Renaissance der Kernenergie
Von Günter Müchler
Ende nächsten Jahres soll das letzte deutsche Kernkraftwerk vom Netz gehen. Ein jahrzehntelanger Kreuzzug käme damit zum siegreichen Abschluß. Doch selbst bei den grünen Kreuzfahrern will inzwischen Feierstimmung nicht aufkommen. Eine unangenehme Frage drängt auf die Agenda: Verträgt sich die allgemeine Mobilmachung gegen die drohende Klimakatastrophe mit energiepolitischen Tabus?
„Atomkraft – nein danke“. Mit diesem flotten Spruch waren die Grünen einst ins politische Leben getreten und hatten Erfolg. Endlich war da ein Drehbuch, das den Deutschen erlaubte, die Rolle spielen zu können, die sie am liebsten spielen: Den Partdes Lehrmeisters. Inzwischen heißt das Stück anders: „Kevin allein zu Haus“. Weltweit gesehen, wirkt Deutschland mit seinem Atomkurs wie ein Geisterfahrer. In den USA hält die Regierung Biden an der Kernenergie fest. China, Russland und Indien haben einen kräftigen Ausbau angekündigt. Global sind 94 neue AKW in Planung.
Selbst in Europa, wo die Sensibilität gegenüber den Risiken der Kernkraft seit Tschernobyl ausgeprägter ist als anderswo, steht Deutschland allein auf weiter Flur. Atom-Europameister Frankreich will den Anteil des erzeugten Stroms aus Kernenergie zwar etwas zurückfahren. Gleichzeitig hat Präsident Macron aber hohe Investitionen in eine neue Generation von Atommeilern bekanntgegeben.
Mit zusätzlichen Kleinreaktoren (SMR), die weniger Müll produzieren, will Macron Frankreich fit machen für den Wettlauf gegen die Erderwärmung. In dieselbe Richtung denkt die Regierung Johnson in Großbritannien. Italien diskutiert den Wiedereinstieg in die Kernenergie, Tschechien und die Niederlande wollen den Einsatz des Atomstroms hochfahren. Mit nur mäßiger Übertreibung lässt sich von einer Renaissance der Kernenergie in Europa sprechen.
Der deutsche Sonderweg geht auf das Jahr 2011 zurück. Obwohl der schwere Reaktorunfall von Fukushima besonderen Umständen geschuldet war (fahrlässiges Verhalten der Betreiberfirma Tesco), reagierte allein die Regierung Merkel mit einem abrupten politischen Kurswechsel: Keine Zukunft mehr für die „Brückentechnologie“ Atomkraft; keine aktiven Atommeiler mehr in Deutschland über 2022 hinaus.
Merkels Hau-Ruck-Entscheidung schien schon damals vielen Beobachtern mehr von Opportunismus als von Weitsicht geprägt. Im Lichte der seit 2011 eingetretenen Entwicklung geht die Kritik in die Breite. VW-Chef Herbert Diess, der seine Flottenpolitik ganz auf E-Antrieb getrimmt hat, hält die weitere Nutzung der Kernenergie für bedenkenswert, „weil wir noch nicht über ausreichend regenerative Energiequellen verfügen“.
Der ehemalige BASF-Chef Jürgen Hambrecht bezeichnete dieser Tage den gleichzeitigen Ausstieg aus Kohle und Kernenergie als schweren Fehler. Hambrechts Wort zählt doppelt. 2011 war er Mitglied einer den Ausstieg begleitenden Ethikkommission. Jetzt räumte er gegenüber der FAZ ein, es habe damals „keine Abwägung zwischen Kernenergie und der Erderwärmung“ gegeben. Im Klartext: Die Bedürfnisse des Weltklimas wurden bei der Fukushima-Entscheidung einfach ignoriert.
Die Folgen sind fatal. Die anspruchsvollen europäischen Klimaziele werden schwerlich erreicht werden, jedenfalls nicht von Deutschland und dann, wenn man weiter nur auf Windkraft und Solarfarmen setzt. Der Ausbau der Erneuerbaren kommt nicht wie gewünscht voran; die Infrastruktur hinkt hinterher, der enorme Flächenverbrauch durch Windräder stößt zunehmend auf Widerstand.
Außerdem ist die lange verdrängte Einsicht angekommen, dass es nicht reichen wird, den derzeitigen Energieverbrauch eins zu eins auf „grüne“ Energie umzustellen. Ein exponentiell wachsender Bedarf an elektrischer Energie muss gedeckt werden. Wie das bei gleichzeitigem Ausstieg aus Kernenergie, Kohle und Öl versorgungssicher geschehen soll, weiß niemand. Der Fehler von 2011 ist irreparabel. Neue Kernkraftwerke brauchen von Planung bis Indienststellung an die zwanzig Jahre. Selbst die Versorger entwickeln vor diesem Hintergrund keinen Ehrgeiz. Das heißt: Die europäische Atom-Renaissance wird, wenn sie stattfindet, einen Bogen um Deutschland machen. Eine gewisse Entlastung würde allenfalls bringen, gäbe Berlin der Kernenergie den Status einer „Brückentechnologie“zurück, den sie bis 2011 besaß. Das würde bedeuten, man könnte die Laufzeit der noch in Betrieb verbliebenen AKW verlängern. Ob die nächste Bundesregierung dazu die Kraft und den Willen aufbringen wird, muss allerdings füglich bezweifelt werden.
Denn Ideologie ist die Fähigkeit, unbequeme Realitäten beiseite zu schieben. Momentan lässt sich das gut zu besichtigen auf europäischer Ebene. In Brüssel arbeitet die EU-Kommission an einem Regelwerk namens Taxonomie. In einem grünen Kataster soll festgehalten werden, was nachhaltig und damit förderungswürdig ist und was nicht. Seit Monaten laufen Umweltverbände Sturm gegen die Einstufung von Kernenergie und Erdgas als unbedenklich. Zwar bestreiten auch sie nicht, dass Gas dem Klima weniger schadet als Kohle, und Atomkraft Energie generiert, ohne die CO2 Bilanz zu belasten. Aber am Ende ist ihnen Gas noch immer zu schmutzig und die Kernenergie zu gefährlich.
Frankreichs Präsident Macron hat bereits klargestellt, dass er für die französischen AKW auf dem Etikett grün bestehen wird. Auf die Haltung der Bundesregierung darf man gespannt sein. Ein Streit mit Paris wäre schon für sich genommen ein hoher Preis. Noch höher wäre der Preis für den Klimaschutz. Wenn man es ernst meint mit der Ansage, alles habe sich dem Kampf gegen die Erderwärmung unterzuordnen, kann man sich Purismus nicht leisten und wichtige Hilfsmittel nicht tabuisrien. Die Abwägung, die 2011 unterlassen wurde, müsse spätestens jetzt nachgeholt werden, meint Jürgen Hambrecht. „Und es sieht so aus, als ob die Gefahren des Klimawandels viel höher sind als die Risiken der Atomkraft“.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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