Von Wolfgang Bergsdorf

Autor Wolfgang Bergsdorf

Kurz vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine listete ein Kreml-nahes Institut für internationale Angelegenheiten die Gründe auf, welche die meisten internationalen Fachleute zu der Vermutung bewogen haben, dass Putin trotz aller Truppenaufmärsche an der Grenze die Ukraine doch nicht angreifen würde: Die Folgen würden zu gravierend sein; es drohe ein langer, verlustreicher Konflikt; der Westen würde mit beispiellosen Sanktionen reagieren, von denen die russische Wirtschaft substantiell getroffen würden; die Ukrainer würden vom Westen mit Verteidigungswaffen ausgestattet; die nationale Identität der Ukrainer würde gestärkt; die russische Gesellschaft in Gegner und Befürworter des Krieges gespalten; Russland begebe sich in eine globale Isolation; Putin begehe sehenden Auges  keinen ökonomischen Selbstmord.

All dies sind starke Argumente, von denen jedes einzelne gegen einen Krieg spräche. Dass der militärische Überfall auf die Ukraine dennoch von Zaun gebrochen wurde, resultiert aus einer Erfahrung, die der russische Diktator schon in der Anfangsphase seiner Herrschaft gemacht hatte: Krieg fördert seine Popularität in Russland. Als Putin 1999 noch als Ministerpräsident den Befehl gab, die tschetschenische Hauptstadt Grosny mit Raketen anzugreifen, um dort alle „Terroristen“ auszumerzen, steigerte dies seine Beliebtheit in wenigen Wochen von 30 auf 75 Prozent. Damit war der Nachfolger des Präsidenten Jelzin bestimmt. Die Konkurrenten schieden aus dem Rennen, Kritik am Krieg wurde zum Landesverrat. Putins neu gegründete Partei ohne Programm und ohne sonstiges Personal startete ihren Siegeszug ohnegleichen.

Im berüchtigten Geheimdienst KGB hatte Putin zuvor Gewalt als Mittel der Politik schätzen gelernt. Mord und Krieg als politische Mittel waren ihm vertraut, dabei wollte er militärische Gewalt angeblich nur gegen „Terroristen“ und  „Neonazis“ eingesetzt wissen. So wurden im Vorfeld des Ukraine-Überfalls 40 Millionen Ukrainer zu Terroristen und Neonazis erklärt. Zuvor hatte das gleiche Narrativ die Georgier zu Faschisten gemacht. 2008 erreichte Putin erneut hohe Beliebtheitswerte, als er Georgien überfiel. In einem nationalistischen Überschwang konnte er seine Beliebtheit noch einmal steigern.

Dann kam das Jahr 2014 mit der Annexion der Krim. Mit ihr erklommen Putins Popularitätswerte 90 Prozent. Mit der Besetzung der Halbinsel komme er einem Genozid (also einem Völkermord) an den dort lebenden Russen zuvor, dass von den ukrainischen Faschisten und Nazis geplant werde. Das war die Begründung für die Besetzung der Krim. Bald nach der Annexion der Halbinsel begannen die Kämpfe prorussischer Separatisten im Donbass. Schon damals tauchten in russischen Medien Berichte auf, denen zufolge dort Soldaten aus NATO-Ländern gegen Russen kämpften. Natürlich konnten keinerlei Belege für diese Behauptung geliefert werden.

 Und jetzt erreicht der Angriffskrieg gegen die Ukraine die achte Woche. Natürlich behauptet die russische Propaganda, dass die „Spezialoperation“ in Russland selbst außerordentlich populär sei. Dabei ist davon auszugehen, dass viele Russen nicht wissen, dass ihr Land das Brudervolk der Ukrainer überfallen und dessen Städte und Dörfer in Schutt und Asche gelegt hat. Ob sich dieser Krieg positiv oder negativ auf die Popularität des Präsidenten auswirkt, hängt wesentlich von seiner Dauer, von den Verlusten und von seinen Ergebnissen ab. Alle Kriege Putins dienen dem strategischen Ziel, das er immer wieder kommuniziert hat. Es geht um die Wiederherstellung des russischen Imperiums. Nur so ist seine Feststellung zu interpretieren, dass die Auflösung der Sowjetunion „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei.

Um das Rad der Geschichte zurückzudrehen, hat Putin seit 1999 mit unfassbarer Brutalität Angriffskriege geführt. Die Ukrainer wehren sich in diesen Wochen mit einer Tapferkeit und Wirksamkeit, die die Bewunderung in der ganzen Welt erregt. Die russischen Truppen hatten mit dieser Widerstandskraft nicht gerechnet, denn sie glaubten der eigenen Propaganda, nach der die Ukrainer nichts sehnlicher wünschten als durch ihre russischen Brüder von der neonazistischen Führung befreit zu werden. Dass der ukrainische Präsident Selensky Jude ist mit der Muttersprache Russisch und er einen großen Teil seiner Herkunftsfamilie im nationalsozialistischen Holocaust verloren hat, ist für die russische Propaganda kein Widerspruch. Denn alle, die sich im Inland oder Ausland den neo-imperialistischen Träumen Putins entgegenstellen, werden wahlweise als Verräter, als Nazis, als Terroristen eingestuft.

