Von Günter Müchler

Günter Müchler

Es ist ja nicht so, dass die Drei von der Berliner Fahrschule jemals die Grüne Welle gehabt hätten. Von Anfang an war ihr Weg holprig. Schlechtes Handwerk verursachte Schlaglöcher, den Rest besorgte der blinde Zufall einer weltweiten Unfallhäufung. Erst kam Corona, dann die Inflation, danach der Überfall Putins auf die Ukraine und schließlich auch noch das Hamas-Massaker an Israelis – oder war die Reihenfolge anders? Feststeht jedenfalls, dass die Ampelkoalition im Krisenmodus wie festgenagelt scheint, unfähig, sich den beiden ganz großen Herausforderungen mit Nachdruck zu widmen: dem Klimawandel und der Massenimmigration. Den jüngsten Blitzeinschlag hätte es allerdings nicht geben müssen. Mit Falschspiel wollte sich die Regierung über die Runden retten, vergeblich. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat ihre Tricksereien aufgedeckt. Und schon sind Stimmen zu hören, die zum großen Kladderadatsch raten. Aber an Neuwahlen ist momentan niemand interessiert.

Es gibt keine Regel, die bestimmt, wann einer Regierung den Kipppunkt erreicht hat und ihr das Todesglöckchen läutet. Manchmal führt Ermattung das Ende herbei. So war es 1930. Ein halber Prozentpunkt bei der Arbeitslosenversicherung brachte die Regierung Hermann Müller zu Fall und die erste deutsche Republik an die Abbruchkante. Besser erinnerlich ist das Wendejahr 1982. Die sozialliberale Koalition Schmidt/Genscher zerbrach, weil die Schalen des Missvergnügens voll waren und die FDP im Wechsel zur Union die einzige Chance sah, ihren Untergang zu vermeiden. Schließlich 2005: Da führte eine Fehlrechnung Gerhard Schröders zu Neuwahlen und zum Frühtod des ersten rot-grünen Experiments auf Bundesebene.

Die Beispiele zeigen, dass beim Scheitern von Regierungsbündnissen Befindlichkeiten oft eine größere Rolle spielen als er vom Problemdruck kommt. Rückschläge oder Meinungsverschiedenheiten kann man verkraften; gegen Misstrauen und Gereiztheit, einmal zum Dauerzustand geworden, ist kein Kraut gewachsen. Der Schlüssel zu allem aber liegt im unbedingten Willen mindestens eines Partners, den Bruch herbeizuführen. Davon kann im Moment keine Rede sein. Gewiss, die aktuelle Krise wiegt schwer. Der Karlsruher Spruch hat es in sich. Es fehlen in der Kasse 60 Milliarden, und das ist keine Kleinigkeit. Auch, auch wenn man als Steuerzahler schon fast vergessen hat, dass es schon einmal Zeiten gab, in denen fiskalische Engpässe in Millionen statt Milliarden gemessen wurden. Der Bundesfinanzminister hat eine Haushaltssperre verfügt. Ob der Etat noch in diesem Jahr verabschiedet werden kann, steht in den Sternen.

Gemessen daran ist es den Ampel-Anführern bisher ganz gut gelungen, ihre Nervosität zu kontrollieren. Einzige Ausnahme ist Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der übellaunig den Bürgern empfahl, sich bei Friedrich Merz, dem Oppositionsführer, zu bedanken, wenn demnächst das Heizen teurer werde. Der Sarkasmus war fehl am Platze. Nicht der Kläger ist schuld, wenn der Angeklagte schuldig gesprochen wird. Das oberste Gericht hat der Bundesregierung ein Foul bescheinigt, das mit einer Gelben Karte noch milde bestraft ist: Verfassungsbuch. Die überschüssigen Corona-Mittel durften nicht in den Klima- und Transformationsfonds umdirigiert werden. Das aber hat die Regierung, angeleitet vom Kanzler persönlich, getan. Sie hat es probiert. Mithin ist für den angerichteten Schlamassel allein die Regierung verantwortlich.

Dass ausgerechnet Habeck die Contenance verlor, sagt viel über die Formkrise, in der sich der Vizekanzler seit dem Heizungsdesaster befindet. Habeck wirkt abgekämpft. Das Vorantreiben des Klimaschutzes hat Kraft gekostet, das Einhegen der eigenen Partei fast noch mehr. Die Fundis der Grünen mussten Federn lassen, ob beim Planungsrecht oder in der Russlandpolitik. Habeck mag sich zu Recht Erfolge zuschreiben. Es sind indes Erfolge, über die sich die Hälfte des grünen Anhangs freut wie über Magenschmerzen oder Pickel am Kinn.

