Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Alle klagen über das in Deutschland grassierende Übermaß an Bürokratie. Die Wirtschaft, die Bürger und (wenn auch noch nicht so lang) nun auch die Politik. Es erfordere viel zu viel Zeit von de Planung welches Projekts auch immer bis zu dessen Vollendung – falls es denn überhaupt irgendwann einmal in Angriff genommen werden sollte. Die früher hervorragend mit Russengas arbeitende und in der Folge des Putin´schen Überfalls auf die Ukraine von dieser Energiequelle plötzlich abgeschnittene bayerische Wirtschaft ruft hilfesuchend nach norddeutschen Windkraftstrom. Aber breite Teile der weißblauen Bevölkerung demonstrieren (nicht selten dirigiert von grün-bewegten Bürgerinitiativen) gegen den Bau der für den Transport notwendigen Trassen. Die Deutsche Bahn ist, sicher nicht zu Unrecht, in der Kritik wegen ihrer Unpünktlichkeit und des schlechten Zustands des Schienennetzes. Aber praktisch sämtliche Neubau-Absichten stießen und stoßen – siehe in Niedersachsen zwischen Hannover und Hamburg, siehe bei Offenburg für den Verkehr nach Süden – auf den erbitterten Widerstand der Anwohner. Kurz: Energiesicherheit und moderner Öffentlicher Nahverkehr selbstverständlich ja, aber die dafür notwendigen Infrastrukturen bitte nicht vor meiner Haustür.

Wohl kaum ein Bundesbürger, der nicht von Beispielen im Umgang mit Behörden oder Vorkommnissen berichten könnte, gegen die selbst die berühmten Schildbürgerstreiche harmlos erscheinen. Klar, wir alle wollen Fortschritt und Bequemlichkeit, Strom und Wärme, innere und äußere Sicherheit, Ausbau der Sozialsysteme plus möglichst absoluten Umweltschutz, dazu eine Politik, die jedermann zufrieden stellt und – ganz klar – absolute Gerechtigkeit. Dies (und, wenn es sein muss, noch viel mehr) fällt einem ein beim Scrollen zum Beispiel in facebook. Dort steht nämlich ziemlich häufig die Weisheit zu lesen, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit den unerfreulichen Wähler-Ausschlägen hin zu den radikalen Rändern links und rechts gäbe es mit Sicherheit nicht, „wenn die da oben Politik für das Volk machen würden“. Ein Satz, eine These, so prägnant und klar, dass man sich fragt, warum die Worte nicht schon längst als politische Handlungsmaxime in die Mauern des Berliner Reichstagsgebäudes und des Kanzleramts gehämmert wurden.

Politik „für das Volk“. Wer würde das nicht ohne Zögern unterschreiben? Zumal es schließlich ohnehin zum politischen Amtseid der von uns Gewählten gehört, alle Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden. Aber was ist denn das eigentlich – „das Volk“. Etwa eine homogene Einheit, geleitet von denselben Wünschen und Vorstellungen, mithin ständig an einem gemeinsamen Strang ziehend? Oder sind es nicht eher jene mehr als 80 Millionen Individuen, die in – nicht selten in von sehr persönlichen Erwartungen und Wünschen bestimmten – diversen kleinen und großen Interessengruppen organisiert Druck ausüben auf „die da oben“. Das ist, ohne Frage, in einer Demokratie legitim und inhaltlich oft auch nachvollziehbar. Tatsächlich gehören sie alle zu diesem „Volk“. Kirchen, Gewerkschaften, Unternehmerverbände, soziale Organisationen, Sport- und Kulturvereine. Kurz: Wir alle. Wir sind, in unserer ganzen Vielfalt, dieses „Volk“, für das  „die da oben Politik machen“ sollen.

