Rezension: Mutiger Verteidiger der Muttersprache
Von Gisbert Kuhn
Mit diesem Buch wird sich Günter Müchler wohl kaum neue Freunde schaffen. Das heißt – in der breiten Mehrheit der Deutschen wahrscheinlich schon. Also bei den seit langem demoskopisch gleichbleibend etwa 70 bis 80 Prozent ausgewiesenen Mitbürgern, denen die offiziell gültige Sprache – verbal, grammatikalisch, gesellschaftspolitisch und allgemeinverständlich – in Form, Klang und Gestaltung völlig ausreicht, gut gefällt oder sogar liebenswert erscheint. Anders hingegen bei jener elitären, verschworenen und von militantem kultur-erzieherischen Sendungsbewusstsein durchdrungenen Minderheit, die – beginnend mit der Sprache als Waffe – zu einem Kreuzzug in eine vermeintlich geschlechter-gerechtere Welt aufgebrochen ist. Ihr Schlachtruf lautet „Gendern“, und die Bewegung erhält durchaus Zulauf.
„Das Gender-Diktat. Wie eine Minderheit unsere Sprache zerlegt“, lautet der Titel des – keine Frage – kämpferisch angelegten neuesten Buches von Müchler. Doch der gelernte Journalist, Historiker, Politik- und Zeitungswissenschaftler (zum Schluss Programmdirektor des Deutschlandfunks und seit Langem geschätzter Autor bei rantlos) begnügt sich nicht mit leicht lesbaren, flüssig formulierten, gleichwohl aber im Grunde bloßen Attacken auf den sich in Deutschland allmählich zu einem veritablen Kulturkampf auswachsenden Streit um die „richtige“ Sprache. Er will aufzeigen, dass (und mit welchen Mitteln und Methoden) fest entschlossene und gut vernetzte Gruppen versuchen, als erstes das „gängige“ Deutsch als Kommunikations-Instrument Nummer 1 zu verändern. Wobei der Autor, zweitens, freilich als tatsächliches Ziel dieser selbstgerechten Gesellschaftsmissionare ausgemacht hat, das angeblich von der „Realität“ total überholte Identitätsgefühl der neuen, aufgeklärteren Zeit anzupassen.
Dass (alle Umfragen weisen das aus) die offensichtlich tumbe „Masse“ gar nicht gesellschaftskritisch bekehrt werden will – was kümmert es die Eiferer. Dass die mit Sternchen, Doppelpunkten, Unter-, Ober- oder Schrägstrichen gekünstelten Verrenkungen der Sprache in Richtung vermeintlicher Vielfalt und größerer Diversität nachweisbar an der überaus überwiegenden Zahl der Mitbürger abperlt – was solls? Dass sich die Apologeten derartiger Zeitgeist-Normung auf keinerlei demokratisch zustande gekommener Beauftragung oder fachliche Autorisierung berufen können – na und? Rückenwinde erhalten sie ja genügend aus anderer Richtung. Kräftige Rückenwinde. Aus Teilen der Politik, aus den geisteswissenschaftlichen Hörsälen der Hochschulen, aus den Funk- und Fernsehredaktionen, über die Sprach- und Formulierungs-„Empfehlungen“ der oberen Etagen von immer mehr kommunalen und regionalen Verwaltungen an die so genannte Arbeits-Ebene.
Müchler stellt in seiner Philippika überhaupt nicht infrage, dass sich eine Sprache selbstverständlich ebenso den Zeitverläufen anpassen muss wie es für deren Inhalte gilt. Ohne jeden Zweifel haben, zum Beispiel, Frauen ein Anrecht darauf, als solche angesprochen und erwähnt zu werden. Also etwa: „Die hier versammelten Sportlerinnen und Sportler“. Wie albern klingt dagegen: „Die hier versammelten Sportler*Innen“! Und ist es wirklich ein Affront des weiblichen Geschlechts, wenn mit „den hier Anwesenden“ der absolut neutral gebrauchte „generische Artikel“ zur Anwendung kommt, unter dem sich die Damen und die Herren gleichermaßen versammeln können? Ohne jeglichen Gesichtsverlust.
