Von Wolfgang Bergsdorf

Autor Wolfgang Bergsdorf

Dass jeder Krieg einen Angriff auf die Wahrheit bedeutet, zeigt die „militärische Spezialoperation“ Russlands in der Ukraine auf eine eindringliche Weise. Russland verhängte saftige Strafen für jeden, der auch nur das Wort „Krieg“ benutzt für die Geschehnisse im Operationsraum der russischen Armee. Und wer Meldungen in internationalen Medien über Willkür und Mordlust russischer Soldaten zitiert, muss mit Verleumdungsklagen rechnen. Auf die Justiz und das Lagersystem kann sich der russische Diktator ebenso verlassen wie auf das Parlament und auf Pseudowahlen, die stets die von Putin verlangten Ergebnisse liefern. So wurden denn auch jüngst bei den Regionalwahlen erwartungsgemäß alle 14 Gouverneure wiedergewählt, und Putins Partei erhielt 80 Prozent der abgegebenen Stimmen

Was und wem aber kann man glauben, wenn der Krieg als solcher die Erkenntnis der Wahrheit erschwert und unmöglich macht? Im Falle von Putins Agression bieten sich dem, der die Wahrheit hinter der omnipräsenten Propaganda sucht, zwei wesentliche Hilfen. Die erste ist die Frage nach der Unterscheidung von Täter und Opfer. Hier geben die Ereignisse seit dem 24. Februar eine eindeutige Antwort: Opfer ist die Ukraine, und sie verdient allein deshalb eher Glaubwürdigkeit als Russland mit seiner systematischen Desinformation. Die zweite Frage, die uns bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit weiterhilft, zielt ab auf die Medien. Können Journalisten die Geschehnisse wirklich beobachten und darüber frei berichten?

Natürlich gibt es in jedem Krieg eine militärische Zensur, die die Aufgabe hat, dem Feind keine Vorteile zu verschaffen durch Veröffentlichung militärisch relevanter Fakten. In Russland unterliegt jeder Kriegsbericht wie überhaupt jede Veröffentlichung der staatlichen Approbation, wogegen die Ukraine ausländische Journalisten nicht behindert, sondern ihnen logistische Hilfe gewährt, ohne auf die Inhalte der Berichterstattung Einfluss zu nehmen. Das geht sogar so weit, dass die Universität Oxford mit Hilfe eines Kiewer Institutes repräsentative Umfragen über den Widerstands- und Kampfeswillen der ukrainischen Bevölkerung durchführen und veröffentlichen konnte.

Das ist insofern nicht überraschend, weil es ja die Presse- und Meinungsfreiheit als ein Element der freiheitlichen Demokratie ist, die der russische Diktator in seiner unmittelbaren Nachbarschaft scheut wie der Teufel das Weihwasser. Eine demokratische Ordnung mit ihrem Rechtsstaats- und Wohlfahrtsversprechen ist ansteckend und deshalb gilt die russische Aggression nicht nur der Ukraine und deren unmittelbaren Nachbarn, sondern  auch dem westlichen Gesellschaftsmodell und der Stabilität der dortigen Demokratien. Demokratien gefährden Diktaturen. Denn die russische Bevölkerung könnte ja auf die Idee kommen, dass ihre Führung sie um ihren Rohstoffreichtum betrügt und ihrer  Entwicklungschancen beraubt. Mehr als 100 000 Russen sind schon auf diese Idee gekommen und haben die Flucht ins Ausland angetreten, weil sie weder mit dem Krieg noch mit der Diktatur einverstanden sind.

Das Bild des Kriegsverlaufs, das sich dem kritischen Beobachter bietet, ist alles andere als eindeutig. Aber auch das grenzt schon an ein Wunder. Angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit Russlands an Soldaten und Waffen ist es höchst bemerkenswert, dass die Ukraine nicht längst niedergerungen ist. Nach sieben Monaten Krieg hat Russland nur einen kleinen Teil der Ukraine im Süden und Osten erobert und besetzt. Dabei gelingt es den ukrainischen Truppen mittlerweile sogar immer wieder, kleinere und größere Gebiete zurück zu erobern. Allein in der vergangenen Woche vermochten die Ukrainer, ein Gebiet von der Größe des Saarlandes zurückzuerobern und dabei die russischen Soldaten in eine überstürzte Flucht zu schlagen, bei der sie selbst intakte Panzer und Geschütze zurücklassen mussten. Man kann also feststellen, dass die Gegenoffensive des überfallenen Landes längst begonnen hat. Ihr Erfolg ist nicht zuletzt den westlichen und dabei vor allen den amerikanischen Waffen und Finanzhilfen zu verdanken. Ohne diese würden die imperialistischen Ambitionen des Kreml-Diktators auf keinen Widerstand stoßen.

Und das wiederum ist für Putin der Anlass, Europa und vor allem Deutschland mit der Rohstoffwaffe zu drohen. Er will Europa zermürben und baut auf „General Frost“. Das für Europa bestimmte Gas verbrennt er – wie Satellitenbilder zeigen – lieber und wird so einmal mehr vertragsbrüchig.Die russischen Staatsmedien berichten zur Zeit sehr ausführlich über Demonstrationen in den Ländern der Europäischen Union, in denen linksradikale und rechtsextreme Kräfte gegen die Inflation und die  Explosion der Energiekosten protestieren und die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 verlangen. Berlin hatte das Vorhaben kurz vor dem Start gestoppt, nachdem Putin die „Volksrepubliken“ im Donbass als Staaten anerkannte. Die Anzahl der Pro-Putin-Demonstranten bewegen sich in Hunderter oder einstelligem Tausender Bereich, aber die russischen Medien blasen sie auf zu Massenphänomenen, die einen Politikwechsel unvermeidlich erscheinen lassen.

