Autor Gisbert Kuhn

Kennen Sie Alfter? Nein? Macht eigentlich nichts, aber vielleicht sollten Sie künftig doch mal häufiger ein Auge darauf werfen. Also, zunächst einmal: Alfter ist eine etwas mehr als 21 000 Seelengemeinde im Norden von Bonn am Fuße des so genannten Vorgebirges. Halb Schlafstätte für die Beamten der einstigen Bundeshauptstadt, halb noch immer landschaftlich geprägt und, in diesem Zusammenhang, regional berühmt für seinen Spargel. Was den Ort allerdings aktuell in Deutschland hervorhebt ist – hier hat man gerade Martin Schulz, den Heilsbringer der SPD, seines Alleinstellungsmerkmals beraubt. Der sozialdemokratische Ortsverein Alfter wählte soeben nämlich mit Hans G. Angrick einen neuen Vorsitzenden. Mit – unglaublich! – 100 Prozent der abgegebenen Stimmen. Also mit demselben Rekordergebnis, das Schulz jüngst in Berlin zuteil wurde. Jetzt muss er den Triumph teilen.

Von Alfter lernen, heißt…?

Nun ist zwar nicht allgemein bekannt, wie groß der SPD-Ortsverein Alfter ist und wie viele Genossen bei der Inthronisierung des Parteifreunds Angrick anwesend waren. Aber egal – 100 Prozent sind 100 Prozent! Schließlich trägt ja auch der Bundes-SPD-Hoffnungsträger aus Würselen den ihm beim Kanzlerkandidaten-Nominierungs-Parteitag in Berlin übertragenen Vertrauensvorschuss seitdem wie eine Monstranz vor sich her. Und da es bekanntlich nach wichtigen politischen Ereignissen immer heißt, es gelte Lehren daraus zu ziehen, fragen natürlich auch wir, ob und was es denn wohl von Alfter zu lernen gebe. Das ist zudem  deswegen unvermeidlich, weil Deutschlands Wähler heuer durch drei Landtags-Urnengänge und eine Bundestagswahl enorm unter Stress gesetzt sind. Schließlich rauschen gegenwärtig die Statistiken, Zahlen, Prognosen, Kaffeesatz-Lesereien sowie kluge und weniger schlaue Experten-Meinungen nur so durch die Medien.

Zunächst indessen gilt es (wegen der Aktualität des Vorgangs), Alfter im Blick zu behalten. Wird es jetzt dort und in der weiteren Umgebung womöglich eine ähnliche Jubel- und Aufbruchsstimmung mit vielleicht einem Dutzend Partei-Neuaufnahmen geben? Also wie vor ein paar Wochen bei Schulz, halt nur im Kleinen? Seit dem Berliner Datum tourt Schulzens Martin ja mit dem 100-Prozent-Paket auf dem Buckel durch die Republik und verkündet siegessicher: „Alle mal herhören – wir werden bei der Bundestagswahl im September stärkste Partei! Und ich werde Kanzler!“ Das bringt ihm bei den Genossen noch immer großen Beifall ein. Die Hoffnung ist halt eine gewaltige Triebfeder. Daran ändert (zumindet nach außen) auch der Nasenstüber noch nichts, den der Parteimessias aus dem Dreiländereck im Westen der Republik jüngst bei der Landtagswahl an der Saar verabreicht bekam. Schulz ist gelernter Buchhändler, also ein belesener Mann. Als solchem, allerdings, sollte ihm die von großer Weisheit zeugende Anweisung römischer Cäsaren an hinter ihnen laufende Sklaven bekannt sein, regelmäßig mahnend zu erinnern „…und bedenke das Ende“ (et respice finem). Der Sinn dieser Warnung: Die Mächtigen zu „erden“, also deren „Abheben“ oder auch nur den Versuch zu verhindern, über das Wasser laufen zu wollen.

