Von Wolfgang Bergsdorf

Autor Wolfgang Bergsdorf

Jedermann weiß, dass in einem Krieg die Wahrheit als erstes stirbt. Das ist auch im aktuellen Krieg zu beobachten, der durch den anlasslosen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ausgelöst wurde. Er tobt seit mehr als einem Monat. Militärexperten in aller Welt und solche, die sich dafür halten, nehmen mit Erstaunen zur Kenntnis, wie sehr und wie schnell Wladimir Putins Grundannahmen sich als reine Erfindungen herausgestellt haben: Ungeachtet der massiven russischen Überlegenheit an Menschen und Material konnte der militärische Überfall auf die Ukraine – anders als 2008 in Georgien – nicht mit einem Sieg im Blitzkrieg abgeschlossen werden.

Nirgendwo in der Ukraine wurden die russischen Soldaten mit Blumen empfangen und als Befreier gefeiert. Vielmehr trafen sie auf heftigsten Widerstand des Militärs und auch der Bevölkerung. Den Invasoren wurden erhebliche Verluste zugefügt. Trotz heftigen Raketenbeschusses und deutlicher Verluste bei der Zivilbevölkerung konnte der Widerstandswille der Ukrainer nicht gebrochen werden. So geht die militärische Auseinandersetzung in die sechste Woche, ohne dass sie in Russland Krieg genannt werden darf.

Putin hat von der Staatsduma (dem Moskauer Parlament) noch rechtzeitig vor seinem Überfall ein Gesetz verabschieden lassen, demzufolge jedem mit bis zu 15 Jahren Haft gedroht wird, der von „Krieg“ spricht statt von „Spezialoperationen“. Er folgt damit einem Vorschlag des britischen Schriftstellers George Orwell, der seiner berühmten Negativ-Utopie „1984“ eine „kleine Grammatik“ beigefügt hat. Diese empfiehlt Diktatoren aller Art, Schrecken auslösende Begriffe wie „Krieg“ durch harmlosere Formulierungen zu ersetzen, z.B. durch „Frieden“.

Die russischen „Friedensmissionen“ folgen diesem Ratschlag. Während ihre militärischen Aktivitäten in der Ukraine zu stocken scheinen, läuft der Propagandakrieg auf Hochtouren. Kürzlich wurde auch die deutsche Öffentlichkeit aufgeschreckt durch eine Meldung, nach der am Bahnhof der Kreisstadt Euskirchen in der Voreifel angeblich eine russische Jugendliche von einer Horde ukrainischer Flüchtlinge zusammengeschlagen und vergewaltigt worden sei. Die lokale Polizei identifizierte ein Video mit dieser Behauptung sehr rasch als Fälschung. Ebenso rasch wurde ein so genanntes Deepfake-Video als Fälschung entlarvt, in dem der ukrainische Präsident die Kapitulation der Ukraine zu verkünden schien. Natürlich sind solche Irreführungen keine russische Spezialität. Immerhin hat ein amerikanischer Präsident namens Trump vor nicht allzu langer Zeit das „postfaktische Zeitalter“ eingeführt. Seine Lügen haben die amerikanische Demokratie einem veritablen Stresstest ausgesetzt.

Aber die Russen haben es in der Disziplin der Desinformation zur wahren Meisterschaft gebracht. Eine der größten Erfolge startete 1983 der sowjetische Geheimdienst KGB, für den Putin damals in Dresden tätig war. Dem KGB gelang es, in der indischen Zeitung „The Patriot“ einen Text eines angeblichen amerikanischen Wissenschaftlers unterzubringen. In ihm wurde behauptet, das die gefährliche Immunkrankheit AIDS auslösende HIV sei ein afrikanisches Virus, das vom amerikanischen Militär untersucht worden sei, um es zur biologischen Waffe zu züchten. Es sei dann allerdings aus dem Labor entwichen, wonach sich die AIDS-Epidemie rasend schnell auf dem Globus ausbreitete. Weniger rasch verbreitete sich im analogen Zeitalter diese Falschmeldung trotz aller Richtigstellungen der amerikanischen Regierung. Ihrer Wirksamkeit hat das trotzdem nicht geschadet. Wir wissen aus Umfragen, dass noch heute Millionen von Amerikanern dieser Lüge aufgesessen sind.

