Von Wolfgang Bergsdorf

Wolfgang Bergsdorf

Ein Jahr dauert nun schon der Krieg, den Wladimir Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 entfacht hat. Schon davor gab es acht Jahre im gleichen Land einen verdeckten Krieg, in dem Russland die Krim annektierte und im Kohle- und Industriezentrum Donbass militärische Konflikte auslöste. Es ist dem Jahrestag dieses unerklärten, völkerrechtswidrigen und jeder Logik Hohn sprechenden Krieges geschuldet, eine erste Bilanz zu ziehen und dabei möglichst viele Dimensionen dieser asymmetrischen Auseinandersetzung zu berücksichtigen.

 Der erste Aspekt ist die „Asymmetrie“ der Konfliktparteien. Russland ist eine Nuklearmacht mit 1,3 Millionen Soldaten und einer Bevölkerung von 140 Millionen. Die Ukraine hat ihre Atomwaffen 1994 Russland übergeben – gegen die Zusicherung ihrer territorialen Integrität. Bei 40 Millionen Einwohnern stellt sie 500.000 Soldaten. Die russische Überlegenheit gegenüber der Ukraine bei den militärischen Mitteln beträgt also mehr als zehn zu eins. Dem Aggressor ist es bisher gelungen, das Kampfgebiet im Wesentlichen auf die Ukraine zu beschränken und nach der Krim auch im Donbass einige Gebiete der Ukraine zu annektieren. Durch Raketen, Drohnen und Bomben zerstörte Kirchen, Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten, Wohnsiedlungen, Verwaltungsgebäude und Infrastruktureinrichtungen wie Elektrizitäts- und Wasserwerke gibt es nur auf dem Gebiete der Ukraine.

Die Ukraine hat bisher etwa 7000 zivile Todesopfer zu beklagen, darunter einige 100 Kinder und deutlich mehr als 100.000 zivile Verletzte. Die Zahl der gefallenen Soldaten hält Kiew geheim. Aus vereinzelten Angaben kann geschlossen werden, dass bisher mindestens 13.000 ukrainische Kämpfer getötet wurden. Eine Washingtoner Quelle geht von 100.000 Gefallenen der Ukraine aus. Genaue Zahlen der getöteten russischen Soldaten sind ebenfalls nicht bekannt. Nach unbestätigten Kiewer Angaben liegen sie bei mindestens 135.000. In Brüssel und Washington hält man freilich deutlich höhere Zahlen für realistisch. Norwegen meldet 180 000 russische Gefallene.

Putins Überfall hat auch gewaltige Fluchtbewegungen ausgelöst. Vor den russischen Bomben flohen rund 4 Millionen Ukrainer in den westlichen Teil des Landes und weitere 4 Millionen ins westliche Ausland. 1,6 Millionen Ukrainer wurden von Polen aufgenommen.  Nach Deutschland sind mehr als 1 Million Ukrainer geflüchtet, eine halbe Million hat in Tschechien eine sichere Zuflucht gefunden. Aber Putins Krieg hat auch mehr als 1 Million Bürger Russlands ins Exil getrieben. Es sind vor allem junge Männer, die vor der Mobilmachung flohen. Dazu kommen Kriegsgegner, die sich um die Zukunft ihres Landes sorgen und kein Vertrauen in die aktuelle Führung haben. Wladimir Putins diktatorisches Regime spart so die Kosten für das Einkerkern der Kreml-Kritiker. Der Kreml-Diktator signalisiert damit seiner Bevölkerung allerdings auch, dass er seine politische Zukunft mit dem Kriegserfolg verbindet. Indem er jeden Hauch von Kritik mit Strafe bewehrt, zeigt er der Welt, dass Gewalt das bevorzugte Mittel seines politischen Handelns ist.

Über die Motive der Ukrainer, in diesem Konflikt zu den Waffen zu greifen, muss nicht lange spekuliert werden. Russland hat sein Nachbarland angegriffen, und die Ukraine nimmt das selbstverständliche Selbstverteidigungsrecht für sich in Anspruch. Das Völkerrecht gestattet es dem angegriffenen Land, Waffenhilfe aus anderen Ländern zu beziehen, um sich effektiv gegen die Invasoren zur Wehr zu setzen. Die Ukraine benötigt diese Waffenhilfe existenziell. Ohne sie wäre der Widerstand schon nach wenigen Wochen zusammengebrochen. Dem Westen muss daran gelegen sein, dass die Ukraine trotz der russischen Überlegenheit den Krieg nicht verliert. Der Quantität der russischen Angriffe kann nur eine Qualität der ukrainischen Verteidigung entgegengestellt werden.

Die russischen Luft-, Raketen-, und Artillerieattacken sind zehnmal häufiger als die ukrainischen Gegenangriffe, die dank der westlichen Waffenhilfe allerdings wirkungsvoller sind. Dabei spielt natürlich auch die fundamental stärkere Motivation der ukrainischen Verteidiger eine wichtige Rolle. Die Russen hingegen haben mit es mit Desertationen zu tun und mit mangelnder Kampfbereitschaft. Dies kann niemanden verwundern, der sich an die von beiden Seiten früher immer wieder betonte Verwandtschaft dieser Völker (Russen und Kleinrussen) erinnert und an die gemeinsame historische Herkunft vom Kiewer Russ.

