischen Katharinenkirche mit der grandiosen „Oppenheimer Rose“ aus dem 14. Jahrhundert an der Südfassade. Doch die scheinbare Idylle von Fachwerk und Gemütlichkeit am Fuße der Weinberge hatte schon 2006 getrogen. Unter der Oberfläche gärte es seit Jahren. Und immer mehr Bürger verbanden ihren Unmut, ja ihre zunehmende Wut, mit einem Namen: Marcus Held, Ortsbürgermeister und Bundestagsabgeordneter der SPD.

Seit Anfang März ist dieser Mann beides (und noch etliches dazu) nicht mehr, denn er musste – unter massivem öffentlichen Druck – von allen Ämtern zurücktreten. Nicht nur, dass inzwischen 24 Ermittlungsverfahren der Mainzer Staatsanwaltschaft gegen den 40-Jährigen laufen. Nach ziemlich langem Zögern hat mittlerweile auch die rheinland-pfälzische Landes-SPD die schützende Hand von ihrem Genossen gezogen. Am liebsten möchte man gar nicht mehr mit ihm in Verbindung gebracht und an gemeinsame Zeiten erinnert werden. An dieser Stelle könnte jetzt an sich das Kapitel Jertz beginnen; mit dem Drängen des überparteilichen Aktionsbündnisses an den einstigen Kampfpiloten, doppelten Überschall-Flieger und Luftwaffen-„Manager“, sich doch bitteschön um die vakante Stelle im Renaissance-Rathaus am Marktplatz zu bewerben. Indes, die Geschichte hat zu viele Facetten, die zunächst der Erklärung bedürfen. Sie handeln vom Verlust der moralischen wie materiellen Bodenhaftung, von Macht- und Geldgier, Despotismus und Angst, aber auch von gutem und weniger gutem Journalismus.
Der „Pate“ von Oppenheim
„Rififi“ im Schatten der Trauben? Man mag die Vorgänge in Oppenheim für eine Provinzposse halten, für mehr oder weniger „normale“ Mauscheleien, wie sie in der Politik halt überall vorkommen. Vor allem auf der lokalen Ebene, wo jeder jeden kennt und gern nach dem Motto gehandelt wird „Hilfst Du mir, helf´ ich Dir“. Warum sollte das in dem beschaulichen 7 500-Seelen-Städtchen am Rhein anders sein? Ist es aber. Denn dort herrschte (im Sinne des Wortes) seit 2004 Marcus Held. Ein junger Mann, Jahrgang 1977, wegen seines eloquenten und energischen Auftretens damals keineswegs nur von Genossen und SPD-Sympathisanten gewählt. Er wurde danach noch zwei weitere Male (2009 und 2014) gekürt, dazu (2013 und 2017) sogar auch noch in den Bundestag entsandt. Das ist in diesem Fall zulässig, weil der „Schultes“-Job in Oppenheim ein Ehrenamt ist.
Doch der durchsetzungsstarke Jungdynamiker hatte, wie man inzwischen weiß, noch eine Menge anderer, besonders für die eigene Tasche gewinnbringender Qualitäten – Netzwerke aufzubauen, mit einem System von Begünstigungen und Günstlingen Abhängigkeiten zu schaffen und nahezu lückenlose Kontrolle auszuüben. Kurz, Held lenkte offensichtlich mit einer Clique von Parteifreunden die kleine Stadt mehr und mehr wie ein Marionettenspieler. Der „Pate“ einer Mafia-Vereinigung könnte nicht unumschränkter gebieten. Und der Stadtrat? Und die Bürger? Der Stadtrat war praktisch ausgeschaltet; über städtische Grundstücke oder die Vergabe von Bauaufträgen verfügte der Boss im Rathaus allein. Und die Menschen – man mag es in einem Land wie diesem kaum für möglich halten – hatten Angst! Selbst als nicht mehr nur Gerüchte im Umlauf waren, sondern bereits handfeste Beweise über Unregelmäßigkeiten vorlagen, wagten Viele zunächst noch immer nicht, über ihre Kenntnisse zum „System Held“ offen zu sprechen.
Ein medialer Einzelkämpfer

