Von Günter Müchler

Günter Müchler

Die von den Berliner Ampel-Fraktionen durchs Parlament geboxte Wahlrechtsreform macht sprachlos. Sie bedroht zwei im Bundestag vertretene Parteien mit dem Aus. Außerdem werden Erststimmen-Wähler in den April geschickt. Man stelle sich vor, die Angelegenheit spielte im Ungarn Victor Orbans. Ganz Westeuropa wäre alarmiert. Am schärfsten würde man in Berlin protestieren. Und als wäre der Scherbenhaufen noch nicht groß genug, verlangt Bundestagspräsidentin Bärbel Baas auch noch ein Gesetz zur Herstellung der Geschlechterparität im Hohen Haus.

Die Hoffnung ruht nun  – wieder einmal – auf dem Bundesverfassungsgericht. Es muss dem mutwilligen Treiben einen Riegel vorschieben. Schon jetzt ist der Schaden für das Demokratie-Vertrauen erheblich. Alles begann vor zehn Jahren. Der Bundestag wuchs und wuchs und damit das Bedürfnis, die Entwicklung zu regulieren. Ursache des Wachstums sind Überhang- und Ausgleichsmandate. Diese, wiederum, sind eine Folge des komplizierten deutschen Wahlrechts, das traditionell Elemente der Personen- und der Parteienwahl miteinander verbindet.

Eine Rolle spielten natürlich auch die Wiedervereinigung sowie die gestiegene Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien. Aktuell verfügt der Bundestag über 736 Abgeordnete. Nach dem Willen der Koalition sollen es ab der nächsten Legislaturperiode nicht mehr als 630 sein. Eigentlich gebieten Klugheit und der Respekt vor der Demokratie, dass Änderungen am Wahlrecht nur im Einvernehmen vorgenommen werden. Ist das nicht der Fall, ist der Stachel des Manipulationsverdachts nur schwer aus der Welt zu schaffen.

Die Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble (CDU) gaben sich jahrelang redlich Mühe, eine ganz breite Mehrheit für eine Reform zu finden. Beide scheiterten. Es waren nicht zuletzt die Unionsparteien, die alle Versuche blockierten, sehr zum Verdruss der übrigen Parteien, die allerdings auch nur Krokodilstränen vergossen. Denn die meisten Vorschläge, die auf dem Tisch lagen, sahen die Union auf der Verliererseite, insbesondere die Christlich-Sozialen.

Man kann den jetzigen Alleingang der Koalitionsfraktionen als Verzweiflungstat betrachten oder als Akt der Vergeltung. Tatsache jedenfalls ist, dass die öffentliche Meinung schon lange nach einem Ende der parlamentarischen Sitzvermehrung gerufen hat. Auch lässt sich nicht bestreiten, dass durch die von der Volksvertretung vorgeführte Unfähigkeit zur Selbstreform das Ansehen des Bundestags nicht gerade gesteigert wurde. Aber das alles rechtfertigt nicht den offenkundigen Missgriff, den jetzt die Ampel vorgenommen hat. Er beschädigt das Demokratieprinzip gleich doppelt.

Erstens durch die Abschaffung der Grundmandatsklausel. Diese Sonderregelung sieht vor, dass auch eine Partei, die bundesweit weniger als fünf Prozent erhielt, dennoch ins Parlament einziehen kann, wenn sie wenigstens drei Direktmandate errungen hat. Nun gibt es Parteien mit einer deutlichen regionalen Verankerung. Diesen Umstand berücksichtig die Grundmandatsklausel. Sie steht im Einklang mit der föderalen Ordnung der Bundesrepublik. Ohne die Klausel wäre die Linke, die traditionell in Ostdeutschland stark ist, in Westdeutschland aber nur unter ferner liefen rangiert, 2021 aus dem Bundestag ausgeschieden. Der CSU könnte, ein schwaches Abschneiden im heimischen Bayern vorausgesetzt, demnächst dasselbe blühen.

Es gehört zu den ungelösten Rätseln der Parlamentsgeschichte, weshalb die Union die drohende Gefahr lange nicht erkannt hat. Die größte Oppositionspartei hat sich in diesem Punkt (wie überhaupt in der Reformdebatte) nicht mit Ruhm bekleckert. Wenn die Ampelpartien das jetzt genussvoll ausweiden, kann man das verstehen. An der Sache selbst ändert die Schlafmützigkeit der Union nichts. Das Kainsmal, durch Abschaffung der Grundmandatsklausel zwei Konkurrenzparteien beseitigen zu wollen, wird die Berliner Regierungsmehrheit nicht abwaschen können.

Ein Schlag gegen die Demokratie ist auch die Kastration der Erststimme. Seit 1949 steht für Wahlbürger außer Frage, dass ein Kandidat, der in seinem Wahlkreis die Mehrheit der Erststimmen bekommt, sicher in den Bundestag einzieht. Nach dem Reformgesetz der Regierungskoalition soll das künftig nicht mehr so sein. Hat eine Partei mehr Wahlkreise erobert als es ihrem Zweitstimmenanteil entspricht, werden diese Erfolge aus dem Ergebnis getilgt. Das bedeutet ganz konkret für den Wahlbürger: Er wird aufgefordert, seine Stimme abzugeben, muss aber damit rechnen, dass ihm hinterher gesagt wird: April, April.

Es ist gut, dass Union und Linke jetzt nach Karlsruhe ziehen. Und es ist an sich unvorstellbar, dass sie dort nicht Recht bekommen. Zu offenkundig ist der Manipulationsverdacht, zu schwerwiegend die Beeinträchtigung des Demokratieprinzips. Besser, die Koalition hätte von der Reform ganz die Finger gelassen, als ausgerechnet dieses Reformgesetz durchzuboxen. Der Schaden durch Nichtstun wäre geringer gewesen. Schließlich darf man fragen, worin der Skandal des Status quo eigentlich liegt. Gewiss, 736 mal Abgeordnetendiäten kommt den Steuerzahler teurer zu stehen als 630 mal Abgeordnetendiäten. Aber was ist das im Vergleich mit den Summen, um die es andernorts im Haushalt geht? Verglichen mit dem politischen Schaden, der angerichtet wird, handelt es sich um eine Petitesse.

Erschreckend ist die Leichtfertigkeit, die Scholz, Habeck und Lindner in der ganzen Causa an den Tag legen, noch erschreckender der Eindruck, es könne ein System dahinterstecken. Diesen Eindruck nährt die Bundestagspräsidentin. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, wo die Koalition sich kritischen Fragen nach ihrem Demokratieverständnis stellen muss, verlangt die SPD-Politikerin Lisa Paus nach einem Gesetz, das die Parität von Frauen und Männern im Bundestag vorsieht. Erst vor drei Jahren war ein brandenburgisches Gesetz, dass die Parten verpflichten sollte, ihre Liste nach dem Abzählreim Frau/Mann aufzustellen, vom Verfassungsgericht des Landes verworfen worden.

Die Richter sahen in dem Gesetz eine unzulässige Einschränkung der Parteienfreiheit und schrieben den Verantwortlichen etwas ins Stammbuch, was eine Bundestagspräsidentin wissen sollte: Abgeordnete sind nicht die Marionetten einer Partei und auch nicht Lobbyisten einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Sie sind dem ganzen Volk verpflichtet. Man darf Frau Paus unterstellen, dass sie das Urteil gelesen hat. Umso mehr muss man nach dem Antrieb ihres Vorstoßes fragen. Kann es sein, dass sie sich die Zukunft des Bundestags nur als Abbild der Regenbohnenfahne vorstellt? Das wäre dann eine andere Republik.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

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