Wenn man sich an die Erklärungen erinnert, mit denen Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen suchte, dann treten unterschiedliche, manchmal auch widersprüchliche, alles in allem aber inkonsistente Motive zutage. 2014 ging es ihm um die „Heimholung der Krim“ und um den „Schutz der russisch sprechenden Bevölkerung“ im Donbass. Ab 2020 lautete Sprachregel: Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine. Wie im Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion gegen Nazideutschland so soll auch heute erneut Patriotismus und Kriegsbereitschaft gegen die demokratisch gewählte, allerdings als neonazistisch diffamierte Regierung in Kiew erzeugt werden. 2022 kam eine weitere Begründung hinzu – wohl unter dem Einfluss des Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche Kyrill.: Ent-Satanisierung. Dieser Propaganda-Begriff geht wie folgt: In der Ukraine herrsche der Satan, der Drang des Landes nach Westen bedeute eine Abkehr vom russischen Wertekanon und eine Zuwendung zur Homosexualität und anderen sexuellen Verirrungen, die zum Markenzeichen der westlichen Kultur geworden seien.

Die militärische „Spezialoperation“ Russlands soll (im Denkmodus Putins wie des Patriarchen Kyrill) das Bruderland wieder auf den rechten Weg führen. Ganz sicher gibt es viele Menschen in Russland, die unter dem Trommelfeuer der gleichgeschalteten Medien diese Begründungen glauben. Ob alle diese Menschen freilich tatsächlich bereit sind, für die politischen Ziele des Krieges ihr eigenes Blut oder das ihrer Söhne einzusetzen, ist noch einmal eine andere Frage. Weil es aber weder eine freie Presse noch Opposition, noch zuverlässige Demoskopie in Russland gibt, ist jeder Beobachter auf mehr oder weniger zufällige Eindrücke angewiesen. Aber alle Indizien weisen darauf hin, dass die Kriegsbereitschaft in Russland nicht besonders ausgeprägt ist – abgesehen die der Sträflinge, die sich für den Kriegsdienst die Freiheit erkaufen können. Der Prozentsatz der Gefallenen ist bei ihnen allerdings besonders hoch.

Zu den „Vorteilen“ einer Diktatur gehörte es, dass sich die Regierenden keinen Wahlen stellen müssen. Insofern bieten die Zahlen der Gefallenen für Russlands Gewaltherrscher keinei Gefährdung seiner Machtposition. Das Gleiche gilt für den Niedergang der wirtschaftlichen Eckdaten oder für die internationale Isolation des Landes. Wladimir Putin erlebte 2011 einen Kipp-Punkt seiner Herrschaft. Bis dahin hatte er die Wahlen stets gewonnen. Im Präsidentschaftswahlkampf 2011 gab es gegen seine erneute Kandidatur erstmals millionenfachen Protest. Deshalb nahm er seinerzeit Zuflucht in Wahlfälschungen, um sich an der Macht zu halten. Auch schon zuvor hatte er die (für sich erfreuliche) Erfahrung machen können, dass die erfolgreiche Anwendung nackter Gewalt gegen einzelne Kritiker (Alexei Nawalny) oder Völker (Tschetschenen und Georgier) seine Popularität nicht behindert, sondern sogar noch erhöht.

Auf diesen Mix aus Gewalt und Popularität vertraute Putin nach 2011 – von den Fesseln demokratischer Wahlen befreit – noch stärker. Die Annexion der Krim trieb seine heimischen Beliebtheitswerte in schwindelerregende Höhen, befeuert auch vom unerklärten Krieg im Donbass.  2022 konnte er deshalb den Angriffsbefehl auf die Ukraine in der Annahme geben, dass die militärische Gewalt sein persönliches Ansehen bei seinen Landsleuten wiederum steigen lassen würde. Ob diese Erwartung freilich erfüllt wurde angesichts des erheblichen und dauerhaften Widerstandes der Ukrainer, angesichts des hohen Blutzoll Russlands und des ökonomischen Niedergangs seines Landes, ist offen. Immerhin hat sein Angriffskrieg es geschafft, dass zwei bisher traditionell neutrale Länder, nämlich Finnland und Schweden, die Mitgliedschaft in der NATO beantragten. Sie vertrauen auf die Verteidigungsgarantie des Bündnisses, nachdem Putin die ohne jeden Respekt vor dem Völkerrecht explosive Aggressivität seines Landes mehrfach unter Beweis gestellt hat – zuletzt mit seiner zuvor immer wieder bestrittenen Angriffsabsicht auf die Ukraine.

Die russische Aggression dauert an. Sie kostet täglich hunderte von Menschenleben, zerstört die Infrastruktur der Ukraine und ruiniert ihre Wirtschaft. Das Bruttoinlandsprodukt ist 2022 um 30 Prozent geschrumpft. Um die staatlichen Institutionen der Ukraine am Leben zu erhalten und die Gehälter des Personals zu finanzieren, bringen die USA und die Europäische Union viele Milliarden Dollar auf. In diesen Wochen wurde die militärische Unterstützung der Ukraine durch die NATO noch einmal intensiviert. Auch Deutschland wird modernste Panzer, neueste Raketenwerfer und weitere Luftverteidigungssysteme liefern. Vor allem auch Munition, an der es den Verteidigern besonders mangelt. Man kann nur hoffen, dass die ukrainische Armee in dieser schweren Zeit neue wirksame Waffen aus westlicher Produktion einschließlich ausreichender Munition bekommt, um u.a. die Stadt Buschta wirkungsvoll verteidigen zu können, die schon einmal schauriger Schauplatz der vielen russischen Kriegsverbrechen war.

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

 

 

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