Von Hartmut Löwe

PLÄDOYER FÜR EINE REALISTISCHE CHRISTLICHE FRIEDENSETHIK

 

  1. Böses Erwachen
© DangrafArt auf Pixabay.com

Am 24. Februar dieses Jahres gab es ein böses Erwachen. In Europa herrschte Krieg. Über viele Wochen hatte sich der Überfall Putins auf die Ukraine angekündigt. Hunderttausende Soldaten mit schwerem Kriegsgerät waren an den östlichen Grenzen der Ukraine in Stellung gebracht worden. Aber die westliche Welt – ausgenommen die Vereinigten Staaten von Amerika, deren Geheimdienste täglich einen nahen Krieg ankündigten – wollte die Gefahren nicht wahrhaben, trotz der vorausgegangenen Kriege Putins in Tschetschenien, Georgien, Syrien und um die Eroberung der Krim. Dabei hatte Putin seine Absichten mündlich und schriftlich unmissverständlich erkennen lassen. Verhandlungen seien geboten, war die allgemeine Devise der Politik. Keine militärischen Vorkehrungen. Das Furchtbare wollte keiner denken.

Wirklichkeitsverweigerung

Als der Krieg ausgebrochen war, reagierten der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der Magdeburger Bischof Johann Friedrich Kramer, und viele andere aus Kirche und Gesellschaft mit einem erwartbaren Reflex: Nein, Waffen solle man den sich verteidigenden Ukrainern nicht liefern, der Krieg müsse vielmehr schleunigst beendet werden. Dass Krieg nicht sein dürfe, war in dieser Situation Wirklichkeitsverweigerung. Mehr noch: blanker Zynismus. Der war ja längst Realität und hätte nur um den Preis der Kapitulation beendet werden können.

Bischof Johann Friedrich Kramer © wikimedia/JWBE

Dagegen plädierten die politisch Verantwortlichen für das Recht der Selbstverteidigung der Ukraine und sagten, zögernd zunächst, die Lieferung von Waffen zu. Auch die katholische Deutsche Bischofskonferenz gab ein entsprechendes Votum ab. Der EKD, sonst nicht mundfaul bei Äußerungen zu Krieg und Frieden, verschlug es dagegen lange die Sprache. Die Vorsitzende des Rates sprach sich gegen die Bereitstellung von Waffen aus. Überkommene friedensethische Denkmuster der vergangenen Jahre, man kann sie auch kirchliche Illusionen nennen, verstellten den nüchternen Blick auf das brutale Gesicht der Wirklichkeit.

Vorsichtig-tastendes Umdenken

 Aber bald schon mehrten sich auch in der evangelischen Kirche die Stimmen, die eine Unterstützung der Ukraine forderten, auch eine militärische. Das geschah zunächst eher vorsichtig und tastend. Die friedensethischen Überlegungen langer Jahrzehnte erwiesen sich als wenig tauglich. Ein vom Zaun gebrochener Angriffskrieg hatte nicht zu den Szenarien kirchlicher Überlegungen zu Krieg und Frieden gehört. Man hatte sich im Schatten eines von der NATO garantierten militärischen Patts eingerichtet, die exorbitanten Ausgaben für die Rüstung kritisiert und die einen labilen Frieden gewährende nukleare Abschreckung verurteilt.  Dass gegen Hitlers Eroberungskriege nur eine militärische Antwort Erfolg versprochen hatte, spielte in sicherheitspolitischen Erörterungen keine Rolle. Erinnerungen daran wollte man nicht hören, sie störten die Träume vom Frieden. In Europa hielt man eine vergleichbare Situation wie die der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts für ausgeschlossen. Mit welchen Gründen eigentlich?

Die Menschen des 3. Jahrtausends sind doch keine anderen geworden, als sie es im 20 Jahrhundert und den Zeiten davor gewesen waren. Einsichten in die Conditio humana, wie sie Bibel und reformatorische Bekenntnisse bereithalten, die Macht des Bösen, die Wirklichkeit der Sünde waren von kirchlichen Verlautbarungen nicht mehr ernst genommen worden. Von dem biblischen Gottes- und Menschenbild hatte man sich weit entfernt. Die Konsequenzen für die kirchliche Urteilsbildung zu Krieg und Frieden lagen jetzt offen zutage.

