Martin Luther – Wortschöpfer und Sprach-Titan

Von Gisbert Kuhn

Martin Luther

Wie oft hat jeder wohl schon erleben müssen, dass sogar die bestgemeinten Ratschläge auf taube Ohren stießen und bei einem selber das bittere Gefühl zurückblieb, man habe „Perlen vor die Säue geworfen“. Die Enttäuschung darüber konnte dann durchaus dazu führen, dass auseinander ging, was bis dahin „ein Herz und eine Seele“ war. Andererseits – ist es nicht oft besser gewesen, dem Gebot der Klugheit zu folgen und „die Zähne zusammen zu beißen“, statt seinen Ärger „hinaus zu posaunen“? Schließlich war dem Gesprächspartner doch anzusehen, dass ihm die freundlichen Empfehlungen völlig unverständlich erschienen; wie ein „Buch mit sieben Siegeln“ halt.

Mehr als nur Wortklauberei

Anders formuliert – was einem selbst als kluger Tipp erschien, trug beim Gegenüber absolut nicht zur Erhellung bei, sondern ließ ihn weiter „im Dunkeln tappen“. Ja…, und? Das mag zwar alles eine ganz hübsche Klauberei mit Worten und Begriffen sein. Aber wozu? Schließlich kennt man die Ausdrücke doch alle, und „Krethi und Plethi“ gebraucht sie gewiss dutzendfach jeden Tag. Ganz recht. Man führt sie im Munde, weil vor allem Redewendungen und Sprachbilder wunderbar passen, um bestimmte Tatbestände zu untermauern oder Charakteristika zu beschreiben. Zum Beispiel: Diese oder jene Behauptung sei doch absolut fragwürdig und deshalb erkennbar „auf Sand gebaut“. Oder: Der da drüben so fromm tut, das ist in Wirklichkeit „ein Wolf im Schafspelz“. Was wäre das bloß für eine trockene, seelenlose Sprache, gäbe es nicht diese farbenfrohen Bilder! Man müsste ja „mit Blindheit geschlagen sein“, würde geradezu sein „Licht unter den Scheffel stellen“, um nicht zu sagen „aus seinem Herzen eine Mördergrube machen“, griffe man nicht „mit Feuereifer“ in das Füllhorn solch würziger Sprachkraft.

In diesem Jahr gedenken (nicht nur, aber vor allem) die Protestanten des Beginns der Reformation, die allgemein auf das Jahr 1517 datiert wird. Genauer: Auf den 31. Oktober vor 506 Jahren, an dem der Augustinermönch Martin Luther seine berühmten 95 Thesen angeblich an der Tür der Schlosskirche von Wittenberg befestigt haben soll – „mit Hammerschlägen, die durch ganz Europa hallten“. Die moderne Forschung verweist diese, über Jahrhunderte gepflegte, Version freilich mittlerweile in den Bereich der Legende und ist überzeugt, dass Luther das in „Thesen“ geflossene Ergebnis seines zornigen Nachdenkens über das Papsttum und den Zustand der damaligen Kirche in Wirklichkeit seinen theologischen Vorgesetzten und seinem Landesherrn zukommen ließ, dem sächsischen Kurfürsten Friedrich. Das soll allerdings nicht Gegenstand dieser Betrachtung sein; ebenso wenig wie die dramatischen Nachwirkungen der Reformation für die politischen Ereignisse der folgenden Zeiten. Vielmehr geht es hier um den prägenden Einfluss Luthers auf die deutsche Sprache.

