Günter Müchler

 Von Günter Müchler

Lange hat sich der Bundeskanzler mit der quälenden Personalie Zeit gelassen. Die Karnevalisten am Rhein waren schon dabei, Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht als todsichere Lachnummer in ihr Umzugsprogramm einzubauen. Da entschloss sich Olaf Scholz endlich, zur Tat zu schreiten. Mit seiner „letzten Patrone“, so der stellvertretende FDP-Chef-Wolfgang Kubicki, hat er möglicherweise ins Schwarze getroffen. Boris Pistorius, dem neuen Bundesverteidigungsminister, ist zuzutrauen, dass er die Bundeswehr in die neue Zeit zu führt. Vorausgesetzt, die SPD und der Kanzler lassen ihn. Denn der Auftakt ging schon mal daneben.

Pistorius muss einen Kaltstart hinlegen. Zeit zur Einarbeitung hat er nicht. Die NATO steht in der Ukraine-Politik an einem kritischen Punkt. Entscheidungen müssen her. Und wie immer sie ausfallen, die Bundeswehr muss damit fertig werden. Die notleidenden deutschen Streitkräfte befinden sich in der ungemütlichen Lage eines Patienten, der nach langem Siechtum auf die Beine kommen soll, von dem aber erwartet wird, dass er während der Rekonvaleszenz von seinen ohnehin schwachen Kräften sogar noch an andere abgibt. Pistorius muss das Kunststück fertigbringen, beide Ansprüche in Einklang zu bringen, ohne dass der Patient stirbt.

Der Kaltstart ist für den neuen Mann nicht unbedingt eine Hypothek. In Berlin weiß jeder, dass Pistorius eine Herkulesaufgabe vor sich hat. Er muss das Unternehmen Bundeswehr aus der Zone tiefroter Zahlen herausholen, in die es seine Vorgänger hineinmanövriert haben.  Peter Struck (2000 – 2005) gilt bei vielen in der Armee als der letzte respektheischende Verteidigungsminister. Karl Theodor zu Guttenberg (2009 – 2011) konnte ihm schon deshalb nicht das Wasser reichen, weil er die Bundeswehr für überflüssig hielt. Dass der CSU-Mann Guttenberg in der ewigen Bestenliste der Verteidigungsminister den letzten Platz nicht sicher hat, verdankt er nur seiner Nach-nach-nachfolgerin Christine Lambrecht von der SPD, die mit ihm um die Rote Laterne wetteifert.

Lambrechts Amtszeit war ein einziges Missverständnis. Verteidigungsministerin hatte sie nicht werden wollen. Sie wurde es doch, weil nach dem Geschlechtskataster des Ampelbundes noch ein feminines Grundstück zu vergeben war. Olaf Scholz ließ, um seinen Ruf als „intersektionaler Feminist“ nicht zu gefährden, alle Fünf gerade sein und übertrug die Verantwortung für die Streitkräfte einer Frau, die dafür weder Interesse noch Eignung mitbrachte. Als Lambrecht kurz nach dem russischen Einfall der Ukraine zur Stabilisierung der Front 5000 Helme anbot, wurde ihr fälschlicherweise ein Scherz unterstellt. Sie meinte es ernst. Es folgte eine Serie von Fehlleistungen und Geschmacklosigkeiten. Der Gipfelpunkt war erreicht, als sie ein Silvester-Video postete, mit viel Raketenknallerei im Hintergrund, und dabei über die Ukraine plauderte. Schon da war das Urteil über sie gesprochen.

Pistorius kann es nur besser machen als seine Vorgängerin. Es ist beflügelnd, das zu wissen. Aus Berliner Warte kommt der Niedersachse aus der der zweiten Reihe. Indessen hat er sich als langjähriger Innenminister in Hannover einen guten Namen gemacht. Er gilt als pragmatisch und durchsetzungsstark. Olaf Scholz wird ihn unterstützen. Nach dem Lambrecht-Flop kann er gar nicht anders. Was die SPD-Bundestagsfraktion angeht, wird man sehen. Der linke Flügel hat die persönliche Wende des Bundeskanzlers, die dieser gern als Zeitenwende bezeichnet, noch immer nicht verdaut. Nach außen verhält man sich schweigsam, was nicht loyal bedeuten muss. Pazifisten wie Fraktionschef Rolf Mützenich pflegen gegenüber der Bundeswehr ein Un-Verhältnis. Sie glauben noch immer, das Reich der Sowjetunion sei unter dem Druck der Friedensdemonstrationen im Bonner Hofgarten zusammengebrochen.

