Mit dem Wahlrecht spielt man nicht
Von Günter Müchler
Das aktuelle Zauberwort heißt Vielfalt. Erinnern Sie einen einzigen Fernsehbericht über die Olympischen Spiele, in dem der Begriff nicht mindestens dreimal vorkam? Wie finden Sie die Behauptung, dass von Demokratie erst dann gesprochen werden könne, wenn sie das Parfüm der Vielfalt atme? Was antworten Sie, wenn Feministinnen Ausgleichsmandate für den Männerüberhang im Bundestag fordern? Wenn LGTB-Aktivisten dem Parlament die demokratische Legitimität bestreiten, solange kein Angehöriger des Irokesenstammes mit deutschem Pass ein Mandat hat?
Sie mögen fragen, wo der Zusammenhang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Wahlrechtsnovelle der Berliner Ampel-Regierung besteht. Sagen wir es so: Die Erhebung der Vielfalt zur Nationalheiligen („Einigkeit und Recht und Vielfalt…“) hat Verwirrung in die Köpfe getragen. Man weiß nicht mehr so recht, was wichtig und was unwichtig ist. Was man tun darf und was man lieber unterlassen sollte. Was der Demokratie guttut und was nicht. Wo die Hierarchie der Werte nur noch als Nebelschwaden existiert, nimmt es nicht wunder, dass in der Politik der Mutwille wächst, gesetzgeberisch Hazard zu spielen nach dem Motto: Probieren wir es einfach mal.
Dafür wurde die Ampel jetzt zum dritten Mal von Karlsruhe zurückgepfiffen. Das erste Mal, vielleicht erinnern Sie sich, ging es um Habecks Heizungsgesetz. Es wurde so schnell durch den Parcours gejagt, dass das Gericht die Rechte des Parlaments verletzt sah. Kurz darauf wurde die Ampel bei dem Versuch erwischt, Haushaltsmittel nach Hausherrenart herumzuschieben. Wieder zeigte Karlsruhe die Karte. Nun scheiterte auch der dritte Streich. Das neue Bundeswahlgesetz der Koalition verstößt in Teilen gegen die Verfassung.
Wollte Rot-grün-gelb der Konkurrenz mal eben ein Bein stellen? Aus vielen Untersuchungen wissen wir, dass bei der Bevölkerung das Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen schmilzt, besonders im Osten Deutschlands. Man mag darüber den Kopf schütteln. Die Ossis! Überall sehen sie Schlossgespenster! Doch so einfach ist die Sache nicht. Wahlrecht ist demokratisches Hochsicherheitsgebiet. Der bloße Verdacht, es werde zurechtgebogen, nährt Misstrauen, schürt Verschwörungstheorien und bläst Wind in die Segel des Demokratieverächter.
Die Wahlrechtsreform hat eine quälend lange Vorgeschichte. Es geht um den Umfang des Bundestags. Eigentlich soll die Zahl der Sitze 598 betragen, mindestens. Momentan sind es 733, zu viel also. Zu teuer, sagt der Bund der Steuerzahler – und hat Recht. Man kann den Fall aber auch anders betrachten. Im Unterschied etwa zum britischen Unterhaus wollte der Bundestag von Anfang an ein Arbeitsparlament sein, das heißt ein Gremium, das aktiv an der Ausarbeitung von Gesetzen teilnimmt, statt die Vorlagen der Regierung nur abzunicken. Nach diesem Selbstverständnis ist es nicht unbedingt ein Nachteil, wenn die Volksvertretung dem Übergewicht der Verwaltung etwas mehr entgegensetzen kann.
Unstrittig sind die Ursachen der parlamentarischen Adipositas. Es gibt Parteien, die üblicherweise eine Menge Direktmandate erringen, das heißt über die Erststimme. Die CSU ist so eine. Offenbar schickt sie bessere Kandidaten ins Rennen als die anderen, was ja nicht verboten ist. Durch den Erfolg mit der Erststimme können Überhangmandate entstehen, die durch Ausgleichsmandate für die weniger Erfolgreichen weitestmöglich neutralisiert werden sollen. Schon ist die Situation oder besser der Überhang da. Die Bundestagsverwaltung muss parlamentarische Sitzgelegenheiten nachbestellen. Das macht Arbeit, kostet Geld (wenn auch nicht so viel wie der Bau von Radwegen in Peru mit Geld aus dem Etat der Entwicklungshilfe) und ist insofern ärgerlich. Eines ist es jedoch mit Sicherheit nicht: undemokratisch. Die Sitzvermehrung kommt ja gerade durch das Bemühen zustande, möglichst wenig Stimmen unter den Tisch fallen zu lassen, also besonders demokratisch zu sein.