Dass diese Mauer des Schweigens aus Druck und Angst schließlich doch durchbrochen wurde, ist vor allem einigen – bis heute unbekannt gebliebenen – „Durchstechern“ aus dem Verwaltungsapparat zu verdanken. Und, nicht zuletzt, einem medialen Einzelkämpfer. Thomas Ruhmöller, freier Journalist und Medienberater aus dem Taunus mit langer Recherche-Erfahrung, hatte Anfang 2017 – wie zahlreiche andere Berichterstatter, Verlage und Sendeanstalten auch – ein solches anonymes Traktat mit Anschuldigungen gegen Held erhalten. Im Gegensatz aber zu anderen Kollegen begann er, sich umzuhören und schließlich in dem Thema regelrecht festzubeißen. Im Juni vorigen Jahres startete Ruhmöller einen Blog unter dem Titel „Der Oppenheim-Skandal“ und berichtete im Internet fast 300 Tage über immer neue, schier unglaubliche Einzelheiten und Erkenntnisse. Mit Erfolg. Zunehmend mehr Leute trauten sich nun zu reden. Darüber, zum Beispiel, dass – wer früher Kritik an Held, dessen „Getreuen“ oder auch nur der örtlichen SPD zu äußern wagte – für seine Kinder keinen Kita-Platz erhielt, von der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft (Aufsichtsrat Held) keine Chance auf günstigen Wohnraum oder für die alten Eltern auf einen Platz im Seniorenheim bekam.
Wichtiger indessen war noch, dass – nach dem Aufheben der Parlamentarischen Immunität von Held durch den Bundestagspräsidenten – sowohl die Staatsanwaltschaft in Mainz als auch der rheinland-pfälzische Landesrechnungshof in Speyer tätig wurden. Auf mehr als 100 Seiten legten die Ermittler aus der Pfalz akribisch ihre Ergebnisse vor. Dadurch ermutigt, trafen sich dann mit Beginn des Jahres 2018 jeden Montag einige hundert Oppenheimer zu Demonstrationen gegen ihren Bürgermeister und dessen korrupte Politik. Gerade noch rechtzeitig kriegte auch die Lokalzeitung die Kurve und schwenkte auf eine kritische Berichterstattung ein. Das brach Marcus Held schließlich politisch das Genick. Zwei Tage nach dessen turbulentem Abgang kam es zu dem Allparteien-Appell an Walter Jertz, am 3. Juni als Kandidat anzutreten und den verwaisten Steuerknüppel im Rathaus zu übernehmen.
„Bestens für das Amt geeignet“
Jertz weiß zur Genüge, wie es ist, auf einem Schleudersitz zu hocken. Rund 40 Jahre lang hat er es im Cockpit vom „Starfighter“ und „Tornado“ erlebt – zuletzt, nach der Wiedervereinigung, sogar noch als Pilot in der von der Nationalen Volksarmee zeitweise übernommenen MIG 29. Er weiß auch, dass der Chefsessel im Rathaus durchaus Eigenschaften eines Katapults entwickeln kann. Zwar scheint das Zutrauen der Bürger in seine Fähigkeiten groß, aber auch die Erwartungen sind erheblich. Beinahe wie an eine Lichtgestalt. „Jertz ist aus unserer Sicht bestens für dieses Amt geeignet“, heißt es in dem gemeinsamen Schreiben. „Er bringt die notwendigen Fähigkeiten für die anstehenden Aufgaben und dringenden Herausforderungen mit. Er ist in dieser außergewöhnlichen Situation für uns der Richtige“.

Das klingt, ohne Zweifel, ermutigend. Doch die Sache hat auch eine Kehrseite – dem „Neuen“ bleibt zunächst nur ein Jahr Zeit, den „Augiasstall“ in der Gemeindeverwaltung auszumisten. Denn seine Amtszeit währt bloß bis zum Sommer 2019; dann sind reguläre Kommunalwahlen im Land der Reben. Und so hoffnungsfroh die meisten Oppenheimer ihm im Moment bei seinen vielen Auftritten und Versammlungen begegnen – wer weiß, wie lange das so bleiben wird. Schließlich kann der Hoffnungsträger kein Füllhorn von Wohltaten über der Stadt ausleeren, eher im Gegenteil. Als Held 2004 den Stadtthron bestieg, vermeldete ihm der Kämmerer rund sechs Millionen Euro Schulden. Jetzt sind es über 26 Millionen. Also ist Sparen erste Bürgermeister-Pflicht. Ganz abgesehen davon, dass Jertz ja weiterhin mit dem „alten“ Stadtrat zurechtkommen muss. Zwar hat sich nach dem Held-Desaster die SPD als Mehrheitsfraktion ziemlich zerbröselt, aber trotzdem wird der Hoffnungsträger dort wohl nicht nur auf Unterstützer treffen.
Management und Menschenführung
Mitunter ist es nicht ganz leicht, unvoreingenommen über einen Menschen zu schreiben. Vor allem dann nicht, wenn man ihn aus dessen „früherem Leben“ kennt. Die erste Begegnung mit dem damaligen Luftwaffenoberst liegt über 30 Jahre zurück. Walter Jertz war seinerzeit Kommodore des mit dem „Tornado“ ausgerüsteten Jagdbombergeschwaders 32 in Lechfeld südlich von Augsburg. Wer sich auch nur ein wenig mit der Materie auskennt weiß, was außer der fliegerischen Qualifikation an Kenntnissen und Fähigkeiten vom dem leitenden Personal gefordert wird – allen voran eine hohe Begabung in Menschenführung und Management. Später, 1995 während des Bürgerkrieges auf dem Balkan, wurde Jertz im italienischen Piacenza die Koordinierung der deutschen „Tornado“-Einsätze übertragen.