Grobian und spitzfindiger Disputant

Die oben zitierten, heute zu Jedermanns Sprachschatz gehörenden, Begriffe, Redewendungen und Ausdrucksarten haben sich ja keineswegs im Verlauf der Jahrhunderte in die Alltagsdiskurse geschmuggelt – sind also nicht quasi aus dem Nichts heraus gekommen. Vielmehr gehen sie „samt und sonders“ auf Martin Luther zurück. Der Mann aus Wittenberg hatte offensichtlich ganz viele Eigenschaften in sich vereinigt. Zeitgenossen schildern ihn als Choleriker und Grobian, aber auch als spitzfindigen Disputanten. Vor allem aber muss er ein wahrer Sprachtitan gewesen sein. Was für ein armseliges Idiom wäre das Deutsche wohl ohne solch inhaltsschwere Ausdrücke wie Lückenbüßer, wetterwendisch, Machtwort, Feuereifer, Langmut, Lästermaul und Morgenland?! Gewiss, nicht alles, was Luther zugeschrieben wird, ist durch Weggenossen oder Aufzeichnungen zweifelsfrei belegt. Aber zu ihm als Autor passen, würde es schon. Wie zum Beispiel: „Warum furzet und rülpset Ihr nicht? Hat es Euch nicht geschmacket? Oder auch „Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz“. Könnte Duckmäusertum, Kleinmut oder Ängstlichkeit kürzer und trefflicher beschrieben werden?

Martin Luthers bahnbrechende Leistung war nicht die Übersetzung der Bibel als solche. Übertragungen des Alten wie des Neuen Testaments hatte es schon vor ihm gegeben. Doch sie alle hatten die bereits 1000 Jahre alte, aus der griechischen Urfassung  oft ungenau ins Lateinische (die so genannte Vulgata) überführte, Form zur Grundlage. Zudem mochten mit der gestelzten Sprachform zwar der Klerus und die Gelehrten klarkommen, das gemeine Volk jedoch verstand den Inhalt nicht – was vermutlich durchaus auch so gewollt war. Ganz anders Luther. Der aufsässige Augustinermönch war nach dem couragierten Auftritt („Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir“) zur Verteidigung seiner „Thesen“  vor dem in Worms tagenden Reichstag am 4. Mai 1521 zum eigenen Schutz von den Truppen des sächsischen Kurfürsten Friedrich der Weise „entführt“ und als „Junker Jörg“ auf die Wartburg bei Eisenach verbracht worden.

In nur elf Wochen übersetzt

Martin Luther. Philipp Melanchthon. Johannes Bugenhagen und Johannes Oekolampad bei der Bibel-Übersetzung

Hier machte sich der 38-jährige Theologieprofessor aus Wittenberg an die Übersetzung der Bibel ins Deutsche, zunächst des Neuen Testaments. Natürlich nicht allein, sondern mit Hilfe von Freunden. Darunter der des Philosophen Philipp Melanchthon. Dennoch ist, aus heutiger Sicht, kaum nachzuvollziehen, wie Luther das mehr als 200 Seiten umfassende Werk in nur elf Wochen (!) bewältigen konnte. Um die volle Bedeutung dieser Leistung würdigen zu können, muss man sich in die sprach-kulturelle Realität Deutschlands im ausgehenden Mittelalter versetzen. Der fragliche geografische Raum war heillos in kleine und kleinste Sprachparzellen zersplittert. Eine auch nur halbwegs einheitliche Verständigung gab es nicht, dafür existierten ungefähr 20 verschiedene Sprachen und Dialekte. Noch krasser waren die Unterschiede im Schriftdeutsch. Luthers Meisterstück bestand deshalb darin, eine Form gefunden zu haben, die stil- und sprachbildend für Jahrhunderte und daher die Grundlage für eine einheitliche deutsche Sprache war. Anders gesagt: Luther hat „deutsch“ zwar nicht erfunden. Er hat es aber wohl entscheidend geformt und mit geprägt, indem er allen Menschen zwischen der Nordseeküste und (auch die Grenzen überschreitend) den Alpen verständlich das Wort Gottes vermittelte.

Hierfür suchte (und fand) Luther Wörter, grammatikalische Formulierungen und Schreibweisen mit einer – möglichst schon vorhandenen – Verbreitung und Verständlichkeit. Wobei auffallend ist, dass der ansonsten (z. B. in seinen Schmähschriften und überlieferten Tischreden) dem „Grobianismus“  und der (heute würde man sagen) „Fäkalsprache“) durchaus zugewandte Wittenberger in seiner Bibelübersetzung fast vollständig darauf verzichtet. Der Kölner Sprachforscher Hartmut Günther nennt Luthers Bibeldeutsch vielmehr „gehoben“. Aber der Reformator wollte seine Sprachgewalt trotzdem so volkstümlich, lebensnah und bildhaft wie möglich bei den Menschen ankommen lassen. Darum kleidete er seine Gedanken in eigenwillige Ausdrücke, schuf poetische Bilder und erfand – oft erst nach tagelangem Grübeln – neue Wortspiele. Er selbst formulierte sein Anliegen so: „Man muss die Mutter im Haus, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden und danach dolmetschen; so verstehen die es denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet“.

