Rezension von Harald Bergsdorf

Zwei Reporterinnen berichten über den Ukraine-Krieg

Wladimir Putins Angriffskrieg in der Ukraine „hat niemand vorhergesehen, zumindest nicht in dem Ausmaß, nicht in der Brutalität“. Mit diesem Satz beginnt das Buch Sabine Adlers unter dem Titel „Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft“. Die Osteuropa-Korrespondentin des Deutschlandfunks will in ihrer Analyse die Ursachen der russischen Invasion der Ukraine erforschen und die brisante, lebhaft diskutierte Frage beantworten, welche Fehler Deutschlands und Europas den russischen Einmarsch in das zweitgrößte Land Europas begünstigt haben könnten.

Adlers Suche nach Antworten basiert nicht nur auf ihrer tieferen Beschäftigung mit der Geschichte Osteuropas, sondern auch auf ihrer langjährigen Präsenz als Journalistin vor Ort, u.a. in Moskau und Kiew. Scharf kritisiert Adler zunächst Versuche zum Teil bis heute, Waffenlieferungen an die Ukraine mit Hinweis auf die Täterschaft der Hitler-Diktatur im Zweiten Weltkrieg zu verweigern. Denn Hitler-Deutschland habe damals eben nicht nur im heutigen Russland, sondern auch in der Ukraine zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, u.a. durch den Massenmord mittels Erschießungen an zehntausenden Juden am 29. und 30. September 1941 in Babyn Jar nahe Kiew. Vielmehr müsse das demokratische Deutschland besonders auch deswegen Ukraine heute schnellst- und größtmögliche Hilfe zur militärischen Selbstverteidigung liefern. Darüber könnten auch pazifistische Parolen kaum hinwegtäuschen, weil – so die Autorin – gerade eine mangelnde Unterstützung der Ukraine mit militärischem Gerät ein fatales Signal westlicher Schwäche an Putin und andere Diktatoren aussenden würde.

Ein „verheerendes Signal“

Allein durch die Lieferung von Stahlhelmen ließen sich weder russische Armeen zurückdrängen noch deren Kriegsverbrechen im Auftrag Putins gegen Zivilisten verhindern. Darunter Frauen, Kinder und Greise. Eine Vorstufe des heutigen Angriffskriegs und ein „verheerendes Signal…für die weltweite atomare Abrüstung“ nennt Adler bereits den Bruch des Budapester Memorandums aus dem Jahr 1994 durch Putin schon 2014. Denn im Text des Memorandums hatte Russland der Ukraine zugesichert, deren Grenzen und territoriale Integrität zu achten. Im Gegenzug hatte die Ukraine die sowjetischen Atomwaffen auf ihrem Staatsgebiet an Russland übergeben. Die Budapester Vereinbarung hatte Putin gebrochen, als er die Krim okkupierte und annektierte.

Durch diesen Überfall Putins bereits 2014 drohe das Streben nach Atomwaffen in der Welt ebenso zu wachsen wie die Weigerung von Nuklearmächten, atomar abzurüsten. In besonders deutlicher Diktion kritisiert Adler den langjährigen Kuschelkurs extremistischer Parteien, aber auch einiger demokratischer Spitzenpolitiker, darunter vor allem Gerhard Schröder, gegenüber dem ehemaligen KGB-Agenten Putin, einem ausgewiesenen Experten für Agitation und Propaganda. Die enge Kollaboration demokratischer Spitzenpolitiker mit Putin, unterstützt durch einen hochdekorierten Ex-Stasi-Offizier, lief über Jahre, obwohl der Kreml-Chef bereits damals Vernichtungskriege gegen andere Länder führte. Die Gründe und Motive für diese „Nebenaußenpolitik“ demokratischer Putin-Apologeten reichten – in jeweils individueller Mischung – offenbar von lupenreinem Zynismus über pure Profitgier, blanke Ignoranz und traditioneller Kreml-Fixierung bis hin zu Blauäugigkeit, Wunschdenken und geradezu offensiver Realitätsverweigerung.

