Von Günter Müchler

Günter Müchler

Niemand hatte behauptet, es werde ein einfaches Ding. Dennoch lächelten die Koalitionäre auf den ersten Fotos beinahe verschwörerisch. Christian Lindners Augen blitzten von sportlichem Ehrgeiz angesichts einer kreativen Herausforderung, die ganz nach seinem Geschmack war. Ein Jahr ist das her. Seither hat sich die Welt gründlich verändert durch Krieg, Inflation und die Aussicht auf kalte Füße im Winter. Die Gesichter sind ernster geworden, müde. Lag da am niedersächsischen Wahlsonntagabend Panik im Blick des FDP-Chefs? Gut herausgekommen ist keiner der Ampel-Partner bei der Landtagswahl zwischen Weser und Nordsee, am wenigsten waren es  die Liberalen. Für die Gelben im Bunde steht die Ampel kurz vor rot.

Das erinnert an früher. In Bonner Zeiten war die FDP fast an jedem Wahlabend für eine Zitterpartie gut. Korrespondenten, die für die Montagausgabe ihrer Zeitung noch schnell ein sogenanntes Wahlabendfeature zu Papier bringen mussten, hatten schon Nächte vorher Albträume. Wahrscheinlich würde es wieder mal knapp für die Freien Demokraten. Wieder einmal würde man im Thomas-Dehler-Haus um Formulierungen ringen. Wieder einmal würde der FDP-Generalsekretär mit Verspätung vor die Presse treten, kurz nach Redaktionsschluss. So war es auch diesmal. Spät kam er, der Generalsekretär, dessen Name sich bis heute nicht eingeprägt hat, auch weil er so schwierig ist.

Dabei sollte alles anders werden. 11,5 Prozent hatten die Liberalen am 26. September 2021 in die Scheuer eingefahren. Die CDU lag am Boden. Deren Schwäche und die eigene Stärke sollte das starke Fundament einer besseren Zukunft sein. Das war der Plan Christian Lindners, und so sah man es auch in seiner Umgebung. Aber wie heißt es? Wer Gott zum Lachen bringen will, der mache einen Plan. Ein Jahr nach dem Mutmacher der Bundestagswahl hat für die FDP das große Zittern erneut begonnen.

Die vierte Landtagswahl nacheinander ist danebengegangen. Erst verpassten die Liberalen den Wiedereinzug in den saarländischen Landtag. In Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen verloren sie die Regierungsbeteiligung. Und jetzt Niedersachsen! Mit 4,7 Prozent schnitt die FDP fast so schlecht ab wie die westlich der Elbe im avalonischen Nebel untergetauchte Partei Die Linke.

Inzwischen hat Lindner eine verwegene Vergleichsrechnung aufgemacht, die die eigenen Reihen beruhigen und der Niederlage ihren Katastrophenanstrich nehmen soll. Die Ampel insgesamt habe Legitimität verloren, behauptet Lindner, und meinte wohl Akzeptanz. Solch ein Lapsus unterläuft dem Redegewandten selten. Was er sagen wollte: Auch die SPD habe Federn gelassen. Und die Verluste der Genossen, addiert mit den eigenen, würden von den Gewinnen der Grünen nicht restlos aufgewogen. Sogar Pfeifen im Walde klingt überzeugender.

Tatsache ist: Die Ampel flackert, was in diesem Fall nicht an den steigenden Stromkosten liegt. Die Aufführungen der letzten Wochen und Monate waren energielos, steuerlos, heillos. Olaf Scholz, der am 27. Februar für seine Entscheidungskraft verdienten Beifall kassiert hatte, ist zurückgefallen in die Rolle des Zauderers, der nur nach der dritten Verwarnung handelt. Auch Robert Habeck ist bandagiert. Der grüne Frontmann und Star der Ampeltruppe beging mit der Gasumlage einen schweren Fehler und ist seither nicht wieder auf die Beine gekommen. Außenpolitisch wissen die Berliner nicht, was ihnen geschieht: Die Osteuropäer werfen ihnen vor, die Ukraine nicht entschieden genug zu unterstützen. Westeuropäer kritisieren den „Doppelwumms“, weil er die deutsche Finanzkraft gegen die Armen ausspiele. Auch wenn die Kritik nicht in jedem Punkt gerecht ist: Schwäche lädt ein für Schläge unter die Gürtellinie. Die Bundesregierung, sonst immer am liebsten everybody`s  darling in Europa, erfährt gerade, wie es einem Punchingball geht. Was macht eigentlich unsere Außenministerin?