Interessant ist eine Analyse der EU-Task-Force gegen Desinformation, die seit August 2021 eine rasante Steigerung der Frequenz des Terminus „Nazi“ für die Ukrainer in den sozialen Netzwerken fand, die auf den Kreml zurückzuführen sind. In den vergangenen Wochen vor dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich die Häufigkeit dieses Terminus für die Ukrainer verfünffacht. Dies war eingebettet in Falsch- Nachrichten über angebliche Biowaffenlabore in der Ukraine, über ukrainische Angriffspläne gegen das übermächtige und nuklear bewaffnete Russland, über Massenmorde an russischsprachigen Menschen im Donbass und über die Gräueltaten russischer Soldaten als Fake News. Diese Desinformationen kosten den russischen Steuerzahler jährlich bis zu 1,2 Milliarden Euro. Dass sie bei flüchtiger Recherche leicht als solche zu erkennen sind und sich oft auch widersprechen, ändert nichts an ihrer Wirksamkeit. Denn die russische Propaganda setzt auf eine Vielzahl von Wahrheiten. Am wichtigsten ist, dass die eine Wahrheit nicht erkennbar ist. Außerdem haben Falschmeldungen gegenüber Wahrheiten einen uneinholbaren Vorteil: Sie verbreiten sich sechsmal schneller und erreichen tausendmal mehr Menschen. Denn „Fakten sind langweilig“, erläuterte die Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressar diesen Effekt in einem Vortrag an der Universität Chicago. Bei der Konferenz ging es um „Desinformation und die Aushöhlung der Demokratie“. Auch er – bekannte der frühere US-Präsident Barack Obama – habe diese Problematik zunächst nicht ernst genommen. Die Wahl von Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten und die fortwährenden Angriffe der russischen Propaganda auf das Konzept von Wahrheit und Wirklichkeit haben die intellektuellen Kampflinien für die dritte Dekade des 21. Jahrhunderts markiert.

Wer hätte gedacht, dass wir uns voller Wehmut an die kontroversen Konstellationen des Kalten Krieges erinnern, in denen den westlichen Demokratien immerhin ein Politbüro mit mehreren Persönlichkeiten gegenüberstand? Heute haben wir es mit einem Diktator zu tun, der noch nicht einmal intern eine Diskussion zulässt und sich darin gefällt, seine Mitstreiter öffentlich zurechtzuweisen. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit hat eine einzelne Person eine solche Machtfülle einschließlich unvorstellbarer nuklearer Zerstörungskraft besessen. Deshalb ist es nicht ganz verwunderlich, dass dieser Mensch für sich und für sein Land das Recht in Anspruch nimmt, sich an keine Regeln, an keine Verträge, an keine Abkommen halten zu müssen und selbst beim Sport sich durch Doping unlautere Vorteile sichern zu dürfen. Aus russischer Sicht haben Georgien, Weißrussland und die Ukraine, aber auch kleinere Länder wie Moldawien, nicht das Recht, sich dem großen Bruder zu entwinden und ihr Selbstbestimmungsrecht zu genießen. Sie haben sich gefälligst dem imperialen Anspruch Moskaus zu unterwerfen. Deshalb ist der Ausgang des Ukraine-Krieges so wichtig. Wenn Putin die Ukraine oder auch nur Teile von ihr als Beute verdaut hat, wird er die nächsten Etappenziele seiner imperialen Politik ins Visier nehmen:  Georgien, Moldawien oder Weißrussland, falls sich auch dort Wünsche nach Freiheit, Demokratie und Wohlstand regen sollten.  In den russischen Staatsmedien werden längst weitere Ziele diskutiert: die baltischen Staaten, Polen und andere ehemaligen Warschauer Paktstaaten.

Wir Deutschen – ja, wir im Westen insgesamt – haben uns zwei Jahrzehnte an der Nase herum führen lassen von dem russischen Diktator. Wir haben die Zeichen und Beweise seiner Mordlust und Kriegswut nicht zur Kenntnis genommen.  Wir haben die Fanale an der Wand nicht wahrnehmen wollen, wir haben es zugelassen, von Russland energiepolitisch immer abhängiger zu werden. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten können wir uns diese Blauäugigkeit nicht mehr leisten. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich Russland unter Putin nach zwei Jahrzehnten dorthin zurückbewegt, wo die Sowjetunion vor drei Jahrzehnten aufgehört hat. Wir erleben das Schauspiel, dass eine entwickelte Ökonomie zurückgeführt wird auf die Standards eines Entwicklungslandes. Atemlos beobachten wir die Entfaltung eines Herrschaftssystems, das mit einer totalitären Diktatur nur annäherungsweise beschreibbar ist.

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinett“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

 

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