Der russische Begriff für solche Fake-News (Falschmeldungen) als Mittel der psychologischen Kriegsführung gegen die Gesellschaften des Westens heißt „aktive Maßnahmen“. Im KGB waren zeitweise 15.000 Leute mit 85 Prozent des Gesamtbudgets an solchen Aktivitäten beteiligt. Die „New York Times“ rekonstruierte schon vor Jahren eine Art Regelkatalog für diese Desinformation-Strategien. In einem ersten Schritt galt es, Brüche in der Gesellschaft des Ziellandes zu identifizieren und sie zu verstärken. In jedem westlichen Land gibt es solche Angriffsflächen. Sie sind die Folgen des Pluralismus, der Meinungs- und Interessenunterschiede und damit natürlich der Freiheit. Im nächsten Schritt wird eine falsche Nachricht erfunden, die so ungeheuerlich ist, dass sie genug Empörung erzeugt, um Zweifel gar nicht entstehen zu lassen. Wirksam ist dabei immer ein Körnchen Wahrheit in jeder Desinformation. Sie bestand in diesem Fall darin, dass das HIV- Virus aus Afrika natürlich auch von amerikanischen Forschern untersucht wurde.

Labore spielen auch bei einem aktuellen Fall russischer Zersetzung eine wichtige Rolle. Diesmal geht es um Deutschland, von dem russische Desinformateure behaupten, zusammen mit der Ukraine an tödlichen Biowaffen auf der Grundlage des Hanta-Virus oder des Krim-Kongo-Fiebers zu arbeiten. In diesem Zusammenhang wird das Hamburger Bernhard-Nocht-Institut erwähnt, eine große Forschungseinrichtung zur Bekämpfung von Tropenkrankheiten mit einer langen Tradition. Bei ihrer Invasion in die Ukraine fanden russische Truppen Unterlagen ein Memorandum for Understanding – also eine Art Vor-Vertrag) vom 18. Juli 2018 zwischen diesem Institut und dem ukrainischen Gesundheitsministerium.

Das angebliche Geheimpapier kann sich übrigens jedermann vom Hamburger Institut mailen lassen. Es geht um die Umsetzung des seit 2013 laufenden Bio-Sicherheitsprogramms der Bundesregierung, das dazu dient, hochansteckende Erreger frühzeitig zu identifizieren, um sie besser bekämpfen zu können. Aus dem Mund Putins im russischen Fernsehen erfährt man allerdings, dass „die Nazi-Regierung in Kiew mithilfe der USA und ihrer Verbündeten verbotene Waffen entwickelt, um Russland anzugreifen“. Wer freilich glaubt, damit sei der Gipfel der Absurdität erreicht, irrt. Denn – so Putin – „gefährlichste Viren würden so genetisch programmiert, dass sie ausschließlich Menschen slawischer Ethnie töten würden.“ Deshalb hat Russland tatsächlich auch schon eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates einberufen lassen. Für eine Märchenerzählung ist dies wahrlich eine große Ehre.

Wenn man die Tausende von IT-„Trollen“ in Rechnung stellt, die in Sankt Petersburg oder anderswo in Russland versuchen, auf die öffentliche Meinung in den westlichen Ländern und auf die Diskurse im Internet Einfluss zu nehmen und dann dazu auch noch die Heerscharen von Hackern nimmt, die in die Computersysteme westlicher Regierungen, Parlamente und öffentlicher Versorgungseinrichtungen, aber auch privater Wirtschaftsunternehmen einzudringen versuchen, dann hat man eine Vorstellung von der Aufgabe, Gegengewichte zu schaffen. Einer, der das mit Bordmitteln schafft, also mit seiner charismatischen Persönlichkeit und einer simplen Technik, ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der frühere Schauspieler und Kabaretist meldet sich über Video täglich zu Wort, ermutigt seine Landsleute zum Durchhalten, motiviert seine Soldaten, spricht seine Gegner in Russland an und fordert auch die Parlamente der befreundeten Länder zur weiteren Unterstützung auf. Unlängst hat er per Zoom sogar vier russischen Journalisten 100 Minuten lang Rede und Antwort gestanden. Dieses Interview war bemerkenswert in Inhalt und Form.

