“Erinnerungskultur” und das Lernen aus der Geschichte

Eingemeißelt: “Wissen ist Macht”

Wiederbegegnung mit dem alten Gymnasium nach mehr als einem halben Jahrhundert in einer südhessischen Kreisstadt. Der Backsteinbau hat indessen noch weitaus mehr Dezennien auf dem Buckel. In seinen Mauern hätte getrost der berühmte Pennälerfilm „Die Feuerzangenbohle“ mit dem jungen Heinz Rühmann als „Pfeiffer mit drei f“ gedreht worden sein können. Unwillkürlich  steigt der Geruch des Öls wieder in die Nase, mit dem seinerzeit die Bohlen der Fußböden eingelassen wurden. Natürlich sind die Bretter längst durch Steinfliesen ersetzt worden. Nach wie vor jedoch prangt – mittlerweile goldfarben ausgemalt – über dem Hauptportal jene Parole aus der Feder des britischen Philosophen und Aufklärers Sir Francis Bacon, mit der Generationen von Schülern jeden Tag an den Sinn des zumeist ungeliebten Paukens erinnert wurden: „Wissen ist Macht“.

Herausforderungen der Gegenwart

An Weisheiten wie diese dürfte die Düsseldorfer Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) freilich wohl kaum gedacht haben, als sie unlängst in Paris den aus 2008 stammenden Vertrag zwischen Nordrhein-Westfalen  und der Académie de Versailles über eine breite Zusammenarbeit in Bildungsfragen verlängerte. Es ist eines von insgesamt drei Abkommen dieser Art, die das Land zwischen Rhein und Weser mit Bildungs-Einrichtungen französischer Regionen abgeschlossen hat – neben Versailles sind das die Akademien von Aix-Marseille im Süden sowie Lille im Norden. Hier geht es nicht um nostalgische Leitsätze des klassischen Bildungsbürgertums, sondern darum, jungen Menschen die Voraussetzungen an die Hand zu geben, um die Herausforderungen einer Gegenwart und Zukunft zu bewältigen, die sich längst international, ja zunehmend sogar weltweit stellen.

NRW-Schulministerin Löhrmann bei der Vertragsunterzeichnung in der Académie de Versailles

Natürlich bedeutet das zuvorderst Sprachkenntnis – genauer: das Erlernen möglichst vieler fremder Sprachen. Das ist, theoretisch, unbestreitbar. Aber ist es auch jungen Menschen zu vermitteln in einer Zeit, in der gerade auch in den Ländern der Europäischen Union – politisch wie gesellschaftlich – immer stärker Tendenzen zu einer Renationalisierung erkennbar sind? Und zwar sowohl bei den Regierungen als auch (in den häufig genug un-sozialen Netzwerken) bei zunehmend vielen Bürgern? „Ja“, sagt dazu Sylvia Löhrmann, man könne das durchaus.  Zum Beispiel reisten doch im nahezu „grenzenlos“ gewordenen Europa bedeutend mehr Jugendliche als früher ins Ausland und erlebten damit den Wert von Sprachkenntnissen. „Deshalb fördern wir ja auch den Austausch vor allem von Schulen“.

In Frankreich ist deutsch gefährdet

Keineswegs nur, aber auch in Nordrhein-Westfalen als größtem deutschen Bundesland, liegt dabei der Fokus besonders auf Frankreich. Die Weltsprache Englisch ist, auch in Deutschland, ohnehin praktisch ein Selbstläufer. Rund 7,5 Millionen Schüler haben im Schuljahr 2015/16 dieses Idiom gebüffelt. Mag sein,  vielleicht hat der eine oder die andere dabei sogar auch gelernt, dass „Handy“ keineswegs ein englisches Hauptwort und „downloaden“ kein deutsches Verb ist. Hinter der englischen Dominanz findet allerdings ein regelrechtes Sprach-Gerangel statt. Mit etwa 1,5 Millionen „Frankophonen“ steht Französisch im deutschen Fremdsprachen-Ranking zwar immer noch an zweiter Stelle der Pennäler-Gunst, doch andere „Herausforderer“ rücken der Sprache Voltaires deutlich näher auf die Pelle. Allen voran  Spanisch und Italienisch, aber auch Russisch, Türkisch, ja sogar Chinesisch erfreuen sich  wachsenden Zuspruchs. Zumal Viele in den höheren Klassen das ursprünglich einmal favorisierte Französisch wieder abwählen. Zu schwierig? Uncool?