 

  1. Erkenntnisse und Irrtümer nach 1945

Die beiden Weltkriege haben, zumal in Deutschland, ein Trauma hinterlassen. Die alle verbindende Überzeugung in Politik und Kirche hieß „Nie wieder Krieg“. Als 1948 die Ökumenische Versammlung in Amsterdam erklärte, „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“, gab es nur Zustimmung, keinen Widerspruch. Aber der Lauf der Welt richtet sich nicht nach unseren Wünschen und Hoffnungen. Nur zehn Jahre nach dem 2. Weltkrieg wurde von dem noch jungen Staat der Bundesrepublik Deutschland ein militärischer Beitrag zur Verteidigung des westlichen Lagers erwartet und von dem CDU-Kanzler Adenauer auch zugesagt. Ein nicht kleiner Teil der Bevölkerung lehnte jedoch jede Wiederbewaffnung ab.

 Martin Niemöller © wikimedia/ J.D. Noske / Anefo

Besonders in der evangelischen Kirche war der Widerspruch groß. Martin Niemöller, der U-Boot-Kommandant im 1. Weltkrieg und spätere Kirchenpräsident in Hessen-Nassau, hatte sich zum Pazifismus bekehrt und widersprach der traditionellen Lehre vom gerechten Krieg. In seiner Kasseler Rede vom 25. Januar 1959 vertrat er die Auffassung, „jede Ausbildung zum Soldaten und zu Führungspositionen in übergeordneten Kommandostellen“ sei „heute eine Hohe Schule zum Berufsverbrechertum“. Damit war die spätere Parole „Soldaten sind Mörder“ auf den Weg gebracht, die sogar das Bundesverfassungsgericht als legitime Meinungsäußerung zuließ.

Die Heidelberger Thesen

Wie die staatliche Entscheidung zur Wiederbewaffnung, war auch der Abschluss eines Militärseelsorgevertrags zwischen Staat und Kirche umstritten, besonders in Hessen-Nassau und im Rheinland. Seit den 60er Jahren wurden die Debatten und öffentlichen Äußerungen hitziger. Besonders die atomare Bewaffnung war der Stein des Anstoßes. Im Jahre 1959 hatten die unter der Federführung von Carl-Friedrich von Weizsäcker entstandenen Heidelberger Thesen die innerkirchlichen Gegensätze vorläufig befriedet. Die zentrale VIII. These lautet: „Die Kirche muss die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen.“ Der Konsens bröckelte allerdings von Jahr zu Jahr mehr.

Die Aktion von 1978 „Ohne Rüstung leben“ und die Parole der Aktion Sühnezeichen „Frieden schaffen ohne Waffen“ fanden breite Zustimmung. Die auf den friedensbewegten Kirchentagen 1967 gefundene Kompromissformel  vom „Friedensdienst mit und ohne Waffen“, eine Simplifizierung der Heidelberger Thesen, taugte immer weniger zur Befriedung der innerkirchlichen Gegensätze. Heinrich Albertz, evangelischer Pastor und zwischenzeitlich Regierender Bürgermeister von Berlin, hatte sie 1981 „eine schlimme Schaukelformel“ genannt. Der aus der Physik entlehnte Gedanke der Komplementarität beschrieb die Aufgabe der Friedenssicherung nur unzureichend, passte nicht wirklich auf die Probleme und Gegensätze, hatte eher eine die kontroverse Friedenssicherung beschwörende als eine klärende Wirkung, versprach jedenfalls nicht mehr eine überzeugende Lösung des Konflikts.

Nachrüstung und Friedensbewegung

Als die NATO-Staaten im Dezember 1979 die russische Raketenaufrüstung mit der Drohung erwiderten, auch ihre Raketen zu modernisieren („Nachrüstung“), falls die Sowjetunion keine Bereitschaft zur Abrüstung erkennen lasse, bildete sich deutschlandweit, im Westen wie im Osten, eine kraftvolle Friedensbewegung, die jede westliche Nachrüstung kategorisch ablehnte, das Konzept der nuklearen Abschreckung verurteilte und mit Sitzblockaden prominenter Meinungsführer vor amerikanischen Kasernen öffentlichkeitswirksam unterstrich.

Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten 1981 © Rob Bogaerts / Anefo/wikimedia

Die Kammer für öffentliche Verantwortung des Rates der EKD griff im Herbst 1981 in die Debatte ein mit der noch heute lesenswerten Denkschrift „Frieden wahren, fördern und erneuern“. Sie referierte sorgfältig die in Kirche und Politik vertretenen unterschiedlichen Positionen, hielt aber an der Überzeugung fest, dass trotz aller gravierenden Probleme im nuklearen Zeitalter der Friede nur durch das Konzept wechselseitiger Abschreckung erhalten bleiben könne. Der Reformierte Bund torpedierte die noch einmal formulierte Gemeinsamkeit im Rat der EKD mit seinem Pamphlet „Nein ohne jedes Ja“. Der Konsens bröckelte. Schließlich kam der Rat der EKD seinen Kritikern im Herbst 1983 entgegen mit der Aussage: „Das ethische Ziel einer Friedenspolitik, die sich nicht auf die Abschreckung stützt, ist für uns alle verbindlich.“ Die vielen Menschen, die gegen Geist und Logik der Abschreckung auf die Straße gegangen waren, erhielten Aufwind. 24 Jahre später schließlich kassierte der Rat der EKD die Position, eine unverzichtbare Voraussetzung für die Erhaltung des Friedens sei die nukleare Abschreckung.

  1. Jenseits von Bellizismus und Pazifismus

Der Wegfall des Eisernen Vorhangs in Europa, die Entlassung der mittelosteuropäischen Staaten aus der Vormundschaft der Sowjetunion, die 1990 realisierte Einheit Deutschlands schafften eine Atempause. Die vom Ost-West-Gegensatz bestimmte Welt schien der Vergangenheit anzugehören. Die Friedensbewegung hatte ihr Thema verloren. Die Politik versprach eine „Friedensdividende“. Von 4 Prozent des Bruttoinlandprodukts ging der Rüstungsetat auf zeitweise 1,2 Prozent zurück. Der ewige Friede freilich ließ auf sich warten. Der Zerfall Jugoslawiens in seine nationalen Einheiten führte vor unserer Haustür zu kriegerischen Auseinandersetzungen.

Deutsche Soldaten auf dem Balkan

Nach anfänglichem Zögern und einem der Politik zu Hilfe kommenden Verfassungsgerichts-Spruch aus Karlsruhe beteiligten sich auch deutsche Soldaten an der Beendigung der kriegerischen Konflikte auf dem Balkan. Die Ablehnung in Gesellschaft und Kirche blieb vergleichsweise gering. Allgemeine Überzeugung war, man hätte den Bosniaken in Srebrenica zu Hilfe kommen und dem Massaker nicht wie die holländischen UNO-Soldaten zusehen dürfen. Unter klaren Bedingungen (militärisches Eingreifen als Ultima Ratio, Klarheit über das politisch zu erreichende Ziel) stimmte auch der Rat der EKD friedenschaffenden militärischen Unternehmungen zu. Aber insgesamt stand das Militärische für die Friedensethik immer weniger im Zentrum.

Krieg in Syrien

Selbst vom islamistischen Terror ließ man sich sein illusorisches Weltbild nicht verderben. Der israelisch-palästinensische Konflikt und der brutale Krieg in Syrien wurden verdrängt. Die Vorgabe offizieller kirchlicher Friedensethik wurde nicht nur ein persönlicher, sondern allgemeiner Pazifismus. Gewaltlosigkeit sollte die Antwort der Christen auch bei schwersten politischen Konflikten sein. Landessynoden gingen sogar so weit, die Bundeswehr zu einer Art Technischem Hilfswerk umrüsten zu wollen. Die Synode der EKD wusste erstaunlicherweise, dass das NATO-Ziel von 2 Prozent der Rüstungsausgaben zu hoch sei. In der Denkschrift von 2007 „Aus Gottes Frieden leben  –  für gerechten Frieden sorgen“ trat das Leitbild eines „gerechten Friedens“ an die Stelle der seit Augustin und auch noch von Luther vertretenen Lehre vom „gerechten Krieg“. Kriegerische Unternehmungen galten als absolute Ausnahme zur Wiederherstellung eines baldigen Friedens. Die Möglichkeit eines von einem Aggressor ausgelösten Angriffskrieges schien keiner Überlegungen wert zu sein.

