Von Wolfgang Bergsdorf

Autor Wolfgang Bergsdorf

Paraguay ist der neue Sehnsuchtsort für Corona-müde Europäer. Vor allem Deutsche hat es in das 7-Millionen-Einwohner-Land zwischen Argentinien, Brasilien und Bolivien gezogen. Und das nicht zum ersten Mal. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert haben zahlreiche deutsche Einwanderer Dörfer und Städtchen in dem südamerikanischen Staat gegründet, der deutlich größer ist als das heutige Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Land bevorzugtes Ziel flüchtiger Nationalsozialisten, über die der Diktator Alfredo Stroessner seine schützende Hand hielt.

Dorado für Impfgegner

Die Deutschen, die heute in das 1610 von Jesuiten zum Schutz der indigenen Bevölkerung gegründete Land kommen, suchen wieder Schutz. Nämlich vor der hierzulande drohenden Impfpflicht. Über 1000, überwiegend sogenannte Querdenker und Impf-Gegner, sind von Deutschland allein im vergangenen Jahr nach Paraguay ausgewandert und haben sich in von Deutschen bis heute geprägten Orten wie Hohenau im Südosten nahe der Grenze zu Argentinien niedergelassen. Dort wollen sie ihre in Deutschland angeblich bedrohte oder sogar schon „verlorene Freiheit“ wieder erlangen. Dort gab es keine Impfpflicht, keine Masken, keine Kontaktbeschränkungen, keine Corona-bedingten Einschränkungen. Dies lag freilich nicht daran, dass die Pandemie diese Region ausgespart hätte, sondern schlicht am Mangel an Impfstoffen. Paraguay hat wirtschaftliche Probleme und brauchte deshalb sehr viel mehr Zeit, um ausreichenden Impfstoff zu beschaffen.

Andere lateinamerikanischen Länder wie Argentinien, Uruguay und Chile haben mittlerweile mehr als zwei Drittel ihrer Bevölkerungen geimpft – ohne Impfpflicht, die angesichts der hohen Impfbereitschaft nicht notwendig ist. Auch in Paraguay ist der Wille dazu immer noch sehr viel höher als der zur Verfügung stehende Impfstoff. Die steigenden Infektionszahlen und die massenhafte Einreise von Impfverächtern hat deshalb die Regierung in Asunción dazu bewogen, seit Mitte Januar nur noch Ausländer einreisen zu lassen, die zwei Schutzimpfungen gegen Corona vorweisen können. Mancher Einreisewillige, der sein Hab und Gut schon im Container verpackt hatte, muss nun wohl schweren Herzens von seinem Auswanderungsziel Abstand nehmen.

Proteste der Einheimischen

Allerdings hätten einige Informationen genügt, um seinen Zufluchtsort nicht dort zu suchen. Schon in der ersten Phase der Pandemie gab es in Paraguay gewaltsame Proteste der Bevölkerung gegen ihre Regierung. Anders als hierzulande hatten sie zum Ziel, eine rasche Imagekampagne zu erzwingen. Der Pandemie sind bisher 16.000 Paraguayer zum Opfer gefallen, nicht zuletzt wegen fehlender Impfstoffe und überlasteter Krankenhauskapazitäten. Diese Zahl dürfte bei jetzt steigenden Infektionszahlen wieder zunehmen. Dass Impf-Gegner aus dem reichen Europa sich ausgerechnet das arme Paraguay als Zufluchtsort auserkoren haben, dürfte auf viele Einwohner dieses Landes befremdlich wirken. Vor allem dann, wenn Ungeimpfte die wenigen Intensiv-Betten beanspruchen.

Südamerika war von der Pandemie bisher stärker betroffen als jede andere Region der Welt mit 2740 Toten pro 1 Million Einwohner. Besonders schlimm war die Lage in Ecuador: fehlender Impfstoff, überfüllte Krankenhäuser, Leichen auf den Straßen, Platznot auf den Friedhöfen. Dies hat die Regierung Ecuadors dazu bewogen, weltweit als erstes Land eine Impfpflicht einzuführen. Alle Einwohner ab fünf Jahre müssen sich vollständig impfen lassen. Impfstoff ist nun ausreichend vorhanden. Ungeimpfte haben seit Januar keinen Zugang mehr zu allen Geschäften.