Ob es den Grünen so gehen wird wie vor ihnen den Sozialdemokraten? Die SPD schämte sich für Schröders grundvernünftige Reform der Sozialhilfe – die Agenda 2010 – so sehr, bis sie sich selbst nicht mehr kannte. So weit sind die einstigen Sonnenblumen-Freunde noch nicht, aber die Zeichen der Zeit stehen schlecht. Die Zustimmungswerte weisen stabil nach unten. Und das Krötenschlucken geht weiter. Denn so langsam dämmert die bittere Erkenntnis, dass feministische Außenpolitik von den meisten globalen Akteuren für einen Witz gehalten wird.  Der nächste Anschlag auf das grüne Wohlbefinden ist in vollem Gange. Ob sie wollen oder nicht: Der Abschied von einer Migrationspolitik, die halsstarrig Risiken- und unschöne Nebenwirkungen ausblendete, ist unvermeidlich, wollen die Grünen nicht zu einer Brüder- (sie würden wohl gendergerecht sagen Schwester:innen-)Gemeinde in einer Zehn-Prozent-Hütte schrumpfen.  

Es tut weh, vom Zeitgeist abgehängt zu werden. Sozialdemokraten wissen das längst. Ihre Empathie mit den Grünen wird sich in den kommenden Wochen deshalb in Grenzen halten. Jeder der drei Ampelpartner muss sehen, wo er bleibt. Das gilt vor allem für die stets existenzbedrohten Freien Demokraten. Sie mussten lernen, dass es Liberalen nie gut bekommt, wenn sie mit dem Strom schwimmen. Dementsprechend haben sie in der Berliner Koalitions-WG auf Distanz geachtet. In der aktuellen Krise wird Christian Lindner allen Anfechtungen, die Schuldenbremse zu lockern, widerstehen müssen. Was aber tun, um das 60-Milliarden-Loch zu stopfen?

Ordnungspolitisch richtig wären echte Einsparungen. Mit Elterngeld und Bürgergeld hat Lindner bereits zwei Möglichkeiten genannt. Sollte hier der der Rotstift angesetzt werden, ginge es allerdings rasch ans Eingemachte. Nur Mut, empfiehlt ein Leitartikler der FAZ den Freien Demokraten. Lindner solle ein neues „Lambsdorff-Papier“ schreiben. Dieses Papier, 1982 unterzeichnet vom damaligen Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, listete schonungslos die Gräben auf, welche die volkswirtschaftlichen Auffassungen von FDP und SPD trennten. Es war der letzte noch fehlende Kick, der die seinerzeitige sozialliberale Koalition ins Aus beförderte.

Alles spricht dafür, dass Christian Lindner ein solches Papier nicht schreiben wird. Analogien müssen passen, wenn sie ein Kompass sein sollen. Und dieser Analogie fehlt ein zentrales Element. 1982 stand mit der Kohl-CDU ein Partner bereit, der unbedingt regieren wollte und die FDP dafür brauchte. 41 Jahre später ist das nicht der Fall. Die Union verspürt keinerlei Neigung, Regierungsverantwortung zu übernehmen, jedenfalls im Augenblick.

Der gebremste Ehrgeiz hat Gründe. Einer ist die unbewältigte Merkel-Vergangenheit. Diese scheppert der CDU hinterher wie eine Blechbüchse, die man der Katze an den Schwanz gebunden hat. Da ist, zweitens, die nach oben noch immer offene Führungsfrage. Käme es jetzt zu Neuwahlen (was bekanntlich verfassungspolitisch eine beachtliche Kunstfertigkeit voraussetzte), fänden das vielleicht die engsten Gefolgsleute von Friedrich Merz gut, nicht aber jene „Freunde“ in der Partei, die eigene Ambitionen haben und deshalb eine Notoperation fürchten. Der dritte und entscheidende Grund, weshalb man auf Neuwahlen besser nicht wetten sollte, hat jedoch mit der objektiven Lage zu tun. Und die ist nun mal so, dass man als Opposition die Regierung lieber noch eine Weile machen lässt.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.   

 

 

 

 

 

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