Man hört einander nicht mehr zu
Von Gisbert Kuhn

Wie soll eigentlich eine Gesellschaft, ein Volk, friedlich und in Harmonie zusammenleben, wenn große Teile davon sich nicht einmal mehr gegenseitig zuhören? Wie will man sich als Gesellschaft den Problemen von Gegenwart und Zukunft stellen, wenn zu deren Lösung und Bewältigung immer umfangreichere Bevölkerungsgruppen zunehmend weniger wissenschaftliche Erkenntnisse und nachprüfbare Fakten akzeptieren und stattdessen in eine Glaubens- und Gedankenwelt zurückkehren, die bereits vor Jahrhunderten, spätestens mit der „Aufklärung“ überwunden zu sein schien?
Mit diesem Phänomen steht Deutschland nicht allein in der Welt. Ähnliches, und das dort sogar mit deutlich größerer Dramatik, hat unser Land (haben zumindest nicht unerhebliche Teile seiner Bürger) mit den USA gemeinsam. Wobei die dort nicht erst seit der Präsidentschaft Donald Trumps zu beobachtende Auflösung der Gesellschaft natürlich in ihrer Auswirkung auf die restliche Welt ungleich ernster ist. Aber in unserem näheren Umfeld, in Europa also, suchen die sich momentan zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz abspielenden Vorgänge schon ihresgleichen.
Nehmen wir ein Beispiel: Objektiv und ganz einfach nachkontrollierbar steigen seit Beginn der Herbstzeit die Zahlen der sich täglich neu mit dem Corona-Virus ansteckenden Menschen sprunghaft an. Das sind keine „Angst-Zahlen“, die von einer bösartigen Bundesregierung hinausposaunt werden, “um Angst und Panik zu verbreiten“. Das sind Sorge bereitende Daten, die unterfüttert werden von Schilderungen und Bildern aus Krankenhäusern. Sogar beim Studium der Traueranzeigen in Zeitungen stößt man mittlerweile immer häufiger auf „Covid 19“ als Todesursache. Jede Regierung, die auf solch pandemische Entwicklungen nicht mit aller Macht und sämtlichen zur Verfügung stehenden Mitteln reagieren würde, machte sich zumindest (und zwar wirklich „zumindest“ ) der unterlassenen Hilfeleistung schuldig. Eigentlich logisch, oder?
Von wegen. Woche für Woche demonstrieren tausende und abertausende von Menschen aus ganz Deutschland dagegen. Wie gerade wieder in Dresden und anderen Städten. Viele Teilnehmer wedeln mit dem Grundgesetz – und müssen, bei Nachfragen, eingestehen, es in den meisten Fällen nie gelesen zu haben. Andere, wiederum, schreien „Diktatur“ und „Abschaffung der Meinungsfreiheit“. Darüber könnte man eigentlich laut lachen, wäre die Sache nicht so ernst. Denn beträchtliche Gruppen der Protestler sind nicht weit von der Grenze zur Gewaltanwendung entfernt. Die Komik drängt sich ganz einfach deshalb auf, weil diese Leute doch gerade jenes Demonstrationsrecht und jene Meinungsfreiheit für sich in Anspruch nehmen, die angeblich durch „die finsteren Mächte da oben“ bedroht seien.
Nun ist es kein Wunder, dass viele Menschen – bildlich gesprochen – keinen festen Boden mehr unter den Füßen zu verspüren glauben. Denn tatsächlich übersteigen die politischen Ereignisse sowie technischen , wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre vieles von dem, was oft selbst interessierte und aufgeschlossene Menschen zu verarbeiten in der Lage sind. Der Zusammenbruch des Kommunismus´ und seinem Machtbereich, in dessen Folge Deutschland zwar seine nationale Wiedervereinigung erreichte, deren Umbrüche aber von den Bürgern im Osten mitunter fast Übermenschliches an Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit verlangten. Die Kriege auf dem Balkan, im Nahen und Mittleren Osten mit militärischem Engagement ausgerechnet jenes Deutschlands, das nach der Katastrophe der Nazi-Diktatur „Nie wieder!“ geschworen hatte. Und schließlich: Das Millionenheer der Flüchtlinge, das es zu Beginn des neuen Jahrtausends als Treibgut genau dieser Kriege vor allem nach Deutschland geschwemmt hat.