Impfpflicht in Afrika

In Südafrika sind bislang erst 27 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Staatspräsident Cyril Ramaphosa fordert deshalb eine allgemeine Impfpflicht vor allem, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Die durchschnittliche Impfquote des gesamten Kontinents beträgt mittlerweile 10 Prozent. Es gibt private Impfpflichten in einzelnen Unternehmen, die mit Impfquoten von 95 Prozent glänzen können. Kenia und andere afrikanische Regierungen haben inzwischen eine Impfpflicht angeordnet, die allerdingts nicht einmal rudimentär umgesetzt wird. Größtes Hindernis ist hier nicht mehr der Mangel an Impfstoffen, sondern die Impfskepsis der Bevölkerung.

In China ist das vollständig anders. Dort gibt es keine Impfpflicht, und auch keine Impfskepsis. Dort sorgt der soziale Druck für eine erfolgreiche Impfkamagne. China hat nach eigenen Angaben 2,9 Milliarden Impfdosen an seine 1,4 Milliarden Menschen verabreicht. In Russland gilt eine Impfpflicht, obwohl sich Präsident Putin noch im Herbst dagegen ausgesprochen hatte. Weil er weiß, wie unbeliebt solche Zwangsmaßnahmen sind, mussten die leitenden Sanitärärzte der einzelnen Regionen die Impfpflicht verkünden. Trotz Zwang bleibt die gesamtrussische Impfquote niedrig. Nur 60 Prozent sind zweifach geimpft. Ausländische Vakzine dürfen dort ebenso wenig wie in China verabreicht werden.

Ungespritzt kein Job

Singapurs strenges Regiment hat auf die Impfpflicht verzichtet, aber auf dem Verordnungsweg verfügt, dass nur Geimpfte ab Januar an ihre Arbeitsplätze kommen dürfen. Ungeimpfte werden in das Homeoffice verbannt. „No jab, no Job“ -ohne Spritze, kein Arbeitsplatz- lautet das Motto. Ergebnis: 98 Prozent der Arbeitnehmer sind zweifach geimpft.

Die Vereinigten Staaten, die von der Pandemie besonders stark betroffen waren, hatten unter Präsident Biden eine Impfpflicht für Unternehmen ab 100 Beschäftigte durchgesetzt, die allerdings bald danach vom Obersten Gerichtshof kassiert wurde. Bestätigt wurde hingegen eine Impfpflicht für Krankenhäuser und ähnliche Einrichtungen, in denen impfunwilliges Personal schon entlassen wurde. Für die Bediensteten der Bundesbehörden hat Präsident Biden eine obligatorische Impfung durchgesetzt. Hier wurden Quoten von über 90 Prozent erreicht, beim Geheimdienst CIA sogar 99 Prozent. Insgesamt sind 87 der Amerikaner (über fünf Jahre) komplett geimpft.

Flickenteppich Europa

In Europa ist die Lage an der Impf-Front – wie auch oft auf anderen Gebieten – sehr unterschiedlich. In Großbritannien hat die Regierung eine Impfplicht für ärztliches und pflegerisches Personal im Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) angekündigt, nimmt aber jetzt von dieser Maßnahme Abstand. Der leichtere Krankheitsverlauf der Infektionen mit Omikron und die Sorge, dass Impfgegner ihre Arbeitsplätze kündigen, haben den Kurswechsel verursacht. Die Regierung befürchtet, dass 40 000 Beschäftigte den Dienst quittieren würden.