Der souveräne Auftritt Selenskyjs kontrastierte mit panischen Reaktionen der Moskauer Zensur. Diese verlangte von den beteiligten Medien, das Interview nicht zu veröffentlichen. Nur die kremltreue Zeitung „Kommersant“ gehorchte, die anderen drei Medien, die inzwischen ins Baltikum ausgewichen waren, veröffentlichten das Gespräch online, so dass es von 200.000 Russen noch tagesaktuell gesehen werden konnte. Mittlerweile haben es mehrere Millionen Russen angeklickt. Es ist wohl das erste Mal, dass das Staatsoberhaupt eines mit Krieg überzogenen Landes Journalisten aus dem Land des Aggressors ein Interview gewährt. In ihm wurden mit großer Offenheit die russischen Kriegsgründe dem ukrainischen Präsidenten als Fragen vorgelegt.

Selenskyj wirkte – nach vier Wochen Krieg – müde und erschöpft, aber zugleich auch konzentriert und entschlossen. Er benutzte in diesem Interview seine Muttersprache Russisch. Zu Beginn schilderte er das Grundproblem seines Landes mit Russland – die russische Ablehnung der Selbstständigkeit der Ukraine: „Das ist unsere gemeinsame Tragödie“. Im Einzelnen wies er die Desinformationen über die ABC- Waffen-Ambitionen seines Landes zurück, schilderte das Elend des Krieges für die Ukrainer, aber auch für die jungen russischen Soldaten, die „zur Schlachtung geschickt werden und gar nicht verstehen, was sie hier überhaupt machen.“ Der Kontrast zwischen dem ukrainischen Präsidenten und dem Langzeit- Diktator im Kreml wurde durch dieses Interview besonders deutlich: Hier der junge, dynamische und emphatische kleine Mann in olivgrünem T-Shirt, der sich um seine verwundeten Soldaten im Krankenhaus kümmert. Dort der Dauer-Herrscher im Kreml, dem – er wird bald 70 Jahre alt – die Zeit davonläuft. Putin präsentiert sich in geschniegelten Anzügen bei seinen Fernseh-Auftritten, bei denen er seine wenigen verbliebenen Getreuen zurechtweist.

Seinen „innenpolitischen Erfolgen“ in Georgien und in der Ukraine durch die Annexion der Krim und im Donbass bis 2022 verdankt Putin seinen Ruf als Garant der Stabilität. Aber auch dem Schweigen des Westens, der Putins Gewaltakte gegen Personen, Institutionen und Regionen bisher immer mehr oder weniger klaglos hingenommen hatte. Der Krieg gegen die Ukraine hat das indes alles verändert. Putin ist dabei, faktenblind in die selbst gestellte Falle zu stolpern. Er hat die Entstehung der ukrainischen Nation unumkehrbar gemacht, der schon „hirntot“ gesagten NATO eine neue Lebendigkeit verliehen und die Militärausgaben der Mitgliedstaaten entscheidend gesteigert. Er hat die Europäische Union so gestärkt, dass jetzt wieder über eine europäische Verteidigungsgemeinschaft diskutiert wird. Und er hat Russland einen Bärendienst erwiesen, indem er die globale Integration seines Landes durch die Sanktionen des Westens beenden lässt.

Denn: Nicht nur die milliardenschweren Oligarchen, vor allem die Mittelständler Russlands waren so stolz darauf, dass ihr Land Teil der globalen Handelsströme geworden war. Es ist eine entscheidende Frage, inwieweit und wie lange Russland einen empathielosen Diktator ertragen kann, wenn tausende von Soldaten in Särgen nach Hause kommen und noch mehr tausende von Russen – darunter Journalisten, Lehrer, Ärzte, Wirtschaftsexperten, IT-Fachleute – das Land verlassen, weil sie dort leben wollen, wo Freiheit herrscht. Es ist die Freiheit, die Putin am stärksten fürchtet.  Man kann darum verstehen, dass er die direkte Begegnung mit seinem ukrainischen Widerpart ablehnt. Wladimir Putin vermeidet so den GAU seines Images in der russischen Öffentlichkeit.

 

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinett“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

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