In Frankreich ist eine ähnliche Tendenz zu beobachten. Dort muss sich die Sprache der östlichen Nachbarn ordentlich dagegen wehren, auf Rang drei abgestuft zu werden – hart bedrängt von Spanisch. Offenbart sich hier wie dort nicht ein merkwürdiger Gegensatz? Auf europäischer Ebene sind Deutschland und Frankreich wechselseitig die deutlich wichtigsten Handelspartner. Und dies keineswegs nur bei Großprojekten wie der Kooperation bei Airbus oder der jüngst vereinbarten Übernahme von Opel durch Peugeot/Citroen. Ohne das Funktionieren der „deutsch-französischen Achse“ läuft in der EU auch politisch nichts. Warum trotzdem diesseits und jenseits des Rheins dieses Zögern bei der Annäherung an die  andere Sprache als bedeutendste Träger von Kultur und Verständigung?

Unterricht: Lebensnah genug?

Sylvia Löhrmann: „Die Grenzen meiner Sprache, sind die Grenzen meiner Welt“.

Sylvia Löhrmann empfindet diese Sichtweise als zu pessimistisch. Natürlich bedeute das Erlernen einer Fremdsprache immer auch Anstrengung – „wir haben beim Grammatikpauken schließlich ebenfalls gestöhnt“. Aber die heutigen Jugendlichen erlebten doch jeden Tag über die diversen Medien, wie eng mittlerweile nahezu alles auf der Welt vernetzt sei. Außerdem mache das Beherrschen einer fremden Sprache ja auch Spaß. So öffne etwa Französisch „die Tür zu einer wichtigen europäischen Philosophie, zu Literatur, Geschichte, natürlich auch zu besonderem kulinarischen Genuss“. Und gerade vor dem Hintergrund der „Globalisierung“ stellten Sprachen die wichtigsten Schlüssel in die Welt dar. „Die Grenzen meiner Sprache“, zitiert Sylvia Löhrmann in diesem Zusammenhang gern den österreichisch-britischen Philosophen Ludwig Wittgenstein, „sind die Grenzen meiner Welt“.

Die Ministerin kommt denn auch gleich der Frage zuvor, ob der aktuelle Sprachunterricht den Anforderungen der Zeit entspreche – den Notwendigkeiten der Arbeitswelt, den Besonderheiten der Digitalisierung usw. Selbstverständlich, sagt sie, dürften auch die „klassischen Felder der Literatur“ nicht vernachlässigt werden. Aber gerade die Abmachungen mit den drei französischen Regionen zeigten, wie sehr sich auch in der Bildungspolitik die Gewichte in Richtung Praxisnähe verschoben hätten. Deshalb Schüleraustausch über die Gymnasien hinaus, deswegen zunehmend Angebote für berufliche Praktika diesseits und jenseits der Grenzen, darum die Vereinbarung etwa mit der Académie de Lille über drei- bis achtwöchige Aufenthalte in deutschen und französischen Betrieben – von Kfz-Mechatronik über Hotellerie und Verwaltung bis zur Energie- und Holztechnik und vielem anderen mehr. Immer ist dabei der Grundgedanke: Das Fördern der Mobilität von jungen Menschen im deutsch-französischen Wirtschaftsraum. Wobei zugleich immer wieder deutlich wird, welche Vorbildrolle international das deutsche duale Ausbildungssystem mit seiner Mischung aus Praxis und Berufsschule inzwischen besitzt. Und zwar keineswegs nur im handwerklichen Bereich.

