Von Wolfgang Bergsdorf

Wolfgang Bergsdorf

Erstmals hat unlängst der russische Präsident Wladimir Putin in einer öffentlichen Rede die Wirksamkeit der Sanktionen eingeräumt, die von den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union wegen des von ihm befohlenen Angriffskrieges verhängt worden waren. Vor allem der Verzicht der Europäer auf russische Gas- und Öllieferungen und der Ausschluss Russlands vom Handel mit Hochtechnologieprodukten haben negative Auswirkungen auf die heimische Wirtschaft. Auch wenn es bisher eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit gegenüber den westlichen Strafmaßnahmen gegeben hatte, so rechnet die russische Führung künftig doch mit deutlicheren Einschränkungen.

Obwohl Putin weiß, welches Geschenk er der westlichen Propaganda mit diesem Eingeständnis macht, hält er es für wichtiger, seine eigene Bevölkerung auf Kürzungen vorzubereiten. Dem Kleptokraten im Kreml ist das Wohlergehen seiner Untertanen zwar weniger wichtig als das Verfolgen seiner imperialistischen Ziele. Für diese opfert er bedenkenlos das Leben seiner Soldaten. Das ukrainische Verteidigungsministerium spricht von 170.000 Gefallenen und Verwundeten auf russischer Seite. Nachprüfen lassen sich solche Zahlen im aktuellen Kriegsgeschehen nie. Das Conflict Intelligence Team, eine rein russische Nichtregierungsorganisation mit neuem Sitz in Tiflis, die sich zur Aufgabe gemacht hat, die russische Armee an allen Einsatzorten quantitativ und qualitativ zu bewerten, nennt die Zahl von 270.000 Verwundeten und Gefallenen. Deren Familien werden großzügig aus dem Staatshaushalt alimentiert. Je stärker die Sanktionen die russische Wirtschaft einschnüren, desto mehr sind freilich auch diese Leistungen an die Kriegerwitwen und Invaliden gefährdet.

Der Krieg in der Ukraine, der in Russland so nicht heißen darf, sondern „Spezialoperation“ genannt werden muss, tobt nicht nur in den Dörfern und Städten auf dem ukrainischen Territorium, sondern ebenso im globalen Netz. Auch hier sind Tausende von Hackern unterwegs, um weltweit das russische Bregründungs-Narrativ für den Überfall auf die Ukraine durchzusetzen. Wie dies im Einzelnen gelingt oder auch misslingt, offenbaren die Vulkan-papers. In diesen Tagen hat die Süddeutsche Zeitung anhand von „durchgestochenen“ Dokumenten aus einer russischen IT-Firma namens Vulkan einen Einblick gewinnen können in den Cyberkrieg, mit dem Russland die Ukraine attackiert.

Die Unterlagen reichen bis zum Jahre 2021, die Intensität und der Umfang der Cyberangriffe waren auch schon vor dem Überfall Russlands beachtlich. Seit dem Februar 2022 sind sie jedoch noch einmal gewaltig gesteigert worden. Natürlich sind Cyber-Attacken keine Spezialität Russlands. Wir erinnern uns an den „Whistlerblower“ Edward Snowden, der 2013 geheime Unterlagen des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes NSA in die Öffentlichkeit gebracht hatte. Aus ihnen ging hervor, dass die Amerikaner, aber auch die Briten, in der ganzen Welt Kommunikationssysteme systematisch überwachten. Sogar das Handy der deutschen Kanzlerin Angela Merkel wurde abgehört. Ihre Reaktion damals: „Abhören“ unter Freunden geht gar nicht. Der Vorgang ist zurzeit im Bonner Haus der Geschichte sehr schön aufbereitet.

Bei den Moskauer Cyberangriffen geht es allerdings nicht allein um Abhören. Kein Land hat so verheerende Angriffe gegen die Infrastrukturen anderer Länder ausführen lassen wie Russland. Und kein Land war schon vor dem russischen Überfall so oft Ziel dieser Attacken wie die Ukraine. Russische Cyberkrieger griffen 2015, im Jahr nach der Annexion der Krim, das Finanzministerium in Kiew an, dazu die Eisenbahngesellschaft und vor allem die Energieversorger. Damals wurde mit einem Schadprogramm namens black energy ein Stromausfall verursacht, der 700.000 Menschen in der Ukraine betraf.

2017 wurde eine ukrainische Buchhaltungs-Software mit einem Trojaner infiziert, der die Geldautomaten in der Ukraine ausschaltete und später auf der ganzen Welt Computersysteme beeinträchtigte. Die Containerschiffe der dänischen Reederei Maersk konnten nicht weiterfahren, weil ihre digitalen Systeme nicht mehr funktionierten. Der wirtschaftliche Schaden allein dieses Angriffs wurde auf 9 Milliarden Euro weltweit geschätzt. Diese Attacke galt als die bisher verheerendste in der Geschichte, und sie hat der Welt verdeutlicht, was der digitale Krieg anrichten kann, ohne dass ein einziger Schuss fällt.

Über das, was auf dem digitalen Gefechtsfeld in der Ukraine geschieht, wissen wir wenig. Die ukrainischen Verantwortlichen für die Cybersicherheit lassen jedoch erkennen, dass sich die Zahlen der Angriffe seit Beginn des Überfalls auf die Ukraine vervielfacht haben. 2022 hat das größte ukrainische Telefon- und Internetunternehmen mehr als 1 Million Angriffe registriert, die meisten davon konnten automatisch abgewehrt werden. Einige aber auch nicht. So hatten im Dezember 2022 eine Million Kunden ihre Verbindung mit dem Internet verloren. Bisher ist es den ukrainischen Technikern wie bei der Stromversorgung so auch bei der Telekommunikation immerhin stets gelungen, den durch russische Raketen- oder Cyberangriffe verursachten Schäden relativ rasch wieder zu beseitigen.