Das alles hat, ohne jeden Zweifel, das Land mit ziemlicher Wucht durchgerüttelt. Das Land, seine Führungselite, aber auch die Gesellschaft, die gerade in der gegenwärtigen Krisenzeit erkennen lässt, dass sie noch längst keine belastbare Nation geworden ist. Sicher, gemessen an der Gesamtzahl von rund 80 Millionen Einwohnern erscheinen auch ein paar hunderttausend Protestler mit Grundgesetzen in den Händen und Alu-Hüten auf den Köpfen nicht übermäßig bedeutend. Aber sie bilden, andererseits, zumindest eine deutlich wahrnehmbare Facette innerhalb eine Reihe fragwürdiger Hergänge innerhalb unserer Gesellschaft. Ganz sicher will kein vernünftiger Mensch eine gewalttätige, prügelnde und sich quasi außer Kontrolle bewegende Polizei. Und, gar keine Frage, sollten sich dort (oder auch bei der Bundeswehr) tatsächlich nationalsozialistisches Denken, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus breit gemacht haben, dann darf es dafür auch nicht einen Funken von Pardon geben.
Aber: Wer von uns braven Bürgern möchte in der Haut der – meistens – jungen uniformierten Beamtinnen und Beamten stecken, etwa wenn diese eingesetzt werden, um prügelnde Hooligans in oder vor Fußballstadien zu trennen? Oder um zu jeglicher Gewalt entschlossene linke und rechte Politextremisten an Ausschreitungen zu hindern? Wo und wann hätte es denn schon mal eine machtvolle Demonstration für die Sicherheitskräfte gegeben, wenn diese mit Stahlkugeln beschossen, Pflastersteinen und Explosivkörpern beworfen, von angeblich friedlichen „Aktivisten“ bespuckt, mit Exkrementen beworfen oder bei der Ausübung ihrer Pflichten behindert, ja körperlich bedroht wurden? Berufsrisiko sei das? Das kann man so sehen. Aber mit Gemeinsinn hätte das nichts zu tun.
Es ist ja nicht so, als werde dies in der Gesellschaft nicht wahrgenommen. Das Problem besteht, unter anderem, halt darin, dass zu wenig Menschen dagegen aufstehen. Und zwar ganz zuvorderst jenen, die im Rampenlicht stehen – also (Ausnahmen gibt es) von den Politikern. Natürlich folgen nach jedem Anschlag bedauernde Worte. Aber warum haben sich die in Verantwortung stehenden politischen Lager gleichwohl im Bund als auch in den Ländern nicht längst ganz klar aufgestellt, um endlich sowohl den Extremisten rechts (neonazistische Horden und „Kampfsportgruppen“ eingeschlossen) und links („Antifa“ etc.) als auch den islamistischen Mordbuben den Garaus zu machen? Logisch, dass – vor allem bei Letzteren – Täter und Herkunft benannt werden sollten. Toleranz und Liberalität sind, ohne Zweifel, hohe Güter. Aber sie werden nicht selten eben auch herangezogen, um mangelnden Mut zu kaschieren. Wenn jemand gemordet, vergewaltigt oder was auch immer begangen hat, dann gehört er benannt. Ganz egal, ob ein Türke, Syrer oder (wie es seit Neuestem heißt) „Biodeutscher“. Durch eine solche Benennung würde – welch ein unsinniges Argument! – ganz sicher keine Volks- oder Glaubensgruppe „unter Generalverdacht gestellt“.
Hier sind die Demokraten gefordert. Angefangen von den Bürgern bis hin zu den demokratischen Parteien. Vor allem wenn diese nicht offen, laut unzweideutig die Entwicklungen ansprechen und aktiv angehen, die von den Bürgern als bedrohlich empfunden werden, dann werden automatisch jene Kräfte tätig im Land, die sich wirklich niemand wünschen sollte.
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