Olympia – der gefrevelte Frieden
Von Gisbert Kuhn
Auch – oder vielleicht sogar gerade – in den Zeiten von Smartphones und Tablets empfiehlt es sich, gelegentlich im Bücherschrank nach den alten Gedichtbänden aus der Schulzeit zu greifen Zum Beispiel nach Friedrich von Schillers Ballade „Die Kraniche des Ibikus“. Sie erzählt von der Unverletzlichkeit, vom zum Frieden verpflichtenden Charakter der Olympischen Spiele in der Antike, dem sich sogar die traditionell verfeindeten griechischen Stämme unterzuordnen hatten. Welch ein Vorbild böte das alte Hellas damit für unsere heutige, sich doch so modern, ab- und aufgeklärt gebende Welt!
Und zwar speziell angesichts des aktuellen Sportspektakels, zu dem sich knapp drei Wochen lang in Paris der Welten Stämme (um erneut Anleihe bei Schiller zu nehmen) froh vereint haben. Zu Veranstaltungen, für deren Gelingen die Franzosen wirklich alles aufgeboten haben, was unsere Nachbarn nicht nur finanziell und organisatorisch, sondern auch künstlerisch und fantasievoll zu leisten imstande sind. Und mag der eine oder die andere auch die Mammut-Übertragungszeiten der Öffentlich-Rechtlichen TV-Anstalten als übertrieben erachten, so werden sich doch wahrscheinlich nur Wenige dem Reiz der Atmosphäre und Stimmung entziehen können, die von der Seine in die heimischen Wohnzimmer herüberschwappt. Welch ein wunderbarer Unterschied zu den gigantomanen, jeglicher Vernunft und – nicht zuletzt – Nachhaltigkeit spottenden vorangegangenen Spielen etwa von Rio oder gar Peking…
Und dennoch – was für ein Kontrast ebenso zwischen Schein und Wirklichkeit. Wieder einmal. Wobei nicht einmal erneut Klage geführt werden soll wegen der überbordenden Kommerzialisierung der Spiele. Das ist, im Prinzip, auch im Altertum nicht viel anders gewesen, wo die Sieger keineswegs nur mit Fichtenzweigen bekränzt worden waren, sondern in aller Regel als Volkshelden bis an ihr Lebensende ausgesorgt hatten. Es geht vielmehr um die Moral einer Welt, die einerseits (Mein) Eide auf die völkerverbindende Wirkung des Sports leistet, es andererseits jedoch zulässt, dass als Folge wahnwitziger Eroberungskriege, religiöser Fantasmen oder von gierigen Griffen nach seltenen Rohstoffen täglich hunderttausende Menschen rund um den Erdball ihr Leben lassen müssen.
Klar, es ist keine neue Erkenntnis, dass der Friede – der olympische gar – längst dem menschlichen Frevel zum Opfer gefallen ist. Dazu braucht nicht einmal an die Olympischen Spiele von Berlin 1936 erinnert zu werden, die Adolf Hitler als Machtdemonstration seiner Vorstellung vom „Reich“ zu dienen hatten. Und damit natürlich Vorbild für spätere Despoten etwa in Moskau oder Peking wurden. Aber darf deshalb der Traum von einer anderen, vernünftigeren (weil humaneren) Welt nicht trotzdem geträumt werden?
Doch, der darf geträumt werden. Er muss es sogar! Denn woraus sollte denn sonst etwas Besseres entstehen? Vielleicht wird ja nur dadurch irgendwann einmal auch dem verbohrtesten Despoten einmal klar, dass es wirklich keinen Sinn macht, sich ein Denkmal errichten zu lassen, weil am Ende ja sowieso nur die Tauben auf den Kopf kacken werden. Freilich zugegeben, wer sich allzu sehr dem Optimismus hingibt und das vielleicht sogar noch verkündet, riskiert besonders in diesen Zeiten verlacht oder am Ende zum Psychiater geschickt zu werden. Denn wer auf die Brennpunkte auf dem Globus blickt, mag zwar Narren erkennen. Aber es sind leider gefährliche Narren. Brandgefährliche. Und sie schaffen es, genügend andere Gläubige in ihren Bann zu ziehen.
Oder in ihre Abhängigkeit. Was bedeutet es denn schließlich anderes als Abhängigkeit, wenn Indiens Regierungschef Modi den Diktator im Kreml als Freund bezeichnet? Wirklich nur, weil dieser Öl und Gas zu bieten hat? Und was bewegt Brasiliens sozialistischen Ministerpräsidenten Lula dazu, sich politisch Russland anzunähern, das immerhin spätestens mit dem Überfall auf die Ukraine bewiesen haben sollte, dass es genau jene Großmachtpolitik betreibt, die man den USA (eigentlich dem Westen insgesamt) ankreidet? Doch damit nicht genug der weltpolitischen Absurditäten. Mag ja sein, dass mit einer Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris und ihrem Wahlkampfteam die Gefahr eines erneuten Wahlsiegs von Donald Trump etwas abgenommen hat. Gebannt ist sie freilich noch keineswegs.
Und selbst wenn die Demokraten bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen am Ende die Nase wieder vorn haben sollten, dürfte zumindest den aufmerksamen Zeitgenossen hierzulande eigentlich klar sein, dass sich das Augenmerk auch einer Kamala Harris in den nächsten Jahren deutlich weg von Europa und hin zur neuen Möchtegern-Weltmacht China richten wird. Hier schließt sich, interessanterweise, der bei den Olympischen Spielen begonnene und mit den USA und China endende Kreis. Warum? Das zeigt ein kurzer Blick auf den aktuellen Medaillenspiegel. Wer führt ihn an? Die Vereinigten Staaten von Amerika. Wer steht an zweiter Stelle? Die Volksrepublik China. Deutschland dümpelt in der Mitte, noch hinter den Niederlanden. So kann die führende Wirtschaftsmacht in Europa die Parole des Schöpfers der Olympischen Spiele der Neuzeit, Pierre de Coubertin, natürlich auch deuten und umsetzen: „Dabeisein ist alles“.
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.
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