Man könnte (und der Autor tut das auch) zahlreiche, weitaus komischere, Sprachverkrüppelungen aufzählen. Doch solche Kratzer an der Muttersprache sind im Grunde nur ärgerlich, verglichen mit dem – gleichfalls völlig eigenmächtigen – Katalog an Verboten und Geboten, angeblich absoluten Sprach-No-go´s wie „Neger“. Was im Übrigen nie ein Schimpfwort war – im Gegensatz zu dem mit der Sklavenzeit untrennbar verknüpften, abfällig-abschätzigen „Nigger“. Oder die von „woken“ (also im Geiste erweckten) Kultur-Tugendwächtern mit Abscheu und Empörung in die gesellschaftliche Verfemung geschickten „Mohren“. Der Begriff „Mohr“ stammt von „Mauren“ – also jenen nordafrikanischen Araber- und Berberstämmen, die im 8. Jahrhundert die Iberische Halbinsel eroberten und dort eine bis heute bewunderte Hochkultur entwickelten. Wie kann ein geschichtsbewusster Zeitgenosse also bloß im Entferntesten auf die Idee kommen, dunkelhäutige Menschen (griechisch: mauros = dunkel) müssten sich dadurch beleidigt oder gar erniedrigt fühlen? Oder gar geschmeichelt sein, wenn sie jemand (wohlgemerkt: wir befinden uns in Deutschland) mit „people of coular“ anspräche? Respektive sie gar kurz als „poc“ bezeichnete?
Günter Müchlers „Das Gender-Diktat“ ist im bestverstandenen Sinne ein Lesebuch. Ein Druckwerk also, mit dem man sich gern in seinen bequemen Schmökersessel verkriecht und die Gedankengänge und Erkenntnisse des Autors mit Gewinn in sich aufnimmt. Gerade weil sich Müchler nicht allein des Streitthemas Gendern annimmt, sondern dieses in einen weitaus größeren Zusammenhang stellt. Und dazu gehört durchaus, dass die kulturkritischen Sittenwächter zwar weiterhin nur eine – lautstarke – Minderheit in der deutschen Bevölkerung bilden, aber keineswegs erfolglos „Erziehungsarbeit“ leisten. Das betrifft nicht nur die Verbannung bestimmter Begriffe (z. B. Neger) und damit verbunden absurde Wortkombinationen mit einem Buchstaben wie „N-Wort“. Dieser Unsinn zeitigt tatsächlich Wirkung und macht (Tenor: „Man darf das ja gar nicht mehr sagen…“) nicht einmal mehr vor Zeitungsredaktionen halt.
Längst ist auch der Begriff „woke“ in den deutschen Sprachgebrauch eingedrungen. Besonders in den von jungen Menschen. Wer „woke“ ist, kann sich aufgeklärt fühlen, darf mitreden. Darf sich vielleicht sogar jenen Kultur-Fortschrittsaposteln zurechnen, die das aus den amerikanischen Universitäten über die britischen Elite-Hochschulen zu uns herüber geschwappte „Cancel Culture“ nicht nur predigt, sondern nicht selten unnachsichtig praktiziert. Bis hin zu gewaltsamen Eingriffen in die Denk-, Lehr- und Meinungsfreiheit. Auch dies ohne jegliche demokratische Legitimation. Geschweige denn Kontrolle. Allein aus dem jeweiligen Ermessen und Bauchgefühl der selbst erklärten Weltverbesserer heraus. Es wäre nicht schwer, genügend Beispiele aufzuzählen, bei denen „Cancel Cuture“ ganz einfach mit „Inquisition“, „Zensur“ oder „Kampfbegriff gegen Andersdenkende“ übersetzt werden könnte.
Die Qualität von Müchlers Werk besteht nicht nur darin, dass der Autor das wirklich breit gefächerte Thema des offen und subtil geführten Angriffes auf unsere Sprache und weite Bereiche unserer Kultur zusammengefasst und in angenehm lesbarem Journalisten-Deutsch aufbereitet hat. Er ist zuvor auch tief in die Thematik eingestiegen. Allein die Anmerkungen und Literaturhinweise am Ende des Buches zeugen von enormer Akribie und Sorgfalt. Die Lese-Empfehlung könnte durchaus auch an Gender-Jünger*Innen gehen.