NRW liegt nicht an der Saar

Auch wenn, im Ernst, kaum zu erwarten ist, dass der neu gekürte 100-Prozent-SPD-Boss Hans G. Angrick aus Alfter parteiintern wie außerhalb einen ähnlichen Hype auslösen wird wie sein Obergenosse Schulz und ein Vergleich der Vorgebirgs-Gemeinde mit dem Saarland in der Tat einigermaßen gewagt erscheint, ist im Vorfeld der Wahl am 14. Mai in Nordrhein-Westfalen zumindest ein Zahlenspiel ganz reizvoll. Denn beim Landtags-Urnengang vor fünf Jahren errangen die Sozialdemokraten hier (also in Alfter) wie dort (also in Saarbrücken) ziemlich genau 31 Prozent. Trotz des hochgejazzten „Schulz-Effekts“ und des von den Demoskopen unisono vorausgesagten Kopf-an-Kopf-Rennens verlor die Partei mit ihrem neuen Star jetzt an der Saar ein Prozent, während die allgemein auf der Verliererstraße vermutete CDU 5,5 Prozent dazu gewann. Klar, das sind natürlich alles nur gedankliche Hütchenspielereien, und Nordrhein-Westfalen liegt bekanntlich nicht an der Grenze zu Lothringen.

Die – gespielte? – Selbstsicherheit, mit der Martin Schulz beim SPD-Start in den heißen NRW-Wahlkampf auf Zeche Zollverein in Essen soeben verkündete „…und ich werde Bundeskanzler“ hatte schon etwas Beeindruckendes. Andererseits – klar, wer Macht will, muss auch Machtwillen zeigen! Aber gibt es da nicht auch eine Kehrseite? 100 Prozent Zustimmung der Gefolgschaft sind, kein Zweifel, ein ordentliches Vertrauenspaket. Doch sie können schnell zu einer ziemlichen Belastung werden, wenn die Dinge nicht so laufen sollten wie erhofft. Höhe bedeutet schließlich zugleich auch Fallhöhe. Und da ist es dann meistens wie im richtigen Leben: Nichts ist so schmerzhaft wie enttäuschte Liebe.

Was ist Gerechtigkeit

Deshalb noch einmal zurück zur Ortsvorsitzenden-Wahl in Alfter. Einer der Gratulanten des dortigen 100-Prozent-SPD-Chefs wünschte Hans G. Angrick „viel Erfolg bei Deinem Kampf um mehr Gerechtigkeit“. Also bei der Umsetzung jenes politischen Schlagworts, mit dem Martin Schulz mittlerweile landauf, landab die Bürger sowohl in den Ländern als auch im Bund zu ködern hofft. Was genau damit gemeint ist, wollen er und die Genossen freilich erst im Frühsommer mitteilen. Man darf gespannt sein. Denn: Na klar, wer ist nicht für „mehr Gerechtigkeit“? Nur, für welche? Was für eine Art hätten, zum Beispiel, Sie denn gern? Ein Vorschlag: Machen Sie sich doch mit Ihrer Familie (besser vielleicht mit Freunden oder am besten sogar mit Fremden) einen Spaß mit folgendem Spiel. Man setze sich um den Tisch, jeder Teilnehmer erhält ein Blatt Papier, auf das er – abgeschirmt von den anderen – seine eigenen Vorstellungen von „Gerechtigkeit“ auflistet.

Bei der Auswertung werden Sie, jede Wette, ihr blaues Wunder erleben. Denn natürlich orientiert sich jeder zunächst einmal an seinen eigenen Interessen und nicht an denen der Gesellschaft oder gar des Staates. Die Unterschiede beginnen unter Umständen schon beim Schneiden der Trennungshecke zwischen zwei Gärten. Und es wird ganz brisant, wenn es um soziale und damit natürlich finanzielle Fragen geht. Gehen Sie bloß einmal an einem beliebigen Tag für eine halbe Stunde durch facebook und erleben Sie das Heer von Apologeten, die (nicht selten in einem Atemzug mit eher mehr als weniger rüden Politiker-Beschimpfungen) ihre Sichtweisen von Recht und Gerechtigkeit hinaus posaunen. Selbstverständlich gelten dabei ausschließlich die eigenen als die einzig richtigen. Dann werden Sie merken, wie viel Wahrheit in dem eher zynischen Vierzeiler steckt: „Die Menschen sind schlecht, / sie denken an sich. / Nur ich bin gerecht! / Ich denke an mich!“.

Ach übrigens: Nehmen Sie das mit der Spökenkiekerei um Alfter und Schulz nicht übermäßig ernst. Es war halt ein kleines Denkspielchen.  Nur so…

Gisbert Kuhn

 

 

    

        

 

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