Wolfgang Bergsdorf

In wenigen Wochen jährt sich der erste große Krieg im Europa des 21. Jahrhunderts. Die Medien beginnen, sich langsam an die fortdauernden Grausamkeiten und todbringenden Zerstörungen dieses Krieges zu gewöhnen. Das anfängliche Entsetzen ist einer resignierten Erschöpfung gewichen. Die brutale Realität mit hunderten von Toten und Verletzten täglich kämpft in der medialen Wahrnehmung mit den anderen krisenhaften Entwicklungen bei Energie, Klima oder Inflation um die Schlagzeilen. Auch wenn sich der Blick auf das Weltgeschehen immer wieder verändert, so darf dennoch der Krieg, seine Ursachen und Ereignisse, seine Bewertungen und seine Folgen nicht aus den Augen gelassen werden.

In diesen Tagen wurde hierzulande eine turbulente Diskussion über die Frage geführt, ob und wann die Bundesregierung (genauer der Bundeskanzler) den Verteidigungsanstrengungen der Ukraine mit dem von Deutschland entwickelten Kampfpanzer Leo II zur Hilfe kommt. Die Debatte schien die Ampelkoalition in Berlin zu zerreißen. Grüne und FDP waren mehrheitlich für diese Unterstützung, nachdem hierfür der amerikanische Präsident Joe Biden sein Plazet gegeben hatte. Die SPD ist in sich zerrissen, alte pazifistische Reflexe kämpfen mit den neuen Realitäten seit der von Bundeskanzler Scholz ausgerufenen Zeitenwende. Nun wurde diese Blockade gelöst, indem auch Washington einige amerikanische Kampfpanzer des Typs M1 Abrams an Kiew liefert, obwohl diese der Ukraine gigantische logistische Probleme bereiten dürften. Denn jeder dieser Panzer benötigt pro 100 km 1000 Liter Treibstoff. Das ist mehr als doppelt so viel wie der deutsche Kampfpanzer Leo II schluckt. Von ihm wird Berlin einige Dutzend Exemplare an Kiew liefern. Eine weitere Verzögerung hätte das internationale Ansehen Deutschlands schwer beschädigt.

Ein Rückblick auf die den Krieg begleitende Propaganda lohnt sich, weil sie die kriegsbegründenden Behauptungen Putins als gegenstandslos entlarvt. Entgegen russischen Behauptungen hat die Ukraine für diesen Krieg keine „schmutzige Bombe“ entwickelt, um damit „Russland und die russische Bevölkerung zu vernichten.“ Auch hat die Ukraine keinerlei chemische oder biologische Waffen produziert, obwohl die russische Kriegspropaganda mehrere ukrainische Einrichtungen bezichtigte, an solchen „massenhaften Verstößen gegen die Menschenrechte“ zu arbeiten, angeblich teilweise auch in Zusammenarbeit mit deutschen Forschern. Auch hier hat es geholfen, diese Behauptungen als Fake News, also als Lügen, zu entlarven, indem die Kiew internationale Beobachter einlud, diese Institute zu besuchen. Experten aus aller Welt sind gekommen und haben nichts gefunden. Nur die Russen wussten von vornherein, dass es nicht zu finden gab und sind deshalb gar nicht erst angereist.

Die Ukraine hat auch keine Atombomben gebaut, allen russischen Hinweisen auf konkrete Produktionsstätten zum Trotz. Auch hier hat die ukrainische Regierung für Besuche der internationalen Kontrollbehörde in Wien gesorgt. Hätte die Ukraine 1994 nur eine einzige Atombombe von tausenden aus sowjetischer Produktion, die sich auf ihrem Gebiet befanden und Russland damals übergeben wurden, zurückbehalten, hätte Putin seinen Angriffskrieg wahrscheinlich nicht gestartet. Damals wurde im sogenannten Budapester Protokoll, sozusagen als Gegengeschäft, von den Signatarmächten Großbritannien, USA und Russland die territoriale Integrität der Ukraine in den Grenzen von 1994 – also einschließlich der Krim – garantiert.

Als Putin 2014 zwecks Annexion seine „grünen Männchen“ auf die Krim entsandte und im Donbass die Separatisten-Kämpfe initiierte, ging es in der russischen Propaganda um Hilfe für die bedrohten dort Russisch-Sprechenden, um Sicherung des eisfreien Hafens Sewastopol für die russische Schwarzmehrflotte und um die Bestrafung der zum Westen abdriftenden Ukraine. Von einer globalen Neuordnung und schon einmal gar nicht von einer Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Regierung in Kiew war 2014 keine Rede. Auf diese neuen Ideen ist der Machthaber im Kreml deshalb verfallen, weil er erkennen musste, dass der Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen die Nazis die einzige Klammer ist, die die russische Gesellschaft zusammenhält. Er glaubt deshalb, an dieses Narrativ anknüpfen zu müssen, um Kriegsbereitschaft und Siegeszuversicht seiner Untertanen zu fördern.

Wie in Diktaturen üblich, vermag niemand den Rückhalt zu messen, den Putin mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine erzielt. Wahrscheinlich aber ist, dass die Zahl der russischen Gefallenen die 100.000 Grenze überschritten hat und noch sehr viel mehr in diesem Krieg verwundet wurden. Sicher ist, dass fast 1 Million Menschen in zwei Wellen ins Exil gegangen sind. Die erste Welle startete in den ersten Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, die zweite nach der Mobilisierung im September, bei der 300.000 Menschen zum Militär eingezogen wurden. Ärzte, Journalisten, Wissenschaftler und sonstige Experten, Oppositionelle und IT-Fachleute flohen vor dem Krieg, – also jene Berufsgruppen, die benötigt werden, um eine zivile Gesellschaft aufzubauen und zu fördern. Schon jetzt klagen Russlands Finanzbranche wie auch das Bau- und Dienstleistungsgewerbe über Fachkräftemangel. Besonders groß ist der Schwund im digitalen Bereich. Im vergangenen Jahr haben sich 100.000 IT-Fachleute ins Ausland abgesetzt Das ist jeder Zehnte.

