Olympische Doppelmoral
Von Günter Müchler
Am Ende sind die Götter schuld. Als Homer-Kenner wissen wir: Sie waren das Ebenbild der Menschen, die von ihnen geschaffen wurden – also herrschsüchtig, gewalttätig und ränkevoll. In Summe eine ziemlich unkorrekte Gesellschaft. Wie kann man daher erwarten, dass Feste, die ihnen zur Ehre alle vier Jahre ausgerichtet werden, korrekt und unschuldig sind? Die Olympischen Spiele in China, die uns in den nächsten vierzehn Tagen hoffentlich gut unterhalten werden, sind es jedenfalls nicht.
Dazu wiegen die Vorwürfe zu schwer. Im Blickpunkt steht das Schicksal der Uiguren, einer nach Millionen zählenden Volksgruppe im Nordwesten des Landes. Die Pekinger Regierung hat sie zum „Zwecke der Umerziehung“ in Lager gesperrt; eine Maßnahme, die im Reich der Mitte nicht ohne Vorbilder ist. Ein weiterer Vorwurf bezieht sich auf die allgemeine Menschenrechtslage in China und auf die totalitären Methoden, welche die herrschenden Kommunisten anwenden, um ihre Machtstellung behaupten. Wahrlich kein ideales Panorama für fröhliche Spiele, die die Jugend der Welt in Freiheit und Freundschaft zusammenführen sollen.
Am Pranger steht wieder einmal das Internationale Olympische Komitee mit dem Deutschen Thomas Bach an der Spitze. Das IOC sei mit Blindheit geschlagen, moralisch indifferent und diktaturaffin, lautet der Vorwurf. Ähnliches hatten sich die „Herren der Ringe“ schon 2014 anlässlich der Winterspiele im russischen Sotschi anhören müssen. Die Beweise des Staatsdopings, also der systemisch erzeugten Unfairness, waren damals so dicht, dass die russischen Sportler nicht unter den nationalen Emblemen an den Start gehen durften.
Damals wie heute rechtfertigte das IOC die zweifelhafte Vergabeentscheidung mit der Behauptung, der Sport sei prinzipiell unpolitisch. Der Wert dieser Behauptung entspricht ungefähr der von der Bundesregierung noch immer nicht aus dem Verkehr gezogenen Verteidigung von Nord-Stream 2 als „rein privatwirtschaftlicher Unternehmung“. Die Bürger werden für dumm verkauft. Wer Diktatoren eine Bühne bietet, betreibt ihr Geschäft. Das sollte man eigentlich seit 1936 wissen. In jenem Jahr durfte Hitler-Deutschland, obwohl der Charakter des Regimes damals schon hinreichend ersichtlich war, sowohl die Olympischen Sommer- als auch die Winterspiele ausrichten. Die Ringe flatterten Seite an Seite mit der Hakenkreuzfahne.
In Zeiten globaler Medienpräsenz sind für Diktatoren XXL-Sportveranstaltungen wie etwa Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele erst recht Propagandamittel, für die kein Geld zu teuer ist. Peking nutzt das Mega-Event, damit Chinas Anspruch auf Erstrangigkeit auch in die letzten Winkel des Erdballs dringt. Natürlich durchschaut das IOC diesen Sachverhalt. Naivität ist der letzte Vorwurf, den Thomas Bach verdiente. Allein, mag der Handel auch unerwünschte politische Nebenwirkungen haben, er hat auch Vorteile. Nichts fürchten die „Herren der Ringe“ mehr als ein Leistungsdesaster der Ausrichter, wie man es 1976 in Montreal erlebte. Auf Diktaturen ist in organisatorischer Hinsicht Verlass.
Zugutehalten muss man dem IOC, dass es sich in einem Dilemma befindet. Überall dort auf der Welt, wo die politischen Verhältnisse dem olympischen Geist nicht im Wege stehen, ist die Bereitschaft zum Mitmachen auf dem Rückzug. 2015 erteilten die Hamburger ihrem damaligen Bürgermeister Olaf Scholz, der die Spiele in die Hansestadt holen wollte, eine klare Abfuhr. Same procedure in München und Garmisch-Partenkirchen. Mal war die bürgerliche Abneigung gegen zu teure Großveranstaltungen ausschlaggebend, mal die Öko-Sorge um Flora und Fauna. Über derlei Anfechtungen können die Herrscher in Peking und Moskau natürlich nur lächeln – und greifen zu.
Indessen wäre es falsch, die Sache so anzusehen, als spränge ein Land wie China nur in die Bresche, wo westliche Gesellschaften sich verweigerten. Olympia ist, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, kein zweckfreier Wanderzirkus; war es wahrscheinlich nie. Heute ist es eine hocheffiziente Holding, die riesige Geldströme in Bewegung setzen, steuern und umsteuern kann. Und China ist als Etappenziel geradezu ideal. Ein scheinbares Paradoxon macht das deutlich.
Weshalb man überhaupt Winterspiele in einem Land abhalte, das so gut wie keinen Wintersport kenne, fragte kürzlich ein Funktionär, der frühere Cheftrainer und heutige Alpindirektor des Deutschen Ski-Verbandes Wolfgang Maier. Und es stimmt ja: In China sind Curling und Eishockey so wenig populär wie Beach-Volleyball in Alaska. Aber genau das ist des Pudels Kern!
Winterspiele in Norwegen oder in der Schweiz, wo jeder Mensch bereits zwei Paar Skier hat, sind für Sportartikelhersteller und andere mit dem IOC gut vernetzte Interessenten nur begrenzt sexy. China hingegen ist wintersportmäßiges Entwicklungsland, ein neues Dorado, von dem man (wirtschaftlich) nur träumen kann. Den riesigen Absatzmarkt zu erschließen, gibt es keinen besseren Hebel als das gigantische Olympia-Spektakel.
Der im Paradoxon verschlüsselten Logik folgen nicht nur die berufsmäßigen Förderer des olympischen Geistes und des kapitalistischen Gewinnstrebens. Ihre Kritiker tun desgleichen. Tagelang fackelten ARD und ZDF ein China- und IOC-kritisches Feuerwerk ab. Dokumentationen und Enthüllungs-Stories ließen das Sportereignis vorab als Verrat und Komplott erscheinen. „Wer braucht noch dieses Olympia?“ fragte der immer freundliche Felix Neureuther, einst Slalom-Spezialist und jetzt ARD-Experte für olympische Lauterkeit. Man hätte gedacht, die Anstalten würden den Hahn abdrehen und die Freunde des Wintersports für die Wettbewerbe auf das Pay-TV verweisen.
Doch weit gefehlt. Nie zuvor haben die Anstalten ihre Sendepipelines so stark aufgedreht wie jetzt. Vom 4. bis zum 20. Februar senden ZDF und ARD im Wechsel täglich 16 Stunden im Zeichen der Ringe. Bei der ARD summiert sich das auf 120 Stunden, wozu noch 500 Stunden im Livestream auf „sportschau.de“ kommen. Den ARD-Olympiasong singt Helene Fischer: „Jetzt oder nie“. Schon möglich, dass die Götter im Olymp mitsingen. Die Chuzpe der Erdenkinder dürfte ihnen gefallen.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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