Eine Herzenssache

Sylvia Löhrmann legt mit Schülern aus NRW im Konzentrationslager Auschwitz einen Kranz nieder

Schule und Geschichtsvermittlung – das klingt nach Auswendiglernen von Jahreszahlen und ist nicht gerade prickelnd. Der aus Spanien stammende amerikanische Philosoph, Schriftsteller und Literaturkritiker George Santayana hatte da eine andere Vorstellung: „Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“.  Auch ohne dieses Zitat zu benutzen, sieht Sylvia Löhrmann das vermutlich ähnlich. Mehr noch, im Gespräch wird schnell deutlich, dass der Begriff „Erinnerungskultur“ für sie weitaus mehr bedeutet als einen Teilbereich des Schulunterrichts. Sie selbst spricht von einer „Herzensangelegenheit“. Zwei verheerende Weltkriege im 20. Jahrhundert, unvorstellbare Verbrechen an Menschen, Untaten, die sich nicht zuletzt in dem Namen Ausschwitz bündeln – nach der festen Überzeugung der NRW-Schulministerin existiert eine unauflösbarer Verpflichtung, „jungen Menschen ein umfassendes Wissen um unsere Geschichte zu vermitteln und ihnen darüber den Wert der Demokratie nahezubringen“.  Und dies vor allem „nicht in Form nackter historischer Daten mit erhobenem Zeigefinger“, sondern möglichst anschaulich. Vor Ort, sozusagen.

Für die Ministerin stehen drei Orte gleichsam symbolhaft für „Erinnerungskultur“. Da sind, erstens, die schier unendlichen Gräberfelder und Erinnerungsstätten im westbelgischen Flandern als Schreckensmahnmale für das Völkergemetzel des 1. Weltkriegs. Und da sind (zwar örtlich getrennt, aber dennoch zusammen gehörend) zweitens und drittens das einstige KZ und Vernichtungslager Ausschwitz im südlichen Polen sowie das eindrucksvolle Holocaust-Gedenkzentrum mit Forschungsstätte Yad Vashem in Israel. Schülerreisen mit entsprechender Vor- und Nachbereitung werden nicht nur mit öffentlichen Geldern unterstützt, sondern erfahren – darüber hinaus – mannigfaltige Förderung von privater Seite und von Stiftungen. Doch Löhrmann selbst fährt immer wieder mit.

„Sie waren so alt wie wir heute“

Das Menen-Tor in Ypern ehrt mit ihren eingemeißelten Namen die 54.896 vermissten Soldaten, die vor dem 15. August 1917 in den ersten drei Flandernschlachten gefallen waren.

Und erlebt dabei, wie an Orten wie diesen sich auch (und gerade) bei jungen Leuten über das reine Faktenwissen hinaus nachhaltige Eindrücke von dem verfestigen, was Menschen fähig sind, anderen Menschen anzutun. Im Museum „Flanders Fields“ im westbelgischen Ypern geben anhand von Dokumenten junge Männer (Deutsche, Briten, Franzosen, Kanadier) virtuell Auskunft über sich und ihr Leben bis zum Tod. Seither sind mehr als 100 Jahre vergangen, aber seinerzeit waren sie so alt wie die heutigen Oberstufen-Schüler. So etwas vergisst man nicht so schnell. Oder wenn in Ausschwitz der Biografie von Alten, Kindern, Männer und Frauen nachgespürt wird – von Menschen, die in den Gaskammern erstickten und in den Krematorien verheizt wurden. Oder das Erlebnis Yad Vashem…

Geschichtsvermittlung wie diese, ist die Ministerin überzeugt, „ist das Beste, was Schulen leisten können“. Nämlich bei Jugendlichen die Bereitschaft zu wecken, „Verantwortung für sich und eine demokratische Gesellschaft zu übernehmen“. Das sei tiefergehend und nachhaltiger als der „klassische Geschichts- und Politik-Unterricht allein, dessen Qualität und Bedeutung dadurch natürlich nicht ersetzt werden kann und soll“.

Somit bewahrheitet sich vielleicht auf eine bestimmte Weise dann doch der Spruch über dem Portal des alten Gymnasiums „Wissen ist Macht“. Die Macht, nämlich, mitzuhelfen, das eigene spätere Leben und das von Mitmenschen so zu steuern, dass die Lehren aus der Geschichte nie vergessen werden.

Gisbert Kuhn

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