Tischreden und Lebensweisheiten

Bibel von Martin Luther, Wittenberg, 1561

Dass der Doktor Martinus Luther ein Freund der deutlichen Sprache war, ist durch viele Beispiele belegt. Wobei freilich zu bedenken ist, dass die Ausdrucksweise des Mittelalters durchaus „körperlich“ war und nicht wenige Begriffe eine andere Bedeutung hatten als heute. So war etwa „Maul“ in allen sozialen Schichten nichts anderes als das heute gängige „Mund“. Wahre Fundgruben der Luther´schen Sprachgewalt sind die überlieferten Tischreden. Es muss munter zugegangen sein, wenn sich im Haus des Reformators nicht nur die Familie um den in aller Regel üppig gedeckten Tisch versammelte, sondern sich auch Verwandte, Studenten oder Freunde dazu gesellten. Kein Thema wurde offensichtlich ausgelassen. Vom Sommer 1531 an hatte der Zwickauer Pfarrer Konrad Cordatus während der Mahlzeiten mitgeschrieben. Andere Gäste folgten bald seinem Beispiel und wurden vom Tischherrn durchaus darin bestärkt, seine Ausführungen möglichst wörtlich der Nachwelt zu überliefern.

Dadurch sind wir heute im Besitz nicht nur des theologischen Gedankenguts Luthers, sondern auch zahlreicher nützlicher Lebensweisheiten. Zum Beispiel: „Wer kein Geld hat, dem hilft nicht, dass er fromm ist“. Dieser Erkenntnis wird wohl kaum jemand widersprechen. Das gilt in gleicher Weise für den auf vielen Trinkbechern prangenden Spruch: „Wer nicht liebt Wein, Weiber und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang“. Selbst stressgeplagte Stadtoberhäupter unserer Tage könnten bei Martin Luther Trost finden: „Wenn der Bürgermeister seine Pflicht tut, werden kaum vier da sein, die ihn mögen“.  Wohl gemerkt – diese Einsicht ist schon ein halbes Jahrtausend alt…

Nachschrift: Wir erleben gerade in dieser boomenden Zeit der Smartphones und Tablets wieder eine Revolutionierung unserer Sprache. Während Martin Luther die Sprache als wichtigsten Kulturträger des Volkes mit blumigen Wortschöpfungen, kraftvollen Bildern und ausdrucksvollen Metaphern nachhaltig bereicherte, müssen sich bei der momentanen Tendenz zur Minimalisierung und Banalisierung von Wortschatz, Grammatik und Verständigungsklarheit linguistischer Fortschritt und verbale Nachhaltigkeit noch erst erweisen. Aus Erfahrung (und Überzeugung) jedenfalls erscheint Luthers Ratschlag „Tritt frisch auf! Tu´s Maul auf! Hör bald auf“! bedenkenswerter als ein digital gedankenlos hin getipptes „Lol“. Die Probe auf Beständigkeit – vielleicht kommt sie nach Ablauf der nächsten 506 Jahre.  Fürs erste jedenfalls findet der – vielleicht altmodische – Autor Luthers „Auf fremdem Arsch ist gut durchs Feuer reiten“ (sagt man, wenn jemand auf anderer Leute Kosten Vorteile zu erlangen sucht) lustiger als RFOL. Obwohl das Kürzel für „Rolling on the floor laughing“ steht; also für „Kugelt sich vor Lachen“. 

 Gisbert Kuhn ist Journalist und war viele Jahre lang Korrespondent in Bonn und Brüssel.

Titelfoto: Auf dem Reichstag in Worms wird über Luther die Reichsacht verhängt. Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen schützt Luther durch“Entführung“ auf die Wartburg. Dort übersetzt er das Neue Testament, später die gesamte Heilige Schrift ins Deutsche.

 

 

 

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