Putin nahm dazu kürzlich in Wladiwostok auf dem von ihm einberufenen östlichen Wirtschaftsforum Stellung. „Wir sehen, dass jetzt in Deutschland Demonstrationen stattfinden mit der Forderung, Nord Stream 2 einzuschalten. Wir teilen diese Forderung der Verbraucher in Deutschland. Wir sind bereit, das morgen zu machen, man braucht nur den Knopf zu drücken“. Interessant ist Putins Rhetorik von den Verbrauchern, die er in einen Gegensatz zu den Eliten zu bringen versucht. Dem eigenen Publikum soll so signalisiert werden, dass die hausgemachten Probleme in Russland keinen Vergleich zulassen mit den viel dramatischeren Zuständen im Westen. Zudem sollen die Russen mit dieser Rhetorik davon überzeugt werden, dass die sogenannten einfachen Leute im Westen auf Russland setzen. Damit kontrastiert er die westlichen Eliten, die von Russland-Feindschaft durchdrungen seien, mit den russlandfreundlichen Volksmassen.

Europa und vor allem Deutschland hat Putin mit seinem Energiekrieg ins Visier genommen. Er versucht so, Versorgungsnöte und Produktionsengpässe zu erzielen. Er will die Arbeitslosigkeit hochtreiben, soziale Unruhe und kalte Wohnungen bewirken. Er hofft auf gesellschaftliche Unruhen gerade in Deutschland. Der Kreml-Herrscher erfreut sich an der Debatte über die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 als einem Instrument der Spaltung der USA von Europa und Europas von Deutschland. Er reibt sich die Hände über die deutsche Diskussion über die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke. Und: Putin vertraut darauf, dass die Manifestationen der Unzufriedenheit mit dem Regierungshandeln im Westen mächtig werden und russlandfreundliche Parteien davon profitieren.

Tatsache ist, wenn der Westen sich entzweite, würde das Sanktionsregime zusammenbrechen und Putin könnte dann der Ukraine seine Vernichtungswillen aufzwingen. Es ist schon absurd, wenn er behauptet: „Die Sanktionen sind eine Bedrohung für die ganze Welt“. Wladimir Putin will die Welt glauben machen, die Getreide-Lieferungen seien von Sanktionen betroffen. Das ist eindeutig nicht der Fall. Die Sanktionen sind offenbar das einzige, was er wirklich fürchtet. Solange seine Falschaussagen auf Resonanz stoßen, muss man damit rechnen, dass die Schiffsroute für die ukrainischen Getreideexporte in den Süden wieder blockiert wird.

Putin ist als eingefleischter Geheimdienstoffizier ein von Verschwörungsmythen geprägter Mensch. Für ihn bedeuten Regeln – selbst wenn er sie erst kürzlich selbst vereinbart hat – nichts. Das vor allem macht den Umgang mit ihm so schwierig. Man weiß nie, woran man bei ihm ist. Und gerade das ist es, was ihm so gefällt. Vermutlich gefällt es ihm jetzt, wenn wir intensiv über unsere Nöte im Winter diskutieren und dabei die brutalen Fakten des Kriegsgeschehens in der Ukraine in den Hintergrund treten lassen. Aber für alle Probleme, die uns bewegen, gibt es einen einzigen Urheber. Das ist der Kriegsherr im Kreml.

Man muss sich bei aller Sorge um steigende Energiepreise und Lebenshaltungskosten klarmachen, dass der Preis, den wir für diesen Krieg in der Ukraine zahlen, in Geld gemessen wird. NATO-Generalsekretär Stoltenberg hat Recht, wenn er feststellt, dass der Preis, den die Ukrainer zahlen, in Leben bemessen wird. Wenn Russland die militärischen Auseinandersetzungen beendet, werden die Waffen schweigen. Wenn die Ukraine den Kampf beenden muss, wird es keine unabhängige Ukraine mehr geben. Dieser grundsätzliche Unterschied macht sich natürlich auch bei der Moral der Soldaten bemerkbar. Während die Ukrainer für ihre Freiheit kämpfen, haben viele russischen Soldaten keine Idee, warum sie in der Ukraine sind. Immer wieder gibt es Zeichen der Ermutigung, die ihren Weg aus Russland in die westlichen Medien finden. In der vergangenen Woche haben sieben Stadtbezirksverordnete in Sankt Petersburg ihre Lagebeurteilung in einem Antrag an die Duma in Moskau zusammengefasst: Putin sei seines Amtes zu entheben, weil die „Spezialoperation“ Russlands Sicherheit verletze und Anzeichen eines Staatsverrats aufweise. Kampffähige Einheiten der Armee würden vernichtet, junge arbeitsfähige Russen würden getötet oder zu Invaliden geschossen. Russlands Wirtschaft leide, die NATO werde erweitert, die Ukraine erhalte Waffen anstatt wie von Putin angestrebt entmilitarisiert zu werden.

Die Polizei hat sich dieser Lokalpolitiker angenommen und beschuldigt sie der Diskreditierung der Armee. Ihr Mut ist zu bewundern. Vielleicht findet der Diktator jemanden, dem er die Schuld für das allein von ihm zu verantwortende Desaster zu schieben kann. Für das Scheitern der militärischen Anstrengungen böte sich Verteidigungsminister Schoigu als Bauernopfer an. Britische Quellen melden seit Tagen, dass er bei seinem Herrn in Ungnade gefallen sei.

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