Zurück zu Lindners Vergleichsrechnung: Weil weniger schlecht besser ist als ganz schlecht, konnte sich die SPD, anders als die FDP, in Hannover als Wahlsieger feiern. Ganz schlecht hatten die Sozialdemokraten zuletzt in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen abgeschnitten. Auch diesmal mussten sie Punkte abgeben. Wäre da nicht Stefan Weil gewesen, der langjährige populäre Ministerpräsident, der die Landesvater-Vertrauens-Karte in perfekter Manier ausspielte – die Lichter wären in der Berliner SPD-Zentrale am Sonntag zu früher Stunde erloschen, nicht aus Stromspargründen.

Als Wahlsieger feierten sich auch die Grünen, freilich mit gestopften Trompeten. Noch wenige Wochen vor dem Wahltag hatte man ihnen einen unvergleichlichen Höhenflug prophezeit. Habecks Sinkflug und wohl auch die Enttäuschung, die sich im Graswurzel-Anhang der Ökopartei, der nirgendwo so dominant ist wie in Niedersachsen, ließen daraus nichts werden. Dennoch reichte es für einen kräftigen Zugewinn. Notabene: In Hannover fand eine Entwicklung ihre Fortsetzung, die Wahlforscher schon seit langem beobachten. Die Grünen können machen, was sie wollen; sie werden getragen von den Fittichen des Zeitgeists.

Quo vadis FDP? Wohin geht die Reise? 25 000 Stimmen hat sie an die CDU abgegeben, noch mehr, nämlich 40 000 an die AfD. Vor allem letzteres wirft eine Menge Fragen auf. Der Schwund konzentriert sich auf die älteren Semester, was bedrohlich ist für eine Partei, die vor allem mit ihrer Wirtschaftskompetenz punkten möchte. Will sie das wirklich noch? Zweifel sind nicht nur deshalb angebracht, weil Lindner als Finanzhüter ständig mogeln muss. Bemerkenswert ist: Die FDP hat sich unter Lindner ein riskantes Lifting gegönnt. Sie will jetzt eine Partei für die jungen Leute sein, smart und digitalaffin. Der Parteichef spricht inzwischen perfekt Gender-Deutsch. Das tun Scholz und Habeck auch, aber irgendwie routinierter. Bei Lindner ist das Tun bemühter, die Absicht durchschaubarer.

Tonangebend in der Jugendoffensive ist Justizminister Marco Buschmann, der schon mal unüberlegt daherredet. Sein (ernst gemeinter) Vorschlag, die Bediensteten in Bund, Ländern und Kommunen sollten Englisch sprechen können, ist wohl mittlerweile vom Tisch. Dafür und umso schlimmer hält Buschmann am Vorhaben eines Selbstbestimmungsgesetzes fest. Es soll an die Stelle des Transsexuellengesetzes treten, das von Karlsruhe für verfassungswidrig erklärt worden ist. Kommt das Gesetz in den bisher bekannten Eckpunkten durch, würden künftig junge Männer und junge Frauen pro Jahr einmal zum Einwohnermeldeamt gehen können und ihr altes biologisches Geschlecht gegen ein -gefühltes – neues auswechseln dürfen. Dass die Grünen hier ganz begeistert sind, ist klar. Ob die FDP mit diesem Schachzug, der wie ein Fracking in die tiefen Schichten unseres Gesellschaftsverständnisses eindringt, glücklich wird, ist hingegen fraglich. Im Frühjahr hatte die Partei eine Kommission eingerichtet, die eine Brücke zwischen jung und alt schlagen soll. Als Buschmann-Partei sollte die FDP jetzt schon mal schwimmen lernen.

Nochmal quo vadis FDP? Viele Möglichkeiten hat die Partei nicht. Der Weg zur CDU ist vorerst verschlossen. Das Glücksgefühl, das sich bei den Christdemokraten nach den beiden letzten Landtagswahlen eingestellt hatte, hat sich verflüchtigt. Man ist wieder auf dem Boden der Tatsachen. Der niedersächsische Frontmann Althusmann konnte das Problem nicht lösen, Friedrich Merz auch nicht. Es ist einfach so: Die CDU hat die Meinungsführerschaft in fast allen Kompetenzbereichen verloren. Sie zurückzugewinnen braucht Demut, viel Zeit und gute Ideen zur Gestaltung der Zukunft. Was heißt: Die Ampel kann so sklerotisch sein wie sie ist. Ein renversement des coalitions, ein Umsturz der Koalition also, scheidet bis auf Weiteres aus.  Die FDP wird bleiben, wo sie ist. Bis zur nächsten Zitterpartie.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

 

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