Die Absicht der Demokratieförderung kann man den Dirigenten in der Ampel leider nicht unterstellen. Andernfalls hätten SPD, Grüne und FDP ihrem Vorschlag nicht die Abschaffung der Grundmandatsklausel untergemischt. Und zwar handstreichartig, wie die FAZ zu Recht vermerkte. Richtig, die Christsozialen haben in den vergangenen Jahren alle Reformvorschläge blockiert. Sie wollten eine Praxis, die ihr günstig ist, unbedingt beibehalten. Nun ist eigennütziges Verhalten im Politikbetrieb üblich. Bloß gewinnt, wer immer im Bremserhäuschen sitzt, keine Freunde. So hatte die Streichung der Grundmandatsklausel denn auch von Anfang an einen üblen Beigeschmack. Sie wirkte wie eine Vergeltungsmaßnahme.
Sinn dieser Klausel war und ist, die Folgen der Fünf-Prozent-Hürde abzumildern. Die Hürde, deren Rechtmäßigkeit das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich anerkennt, soll das Parlament vor Zersplitterung bewahren und die Mehrheitsfindung erleichtern. Das gelang in der Vergangenheit gut. Die Bonner Republik wurde für ihre Stabilität allseits gerühmt. Der Einwand, die Hürde bevorzuge die etablierten Parteien nach Closed-Shop-Manier, ist zwar nicht vollständig von der Hand zu weisen, wurde aber auch immer wieder von der Wirklichkeit dementiert. Bündnis 90/Die Grünen zogen als Newcomer in den Bundestag ein, was später auch der Linken und der AfD gelang. Hingegen ist unbestreitbar, dass viele Stimmen unter den Tisch fallen, wenn eine Partei die Hürde reißt. Um den demokratischen Schaden zu mildern, wurde die Grundmandatsklausel geschaffen. Davon profitierte zuletzt die Linke, Obwohl sie 2021 weniger als fünf Prozent einfuhr, konnte sie sich im Bundestag behaupten. Denn sie hatte drei Direktmandate errungen.
Als SPD, Grüne und FDP im März ihren Gesetzesvorschlag einbrachten, taten sie harmlos. Dabei war jedermann war klar: Die Abschaffung der Grundmandatsklausel würde das parlamentarische Aus für die Linke bedeuten. Und womöglich auch für die CSU. Bekanntlich kandidieren die Christsozialen nur in Bayern. Zuletzt kamen sie – bundesweit umgerechnet – auf knapp über fünf Prozent. Ohne Sicherung durch die Grundmandatsklausel könnte die CSU demnächst durch den Rost fallen. In diesem Fall träte das folgende Szenario ein: Die Partei mit den meisten Stimmen hätte keinen einzigen Abgeordneten im Bundestag, die bajuwarischen Leichtgewichte schon. Bayern wäre im Plenarsaal des Reichstags nur durch Mandatsträger von AfD, Grünen und SPD vertreten – von Parteien also, die es bei der letzten bayerischen Landtagswahl (zusammenaddiert) noch nicht einmal auf 40 Prozent brachten.
Und der Volkswille? Wo bleibt der, fragen Sie? Richtig. Mehr Demokratie wagen, das versprach schon der sozialdemokratischen Übervater Willy Brandt. In seiner Nachfolge singen die Berliner Ampelparteien jeden Sonntag das Hohe Lied der Demokratie. Sie predigen Vielfalt, erfinden Bürgerräte und implantieren im Dutzend Beauftragte und Stabsstellen, die Minderheiten „sichtbar machen“ und vor Diskriminierung schützen sollen. Im selben Atemzug verabschiedeten sie ein Gesetz, das – hätte Karlsruhe nicht die Stopptaste gedrückt – schon bald Millionen Wähler in den April schicken würde. Ein Anschlag auf die Demokratie? Für den Schaden genügt schon der Anschein…
Ob 2025 nach altem Recht gewählt wird oder ob es, unter Einschluss von CDU und CSU, doch noch rechtzeitig zu einer Novelle kommt, die eine Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht fürchten muss, ist momentan offen. Von einem Hauruckverfahren kann man nur abraten. Die gegenwärtige Situation im Plenarsaal entspricht vielleicht nicht den ästhetischen Ansprüchen gehobener Innenarchitektur, aber der parlamentarische Lebensraum ist bei 733 Abgeordneten keinesfalls akut gefährdet. Und die Mehrkosten für Sitzmöbel ließen sich leicht kompensieren. Man brauchte nur auf eine der teuren Kampagnen für „Einigkeit und Recht und Vielfalt“ verzichten.
Noch besser wäre, für die Zukunft auszuschließen, dass das Wahlrecht durch einfache Mehrheit geändert werden kann. Gerade sind Regierung und Opposition dabei, die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts auf dem Wege einer Grundgesetzänderung besser zu schützen. Dies könnte ein Vorbild sein. Die Bindung jedweder Wahlrechtsveränderung an eine Zwei-Drittel-Mehrheit würde das Vertrauen der Staatsbürger in die Demokratie stärken und den Bundestag schützen – notfalls vor sich selbst.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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