Und zwar nicht bloß einfach Politik, sondern natürlich „gerechte“ Politik. Auch darin, also in dieser abstrakten Erwartung, sind wir uns sämtlich wahrscheinlich einig. Nur – was ist Gerechtigkeit, was ist gerecht? An einer amerikanischen Uni wurde diese Frage vor einiger Zeit einmal einem Test unterzogen, dem sich-  übrigens – jeder Stammtisch ganz leicht anschließen könnte. Einer Gruppe (getrennt voneinander sitzenden) Probanden wurde die Aufgabe gestellt, auf ein leeres Blatt Papier ihre jeweiligen Vorstellungen von „Gerechtigkeit“ zu schreiben. Das Ergebnis war: Es gab sie nicht, „die“ Gerechtigkeit, weil praktisch Jeder andere Vorstellungen davon und Erwartungen daran hat. Vielleicht nicht im Prinzip, wohl jedoch im Detail oder in der Praxis. Was dem einen gefällt, kann der andere ganz anders empfinden. Wie sehr sich die Bürger von politischen Entscheidungen gerecht oder ungerecht getroffen fühlen, hängt von tausenderlei Dingen ab – von der sozialen Situation bis hin zu sehr unschönen menschlichen Eigenschaften wie Neid oder Zukunftsängsten.

Das ist bei uns wohl nicht anders als in Frankreich, Italien, Norwegen oder sonst wo auf dem Globus. Was uns Deutsche aber, fraglos, von vielen Nachbarn unterscheidet, ist ein ausgeprägter Hang zur Perfektion. Und zwar leider auch in Politik und Verwaltung. Kein anderes Land auf dem Erdball hat sich ein auch nur annähernd so umfang- und detailreiches  Steuerrecht geschaffen wie Deutschland. Kaum irgendwo sonst besitzen Gesetze so viele Ausnahmeregeln wie hier. Und es dürfte, darüber hinaus, schwerfallen, noch andere Demokratien (ganz zu schweigen von Diktaturen und Quasi-Demokratien wie Ungarn) zu finden, in denen sich die Bürger auf der Suche nach ihrem Recht durch so mannigfaltige Instanzen klagen können wie in dem Gebiet zwischen Flensburg und Konstanz sowie Rhein und Oder. Allerdings werden auch nicht überall Rechtsschutzversicherungen angeboten, die in vielen Fällen ein kostengünstiges Klagen ermöglichen. In Belgien, etwa, müssen die am Prozess Beteiligten – ungeachtet vom Ausgang – ihre Kosten selber tragen. Das vermindert schon mal die Zahl der Bagatell-Fälle beträchtlich.

Nun soll die gute Absicht beim Gesetzmachen überhaupt nicht bestritten werden, möglichst allen im Lande „gerecht“ zu werden. Aber genau das beraubt die Politik eines wesentlichen Teils ihrer eigentlichen Bestimmung. Diese besteht eigentlich vor allem darin, Rechtsverhältnisse zu schaffen, unter deren Schirm sich möglichst die gesamte Gesellschaft versammeln kann. Also ein Gemeinschaftsrecht, das damit nicht Allen immer in gleicher Weise gefällt, aber in seiner Breite Spielraum lässt. Tatsächlich aber gefällt sich unser Land (und wir Bürger tun es mit ihm) schon seit langer Zeit immer mehr als Meister von abertausenden Individualgerechtigkeiten. Kaum ein Gesetz ohne einen Rattenschwanz an Ausnahmen vor allem im Steuerwesen sowie bei Wirtschaft und Industrie. Das Ergebnis: Massenware (Schein) Gerechtigkeit. Beim Versuch, möglichst Allen und Allem gerecht zu werden, sind bei Weitem nicht nur „die da oben“ dem hehren Ziel „Gerechtigkeit“ nicht nähergekommen. Wir Bürger haben daran kräftig mitgearbeitet mit unseren Klagen und unserem Protestgeschrei.

Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte dieser Tage beim Einbringen des nächstjährigen Bundeshaushalts angesichts der vielstimmigen öffentlichen Kritik einen bemerkenswerten Satz: „Der vermutlich beste Haushalt wäre einer, gegen den alle anderen Parteien gleichermaßen Sturm liefen“. Das war, gar keine Frage, zynisch. Und doch steckt hinter diesen Worten mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Man muss die Aussage nur umdrehen. So wie es nie eine einzige Wahrheit geben kann, so wenig ist eine allumfassende Gerechtigkeit herzustellen. Das Beste was „die Politik“ (die ja schließlich von Menschen gemacht und von uns gewählt wird) zu leisten vermag ist, sich einer Situation so weit wie möglich anzunähern, die vom möglichst vielen Zeitgenossen als zumindest erträglich empfunden wird. Dann könnte es – möglicherweise – gelingen, Überbürokratisierung und Aber-nicht-bei-mir-Proteste so einzugrenzen, dass die Entfaltungskräfte im Land wieder Luft bekommen.

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