Frankreich hat schon im vergangenen Jahr eine berufsbezogene Impfpflicht für Ärzte, Pfleger und Feuerwehrleute eingeführt. Nennenswerte Proteste blieben aus. Impfverweigerer müssen mit Gehaltseinbußen rechnen. Klagen dagegen verliefen erfolglos. Italien hatte im April vorigen Jahres – wie Frankreich – eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen eingeführt und ab Januar eine allgemeine Verpflichtung für Personen über 50 Jahre. Denn diese Altersgruppe gilt als besonders gefährdet. Die Pflicht hat ein Ablaufdatum bis Mitte Juni. Dagegen wurden die berufsbezogenen Impfpflichten bisher nicht zeitlich befristet. Kontrolliert wird durch die Steuerbehörden, die Zugriff auf die Impfregister der Gesundheitsbehörden und der Privatpraxen erhalten.

Österreich ist ein besonderer Fall

Österreich ist – wie so oft – ein besonderer Fall. Hier ist seit Anfang Februar eine allgemeine Impfpflicht in Kraft getreten, die das Parlament schon im Herbst geplant und im Januar beschlossen hat. Sanktionen (Bußgelder bis 3600 €) wird es aber erst frühestens ab Mitte März geben. Überprüft wird mithilfe eines seit 2020 existierenden Impfregisters. Das Gesetz ist bis 2024 befristet. Wer sich dieser Pflicht unterwirft, nimmt automatisch an einer staatlichen Lotterie teil.

In Deutschland hat der Bundestag im Januar erstmals über eine allgemeine Impfpflicht debattiert und zwar ohne Vorgaben durch die Fraktionen. Journalisten glaubten, dies als eine „Sternstunde des Parlaments“ kommentieren zu müssen. Die Gegner jeder Verpflichtung kamen ebenso zu Wort wie die Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht oder einer Impfpflicht ab 50 Jahre. Außer Frage stand die berufsbezogene Impfpflicht, auf die sich das Parlament bereits im Dezember anhand einer Gesetzesvorlage der Ampelkoalition geeinigt hatte. Sie soll im März starten. So hat es die Bundesregierung kürzlich noch einmal bekräftigt. Ob es wirklich dabei bleibt, ist allerdings fraglich. Es gibt inländische Bedenken und ausländische Beispiele, die die Rücknahme eines solchen Gesetzes illustrieren.

Das Ziel verfehlt

Jetzt hat die Bundesregierung eingestanden, dass sie ihr selbst gestecktes Ziel verfehlt hat, bis Ende Januar 80 Prozent der Deutschen vollständig zu impfen. Bis jetzt sind 76 Prozent geimpft, 70 Prozent zweimal und etwas mehr als die Hälfte ist geboostert. Mit anderen Worten: Bis heute sind noch 20 Millionen Menschen ungeimpft, darunter 4 Millionen Kinder zwischen null und vier Jahren, für die derzeit noch kein geeignetes Serum zur Verfügung steht.

 Was bedeutet das für die explosionsartige Variante Omicron, die jeden Tag neue Rekorde bricht? Je mehr Menschen frisch geimpft oder genesen sind, desto glimpflicher verlaufen die Folgen extremer Omicron-Infektionszahlen. Aber auch an einer gut geschützten Bevölkerung geht die Welle der Infektionen nicht vorüber. Für die Krankenhäuser bedeutet das hoch ansteckende Virus Omicron eine enorme Belastung; nicht nur wegen der vielen neuen Patienten, sondern auch wegen des Personals, das sich ebenfalls ansteckt. Gerade weil sich in Deutschland – anders als zum Beispiel in Großbritannien oder in den USA – bei den bisherigen Covid-Wellen weniger Menschen angesteckt haben, ist das Immunitätslevel bei der Omicron-Unterart geringer als anderswo.

Noch nicht über den Berg

Deshalb ist mit steigenden Einweisungszahlen zu rechnen. Wir sind also noch nicht soweit, dass die Pandemie in eine Endemie übergeht und damit wie die Grippe beherrschbar wird. Eine allgemeine Impfpflicht wäre sicherlich der sicherste Weg, dieses Ziel zu erreichen. Dabei bleiben dabei die gesellschaftlichen Verwerfungen unklar, nachdem das Virus im zweiten Corona – Jahr die Mehrzahl unserer Mitbürger in die Orientierungslosigkeit versenkt hat. Aber Panama ist halt auch kein Auswanderer-Paradies mehr.

 

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

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