Der Überfall auf die Ukraine muss auch dringend die deutsche Politik dazu bringen, Vorsorge vor russischen Cyberattacken zu treffen. Natürlich bleibt es richtig, dass die Digitalisierung große Chancen eröffnet. Gleichzeitig nehmen aber die Bedrohungen zu. Auch in Deutschland steigt die Zahl der Cyberangriffe ständig. Der Branchenverband Bitkom schätzt den dadurch entstandenen Schaden allein in Deutschland auf 200 Milliarden Euro pro Jahr. Je mehr Lebensbereiche digitalisiert werden, desto lohnenswertere Ziele bieten sich den Cyberkriminellen an. Deshalb verlangen Haja Shulman und Michael Waidner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. April, die Cybersicherheit genauso schnell weiterzuentwickeln wie die Informations- und Kommunikationstechnologien.

Die beiden Autoren sind führende Experten von Athene, dem nationalen Forschungszentrum für angewandte Cybersicherheit in Darmstadt, das zur Fraunhofer Gesellschaft gehört. Athene ist das größte Forschungszentrum für Cybersicherheit und Privatsphärenschutz in Europa. Es begleitet und unterstützt die Digitalisierung der Wirtschaft, der Gesellschaft und der öffentlichen Hand in einem bisher einzigartigen und innovativen Kooperationsmodell von universitärer und außeruniversitärer Forschung. Dort wird anwendungsorientierte Spitzenforschung betrieben, um Sicherheitslösungen für Wirtschaft und Verwaltung zu entwickeln und Startups zu unterstützen.

Cybersicherheitslösungen setzen Vertrauen voraus. Dieses verlangt nicht nur höchste Qualität der Hard- und der Software und Vertrauenswürdigkeit der Hersteller und Dienstleister. Wie schwierig das ist, wird erkennbar an der jetzt wieder in Gang gekommenen Debatte um den chinesischen Konzern Huawei. Kein Mensch weiß, ob seine Smartphones nicht aufgrund des Zwanges der chinesischen Führung,die Kunden ausspionieren können.

Die amerikanische Debatte über die Gefahren digitaler Produkte chinesischer Provenienz ist längst nach Europa übergeschwappt und beschäftigt die Cybersicherheits-Szene. Hierzulande ist der Bedarf an Forschung und Entwicklung auf diesem Feld groß. Der Markt wächst mit 13 Prozent im Jahr viel stärker als der IT-Bereich. Von den 150 besten Cybersicherheitsfirmen der Welt kommen 116 aus den USA und 14 aus Israel und   k e i n e   aus Deutschland. Das muss sich ändern, weil Deutschland ein großes Potenzial zu bieten hat. Israel zum Beispiel hat die Fraunhofer-Gesellschaft eingeladen, in Jerusalem eine Dependance des Forschungszentrums Athene zu errichten.

Auch VW hat in Tel Aviv ein eigenes Cybersicherheitsunternehmen gegründet, und die Telekom unterhält in Beer Shiva ein Forschungszentrum für Cybersicherheit. Denn Israel ist eine der ersten Cybernationen der Welt. Dieses Land, das seit seiner Gründung immer wieder militärisch angegriffen wurde und wird, hat als erstes erkannt, wie eng militärische und digitale Sicherheit zusammenhängen. Die Innovationen in diesem Bereich gingen vor allem von dem Militär aus. Die Israelis werden schon während ihrer für alle verpflichtenden Militärzeit mit den Herausforderungen der digitalen Sicherheit konfrontiert. Die Besten arbeiten dann in Einheiten, die sich auf Cybersicherheit spezialisieren und bleiben nach dem Wehrdienst in diesem Bereich tätig.

Deutschland hat einen großen Nachholbedarf an Cybersicherheit, obwohl es in der Sicherheitsforschung eine starke Stellung hat. Es geht jetzt darum, dieses Potenzial für Innovationen zu unterstützen, um die digitale Sicherheit des Landes zu stärken und sich unabhängiger von ausländischen Dienstleistern zu machen. Seitdem Bundeskanzler Scholz die Zeitenwende ausgerufen hat, um nach der russischen Aggression 100 Milliarden Euro zusätzlich in die Bundeswehr zu investieren und sie für ihre eigentliche Aufgabe zu ertüchtigen, ist von den neuen Mitteln bei der Truppe noch nicht viel angekommen. Im Gegenteil: durch die massive Unterstützung für die ukrainische Verteidigung wurde sie weiter ausgelaugt.

Es ist jetzt höchste Zeit für eine gründliche Erneuerung und Ausbau der Bundeswehr einschließlich einer wirksamen Cyber-Abwehr. Die Digitalisierung des Landes muss ebenso vorangetrieben werden wie die Entwicklung von digitalen Sicherheitssystemen. Der Genuss der Friedensdividende nach 1991 war für Deutschland teuer genug. Es hat uns ein gutes Stück unserer sicherheitspolitischen Glaubwürdigkeit gekostet, weil unsere Augen vor der sich abzeichnenden Gefahr durch das imperialistische Russland verschlossen blieben.

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

- ANZEIGE -