Das nächste Treffen erfolgte im April 1999 in Brüssel. Walter Jertz war inzwischen zum Generalmajor und Befehlshaber der 1. Luftwaffendivision in Karlsruhe avanciert. Da erreicht ihn überraschend ein Anruf des damaligen Verteidigungsministers Rudolf Scharping (SPD) mit der Maßgabe, sich unverzüglich auf den Weg ins militärische Hauptquartier der NATO im südbelgischen Mons zu begeben. Das Bündnis war mit Luftstreitkräften massiv im Krieg in Jugoslawien engagiert, und es wurde dringend für die täglichen Pressekonferenzen in Brüssel ein militärischer Sachverständiger gebraucht, der erstens gut englisch sprach und zweitens als Experte die Lage einschließlich der Operationen und deren Konsequenzen verständlich darzulegen verstand. Zwei Offiziere – ein Brite und ein Italiener – waren an dieser Aufgabe bereits gescheitert. Nun sollten die Deutschen ran. Schließlich komme – so der seinerzeitige NATO-Generalsekretär, Javier Solana – von dort die lauteste Kritik an der Mission des Bündnisses. Jertz machte den Job fast ein Vierteljahr lang zur erkennbaren Zufriedenheit der Brüsseler Korrespondenten. In einem Gespräch räumte er damals ein, ganz sicher nicht alles sagen zu können, was er wisse. Aber was er an Informationen preisgebe, entspreche auf jeden Fall der Wahrheit.
Der „Märchengeneral“

Die letzte dienstliche „Verwendung“ von Walter Jertz – nun schon als „Dreisterner“ im zweithöchsten Generalsrang – war von 2002 bis 2006 die des Befehlshabers des Luftwaffenführungskommandos in Köln und damit des „Herrn“ über 32 000 Soldaten, 8000 zivile Mitarbeiter sowie 480 Kampf- und 180 Transportflugzeuge. Dort klebte ihm bereits der Spitzname „Märchengeneral“ an – den er auch jetzt noch durchaus als Ehrentitel wertet. Jertz hatte immer schon gern geschrieben; sein Name steht über einer Reihe von Sachbüchern. Besonders gern, freilich, spricht er über drei Kinderbücher, die aus seiner Fantasie und Feder flossen: „Kommst Du mit nach Afrika“, „Erzähl mir mehr von Afrika“ und „Zurück in Afrika“. Alle drei übrigens mit großem Einfühlungsvermögen illustriert von Nathalie Müller, Schülerin und Tochter eines früheren Mitarbeiters. Der Reinerlös ging (und geht noch immer) voll nach Afghanistan und kommt dem Bau von Brunnen und Schulen zugute. Mit dem Fliegen, übrigens, hat der Überschallflieger ganz aufgehört. Na ja, auf den obersten Brettern seiner Bücherregale stehen die Modelle „seiner“ einstigen Jets. Möglicherweise geht immer noch mal der eine oder andere Blick dahin. Oder es wandert eines demnächst mit ins Rathaus von Oppenheim. Vielleicht gemeinsam mit einem Untersetzer, der sich stets im Gepäck des Walter Jertz befand – egal ob in Texas und Arizona, im italienischen Piacenza oder bayerisch-schwäbischen Lechfeld, im kanadischen Goose Bay oder im „hillije Kölle“. Den Teller ziert der „Fahnenschwenker von Oppenheim“.