Putin in der Schlechtwetterzone
Von Günter Müchler
Monatelang bewegte sich Wladimir Putins Russland in einer scheinbar stabilen Schönwetterzone: Geländegewinne im Donbass, fortschreitende Zerstörung der zivilen Infrastruktur der Ukraine, Zermürbung ihrer militärischen Widerstandskraft, Ernüchterung und Ermüdung bei ihren Unterstützern. Inzwischen hat der Wind gedreht, und die politische Meteorologie notiert für Russland Starkregen mit Sturmböen. Verantwortlich für den Umschlag sind drei weit auseinander liegende Wetterereignisse, die der Despot im Kreml allesamt nicht auf der Rechnung hatte. Zuerst kam die Wende in Washington nach Joe Bidens Rückzugserklärung, dann die Kursk-Offensive der Ukraine, schließlich das Ja der SPD-Parteiführung zur Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland.
Die Kursfestlegung der SPD-Spitze war ein Kraftakt, den ihr nur die wenigsten zugetraut hatten. Zuletzt schienen die Sozialdemokraten in die gegensätzliche Richtung zu segeln. Da war die Plakatkampagne „Frieden sichern. SPD wählen“ im Europa-Wahlkampf. Alarmierende Wasserstandsmeldungen aus dem Osten Deutschlands erweckten den Eindruck, die AfD-Woge „Verständnis für Putin“, „Vorrang für Verhandlungen“ und „Alles für Deutschland“ werde die SPD verschlingen, wenn sie sich ihr nicht anschließe.
Auf dem Kamm dieser Woge surfte schon länger der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Rolf Mützenich war von Scholz‘ Zeitenwende 2022 kalt erwischt worden. An Militärhilfe für die überfallene Ukraine konnte sich der Befürworter einer wertegebundenen Politik ungefähr so viel vorstellen wie die einstige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, nämlich die Lieferung einer Charge Stahlhelme. Lambrechts Nachfolger Boris Pistorius ist in den Augen von Mützenich ein Unglück. Dass dieser Pistorius mittlerweile sogar der populärste Berliner Minister ist, stimmt Mützenich nicht milde. Pistorius Beliebtheit bedroht in seinem Politikverständnis vielmehr die historische Berufung der SPD, Schwerter auch dann noch in Pflugscharen umzuschmieden, wenn die Aggressoren dieser Welt das genaue Gegenteil tun.
Unter Putin hat Russland sein Mittelstreckenarsenal ausgebaut. Das war nie ein Geheimnis, schien aber hierzulande Politik und Öffentlichkeit kaum zu bekümmern. Nuklearfähige Raketen stehen in Kaliningrad und Weißrussland. Sie sind außer auf Polen und die baltischen Staaten auch auf Deutschland gerichtet. Die Verabredung von Scholz und Biden, dieser Bedrohung etwas entgegenzusetzen und ab 2026 amerikanische Raketen größerer Reichweite in Deutschland zu stationieren, wird von Mützenich und anderen Parteilinken als Spiel mit dem Feuer verdammt.
Schon in den achtziger Jahren hatte sich die damals stark friedensbewegte SPD mehr vor den angedachten amerikanischen Pershings als vor den real existierenden sowjetischen SS-20 gefürchtet („lieber rot als tot“). So groß war die Furcht, dass man den Sturz Helmut Schmidts, des Bundeskanzlers aus den eigenen Reihen, für das kleinere Übel ansah. Mit dem aktuellen Raketenbeschluss will der SPD-Vorstand (von dem man gern wüsste, wie einzelne Mitglieder argumentierten) verhindern, dass die Partei Olaf Scholz ähnlich im Regen stehen lässt wie sie einst mit Helmut Schmidt tat.
Die Nachrichten aus dem Berliner Willy-Brandt-Haus werden Putin im Moskauer Kreml nicht erfreut haben. Sie erreichen ihn zudem zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Der ukrainische Einbruch in das Kursker Gebiet ist wohl nicht die große Wende im osteuropäischen Krieg und, obwohl militärisch clever geführt, durchaus riskant für die ukrainische Seite. Die Gefahr für Putin besteht vor allem in der politisch-psychologischen Wirkung. Ein Kriegsherr, der zugeben muss, einen spektakulären Zug des Gegners nicht vorhergesehen und daher nicht verhindert zu haben, hat einen Wirkungstreffer kassiert.
Es ist nicht der erste für Putin. Seine „Spezialoperation“ mit Blitzkrieg-Optik war ein krasser Fehlschlag. Zwei Jahre nach dem Überfall arbeiten sich die russischen Streitkräfte noch immer an der ukrainischen Peripherie ab. Der Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung ist hässlich, brutal und spricht dem heroischen Anspruch Hohn. Und nun stehen die Truppen jenes Staates, dem Moskau die Existenzberechtigung abspricht und dessen Bevölkerung angeblich nichts sehnlicher wünscht als die Heimkehr an den Busen der Mutter Russland, sogar auf geheiligtem russischen Boden.
So hatte man sich in Moskau die „Spezialoperation“ nicht vorgestellt – in Russland nicht und schon gar nicht im sympathisierenden Umfeld, beispielsweise in Peking. Das dortige kommunistische Regime unterstützt Putin, weil dieser die rasche Liquidierung der Regierung in Kiew und die Schwächung des Westens als die zwei Seiten ein und desselben Plans propagierte. Der Plan besteht unverändert. Die Planerfüllung ist nach der ukrainischen Offensive noch zweifelhafter geworden. Putin wird sich Fragen anhören müssen.
Dass sich in den Vereinigten Staaten die Demokratische Partei selbst kurz vor zwölf wieder ins Spiel gebracht hat, ist ein weiterer Schlag, den Putin verkraften muss. Es lief ja alles so schön für Donald Trump. Seine Rückkehr ins Weiße Haus schien wie ausgemacht. Sie ist auch jetzt keineswegs ausgeschlossen. Aber durch die Übernahme der Präsidentschaftskandidatur durch Kamala Harris ist das Rennen wieder offen. Sehr zu Putins Verdruss. Denn zu Recht erwartet er von einem Präsidenten Trump amerikanische Selbstbezogenheit, die die Unterstützung der Ukraine abstößt wie ein unrentierliches Investment und das transatlantische Bündnis untergräbt. Bei einem Sieg von Harris müsste er beide Hoffnungen begraben.
In dieser Gemengelage dürfte Putin die überraschende Kursbestimmung der SPD doppelt ärgern. Nicht dass er die deutsche Sozialdemokratie für einen Player im Weltmaßstab hielte. Aber er glaubte wohl doch, sich – wie im Übrigen die sowjetischen Generalsekretäre bis zurück zu Leonid Breschnew – auf die innere Distanz der SPD zum Wert der Abschreckungspolitik verlassen zu können. Hält die SPD (gegen Widerstände, die nicht aufhören werden) an ihrem Ja zur Stationierung westlicher Mittelstreckenraketen fest, wäre Putins deutsche „Wagner-Truppe“ auf Kämpfer wie Björn Höcke und Sarah Wagenknecht geschrumpft. Das Wetter in Moskau war schon einmal sonniger.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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