Der neue Verteidigungsminister wird seine Parteifreunde davon überzeugen müssen, dass die Streitkräfte nicht nur schulterklopfende Zuwendungen brauchen, sondern auch materielle Zuwendung. Sie sind die Streitkräfte unseres demokratischen Staates. Dessen Werte werden im Ernstfall nicht von einem Heer von Gleichstellungsbeamten verteidigt werden können. Und dass der Ernstfall alles andere als eine Fata Morgana ist, die notorische Bellinzisten fabriziert haben, beweist Putins Russland jeden Tag.

Der Kremlchef habe, sagt man, durch seine Aggression den Westen enger zusammenrücken lassen. Dies trifft für den Augenblick zu. Das endgültige Urteil wird gesprochen, wenn der Krieg, der demnächst in sein zweites Jahr geht, beendet sein wird. Viel spricht dafür, dass er jetzt in seine entscheidende Phase eintritt. Alle Fachleute rechnen mit einer großen russischen Frühjahrsoffensive, gestützt auf die Resultate der Teilmobilmachung und eventuell aktiv unterstützt von Weißrußland. Putin kann sich Rückschläge wie im vergangenen Jahr nicht noch einmal leisten. Wenn er schon den Widerstandswillen der Angegriffenen nicht brechen kann, wird er alles daran setzen, so viel vom ukrainischen Territorium unter Kontrolle zu bekommen, dass er in einem Friedensvertrag seine langfristigen Ziele durchsetzen kann: die Abspaltung der Ostukraine sowie die Demilitarisierung und Neutralisierung der Restukraine. Sollte dieser Fall eintreten, wäre die Ukraine nicht der einzige Verlierer. Am Westen, vor allem aber an den Europäern, würde auf lange Sicht der Makel haften bleiben, nicht genug getan zu haben.

Scholz muss wissen, dass dieser Makel besonders an Deutschland hängenbleiben würde. Deutschland hat in den vergangenen Wochen die Führungsrolle, die auch der SPD-Co-Vorsitzende Lars Klingbeil angemahnt hatte, nicht angenommen. In der Summe hat die Bundesrepublik der Ukraine viel Material geliefert, aber immer nur unter Druck. Das Zaudern schält sich als die eigentliche Methode des Scholz´schen Regierungshandelns heraus. Die Folge ist die Entwertung dessen, was geleistet worden ist. Auf der Unterstützer-Konferenz von Ramstein gab Berlin abermals ein schlechtes Bild ab. Statt Farbe zu bekennen, setzte Scholz in der Frage der Lieferung von Kampfpanzern  das Ratespiel: „Bin ich ein Bremsklotz oder nicht?“ mit unverminderter Lust fort. Er nötigte seinen beklagenswerten neuen Verteidigungsminister zu der maximal törichten Ausrede, erst einmal müsse gezählt werden, wie viele Leo-Panzer man überhaupt habe. Gleich am zweiten Tag der Amtszeit den Jokus des Jahres zu liefern – so hatte sich Pistorius den Auftakt wohl nicht vorgestellt.

Als unproduktiv erweist sich mehr und mehr auch Scholz‘ mantrahaftes Verweisen auf die USA. Gewiss, die NATO hat ihr Kraftzentrum in Washington. Aber so sehr dem Präsidenten Biden daran gelegen sein muss, einen Damm gegen den russischen Neo-Imperialismus aufzurichten: Kiew ist weit von Washington entfernt, weiter als jede westeuropäische Hauptstadt. Sich hinter den USA zu verstecken und bloß in exakt die Standards zu liefern, in denen der große Verbündete jenseits des Atlantik zu liefern bereit ist, verkennt, dass vor allem Europa durch diesen Krieg herausgefordert ist. Dieses Europa müsse souveräner werden, hat der Kanzler zusammen mit dem französischen Staatspräsidenten soeben wieder beteuert. Im Konkreten erweist sich das Bekenntnis als Worthülse. Unter Olaf Scholz hat die Bundesregierung weder vom Krieg noch von Europa eine strategische Vorstellung. 

      

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

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