Eine verlockende Formel

Die Formel „gerechter Friede“ klingt verlockend, weckt emotionale Zustimmung, kommt unseren Sehnsüchten von einer heilen Welt entgegen. Aber sie ist wenig klar, vieldeutig, ein utopisches Leitbild. Wird sie zum alleinigen Imperativ, fehlt ein Begriff, um Angriffskriege von Verteidigungskriegen zu unterscheiden. Was haben denn die Alliierten gegen Hitler-Deutschland geführt, wozu ist die Ukraine Russland gegenüber gezwungen?

Christen können niemals für einen Bellizismus oder gar für Kriegsverherrlichung  plädieren. Zur Erreichung politischer Ziele scheidet für sie ein Krieg grundsätzlich aus. Krieg ist nicht mehr wie früher ein Mittel der Politik. Aber einen generellen Pazifismus kann die Kirche nicht vertreten. Pazifist mit allen sich aus dieser Haltung ergebenden Konsequenzen kann immer nur ein Einzelner sein. Ein genereller Pazifismus macht unfähig, zur rechten Zeit mit militärischer Abschreckung zu drohen und so die kriegerischen Absichten eines Gegners zu durchkreuzen, indem sie ihm die Kosten einer Aggression vor Augen stellt.

 

  1. Die Kosten der Kriegsprävention
Soldaten der Bundeswehr ©seppspiegl

Der Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine brachte die desolate Situation der deutschen Streitkräfte ans Licht. Sie waren zur Erfüllung ihres grundgesetzlichen Auftrags nicht mehr in der Lage. Sie konnten auch die Ukraine nicht mit dem nötigen Material versorgen. Deshalb haben Regierung und CDU-Opposition in seltener Gemeinsamkeit eine Summe von 100 Milliarden Euro bereitgestellt. Sogleich meldeten sich Stimmen zu Wort, besonders aus der evangelischen Kirche, die ihre Unzufriedenheit mit dieser Entscheidung kundtaten. Auf der Basis eines erweiterten Sicherheitsbegriffs (Stichwort „gerechter Friede“) verlangten sie eine ebenfalls angemessene Bereitstellung von Mitteln für die Entwicklungshilfe.

Das ist prinzipiell nicht falsch. Aber man darf den späten Ausgleich für die jahrzehntelang leichtsinnig ausgeschüttete Friedensdividende nicht verringern. Wahrscheinlich sind die für die Ertüchtigung der Bundeswehr bereitgestellten Summen nicht einmal ausreichend, um Deutschland und Europa militärisch auf eigene Beine zu stellen und, was dringend geboten wäre, die sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA zu verringern. Selbstverständlich verlangen die Nöte in der Welt einen verstärkten Einsatz der viel zu geringen staatlichen Entwicklungshilfe. Aber auch mit ihr kann man hohe Ziele verfehlen. Was bleibt dem Land Afghanistan von den 5 Milliarden Euro Entwicklungshilfe, die Deutschland seit 2001 dort investiert hat?

Nach dem Maß menschlicher Einsicht

Kriege zu verhindern und den Frieden zu fördern, muss ein vorrangiges Ziel staatlicher Politik sein, das man nicht mit anderen berechtigten Zielen (Sozial- und Entwicklungspolitik) verrechnen und vermengen darf, auch wenn es fraglos Zusammenhänge und Beziehungen gibt. Was Kriege verhindert und den Frieden fördert, dient mittelbar auch dem Ausgleich sozialer Konflikte und Defizite. Militärische Drohungen und tatsächliche militärische Aktionen nur als absolute Ausnahme eines prinzipiellen Pazifismus gelten zu lassen, widerspricht der reformatorischen Lehre von den beiden Regierweisen Gottes, wie sie noch einmal die Barmer Theologische Erklärung festgehalten hat. Denn der Staat muss zur Wahrung und Wiederherstellung des inneren und äußeren Friedens immer und grundsätzlich „nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden sorgen“ (V. These). Dies zu vergessen, gefährdet den Frieden und provoziert Kriege.

 

Hartmut Löwe ©epd-bild

Dieser Text erscheint mit freundlicher Genehmigung der Confessio Augustana (II/2022), Das Lutherische Magazin für Religion, Gesellschaft und Kultur. Der Autor, Dr. Hartmut Löwe, war Vizepräsident des EKD-Kirchenamtes in Hannover, von 1993 bis 1999 Bevollmächtigter des Rats der Evangelischen Kirche Deutschlands beim Bund und der Europäischen Union sowie von 1994 bis 2003 evangelischer Militärbischof.

 

 

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