Kritik am Kuschelkurs

Sabine Adlers Buch liefert viel Klartext, u.a. über unzureichend diversifizierte Energiepolitik, ökonomische Kurzsichtigkeit, Überheblichkeit gegenüber osteuropäischen Ländern und wohlfeilen Pazifismus. Insbesondere Adlers Kritik am Kuschelkurs demokratischer Spitzenpolitiker gegenüber Putins Diktatur unterscheidet sich deutlich zum Beispiel von der vornehmen Zurückhaltung, Vorsicht und Loyalität, mit der Rüdiger von Fritsch, ehemaliger Botschafter Deutschlands in Moskau, sein aktuelles Buch über Russland und den Westen geschrieben hat. Nur in wenigen Passagen ihres faktenreichen und meinungsfreudigen Buches überzieht die Autorin ihre Kritik an der Politik demokratischer Parteien gegenüber dem Kreml in den vergangenen Jahrzehnten. Denn Putins Überfall auf die Ukraine 2022 und seine Kriegsverbrechen wurden – zumindest in dieser Dimension – eben tatsächlich von niemandem vorhergesehen, wie Adler selbst konstatiert.

© Katrin Eigendorf

Während Sabine Adler mit ihrem Buch eher eine politische Analyse präsentiert, schildert die ZDF-Korrespondentin Katrin Eigendorf in ihrer bewegenden und berührenden Reportage („Putins Krieg. Wie die Menschen in der Ukraine für unsere Freiheit kämpfen“) eher ihre persönlichen Eindrücke aus verschiedenen Kriegsgebieten in der Ukraine, die im 20. Jahrhundert wie wenige Länder unter der jeweiligen Vernichtungspolitik sowohl Stalins, u.a. durch den „Holodomor“, als auch Hitlers gelitten hat. Um authentische Augenzeugenberichte zu liefern, führt Eigendorf vor Ort zahlreiche Gespräche aus nächster Nähe mit mutigen Normalbürgern und mit Kriegsopfern über das Leben und Leiden unter den Bedingungen des Vernichtungskrieges. Zugleich dokumentiert sie u.a. durch Fotos und Filme die Verbrechen Putins und erfüllt damit eine wichtige Aufgabe, um die Propaganda des Diktators zu bekämpfen und seine vielen Versuche zu konterkarieren, durch notorische Lügen eine Deutungs- und Diskurshoheit über den Krieg und seine Ursachen zu erringen.

 Zunehmender Glaube an Lügen

Denn auch in Deutschland gibt es laut repräsentativen Umfragen immer mehr Leute, die der NATO-Osterweiterung eine Mitschuld am russischen Angriffskrieg geben, damit Putins Desinformations-Kampagnen aufsitzen und verkennen, worum es ihm im Kern geht: Eine Ansteckung Russlands durch eine Ausbreitung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand in der Ukraine zu verhindern, um die Herrschaft Putins und seiner Clique längerfristig zu sichern. Zu diesem Zweck versuchen der Diktator und seine Helfer traditionell, Andersdenkende nicht nur in der Ukraine pauschal solange als „Faschisten“ zu diskreditieren und zu diffamieren, bis zumindest ein Teil der Adressaten solche Propaganda übernimmt und verbreitet.

Zugleich wollen Putin und seine extremistischen Kollaborateure in demokratischen Ländern den Westen weiterhin durch steigende Flüchtlingszahlen und sinkenden Wohlstand spalten. Umso wichtiger ist Aufklärung. Dazu leisten Adler und Eigendorf in jeweils unterschiedlicher Weise ihren Beitrag. Für die Zukunft scheint es als Lehre aus Putins Angriffskrieg im deutschen Interesse wichtig, Abhängigkeiten von Diktaturen möglichst zu reduzieren, also von Ländern, die Menschen- und Bürgerrechte in ihrem Inneren und nach außen üblicherweise ebenso grob missachten wie wirtschaftliche Verträge. Als Basis für eine verringerte Abhängigkeit von Diktaturen kann eine möglichst enge und verstärkte Kooperation rechtsstaatlicher Demokratien fungieren.

 

Harald Bergsdorf ist Politikwissenschaftler aus Bonn mit Schwerpunkten Parteiendemokratie, Extremismus, Terrorismus und Zeitgeschichte.

 

 Sabine Adler: „Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft“, Berlin 2022;

Verlag
Ch. Links Verlag
Veröffentlichung: 16.08.2022
ISBN: 978-3-96289-180-0
Kategorie: Politik

 Katrin Eigendorf: „Putins Krieg. Wie die Menschen in der Ukraine für unsere Freiheit kämpfen“, Frankfurt am Main 2022.

  • Verlag: S. FISCHER
  • Erscheinungstermin: 31.08.2022
  • 256 Seiten
  • ISBN: 978-3-10-397195-8

 

 

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