Bisher haben die westlichen Sanktionen die Kampfkraft der russischen Armee nicht einschränken können, auch wenn der Ankauf iranischer Drohnen eine deutliche Schwäche des militärisch-industriellen Komplexes in Putins Reich offenlegt. Der private Konsum in Russland ist 2022 um 10 Prozent gesunken, und viele Dienstleistungsbetriebe haben ihre Pforten geschlossen. Dafür ist der Kauf auf Raten um das Zehnfache gestiegen. Der Krieg hat auch in Russland die Inflation auf 12 Prozent befördert. Dramatisch geschrumpft ist der Automobilmarkt. Fast 60 Prozent weniger Autos wurden verkauft. PKWs ohne Airbags und ABS sind halt auch in Russland wenig gefragt. Vertrauen zu Putin verloren hat infolge des Krieges die wirtschaftliche Elite des Landes. Das sind nicht nur die schwerreichen Oligarchen, sondern auch große Teile des ohnehin schmalen Mittelstandes, dessen Wachstum infolge der Sanktionen jetzt abgebrochen wird.

Das, was in 20 Jahren aufgebaut wurde, wird nun gefährdet und zerstört. Gerade der Mittelstand war so glücklich über die Integration Russlands in die globale Wirtschaft. Putins früheres Ansehen beruhte darauf, dass er als Garant für diese Stabilität galt. Wenn die Betriebe in Konkurs gehen, die Arbeitslosigkeit steigt, die Produktivität sinkt, die Staatsfinanzen die Sozialpolitik nicht mehr finanzieren können, dann muss der Nimbus des Stabilitätsankers Putin Schaden neben. Dann besteht für ihn die Gefahr, dass seine Untertanen begreifen, wohin der unermessliche Reichtum russischer Ressourcen in der Vergangenheit geflossen ist, nämlich in die Hände einiger Dutzend Menschen – vor allem in die Putins und seiner Getreuen aus seiner Petersburger Zeit. Die englische Investigativ-Journalistin Catherine Belton hat 2022 in ihrem Buch „Putins Netz“ darüber detailliert Auskunft gegeben.

Dass der Krieg Putins Ansehen in der westlichen Welt zerrüttet und seine Glaubwürdigkeit erschüttert hat, ergibt sich aus der Brutalität und Aggressivität des Überfalls auf ein „Bruder-Volk“ und seine ruchlosen Begründungsversuche. Aber auch im post-sowjetischen Raum verliert er durch seine neo-imperialistische Politik deutlich an Ansehen. Der Präsident Tadschikistans, Emomali Rachmon, ging den Kreml-Chef im Oktober auf offener Bühne an mit dem Vorwurf, dass Moskau unter Putin wie schon zu Sowjetzeiten kleinere Länder übergehe. In Usbekistan ließ ihn Präsident Shovkat Mirziyoyew warten – eine Herabstufung für jemanden, der eigene Unpünktlichkeit als Machtdemonstration so schätzt wie Putin.

Armeniens Präsident Nikol Paschinjan hat kürzlich sogar eine US-Delegation empfangen, die Hilfe anbot. Kasachstans wiedergewählter Präsident Aassym-Schomart Tokajew nahm öffentlich Distanz zum Krieg Russlands gegen die Ukraine. Dabei spielt sicherlich eine große Rolle, dass das Land Angst hat, selbst Opfer von Putins neo-imperialistischen Aggressionen zu werden. Selbst Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko, eigentlich ein Bruder im Geiste, bemüht sich offensichtlich, nicht Kriegspartei zu werden, obwohl er russische Angriffe auf die Ukraine von seinem Staatsgebiet aus erlaubte. Die Annexionen Russlands in der Ukraine dürften aber auch ihn erschrecken.

Strategisch folgt aus all diesen Sorgen der post-sowjetischen Nachbarrepubliken offensichtlich die Versuchung, sich an der aufkommenden Supermacht im Osten des asiatischen Kontinents, an China, anzulehnen. Auch diese Verschiebung der Vertrauensverhältnisse ist einer der schlimmsten Kollateral-Schäden von Putins Angriffskrieg. Seine Folgen verdüstern die Zukunft Russland auch für den Fall eines Sieges über die Ukraine.

Nach diesem Krieg wird die Welt eine andere sein. Aber auch Russland wird anders sein als Putin anstrebt. Russland wird dann isoliert sein in der westlichen Welt, doch auch neue Probleme bekommen im post-sowjetischen Raum. Vor allem aber wird Peking der Gewinner dieser dramatischen Verschiebung der Kräfteverhältnisse in Europa sein, übrigens unabhängig davon, wie das militärische Ringen in der Ukraine ausgehen wird. Ein Sieg der Ukraine lässt sich nur denken ohne Putin. Ein Sieg Russlands wird Putin als Präsidenten vermutlich aber auch nicht lange überleben lassen. Dafür sind die Kollateral-Schäden zu groß, die er mit seinem Angriffskrieg dem eigenen Land zugefügt hat. Das Wahrscheinlichste ist ein militärisches Patt mit ukrainischen Gebietsverlusten, die dann allerdings eine generationenlange Irredenta mit offenen Problemen, offenen Wunden und großer Friedlosigkeit zur Folge haben werden. Die Region wird also auch nach dem Schweigen der Waffen lange nicht zur Ruhe kommen.

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

 

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