Keine Wirkung ohne Ursache
Von Günter Müchler
Der Rechtsruck in Europa ist eine Tatsache, die sich weder wegdiskutieren noch beschönigen lässt. Unklar ist indessen, wie man mit dem Faktum umgehen soll. In Deutschland zeigen die Hauptverlierer der Europawahl wenig Einsicht. In Zukunft wolle man weniger streiten und verständlicher kommunizieren, schwören Sozialdemokraten und Grüne. Mal abgesehen davon, dass dieser Eid ungefähr der dreizehnte ist, sind die Haltungsnoten des Regierens bestimmt nicht das, worauf jetzt ankommt. Statt sich über die angebliche Dummheit der Wähler zu empören, sollten SPD und Grüne sich fragen, wie viel Ursache vom Rechtsruck auf ihr Konto geht.
Rechtsruck in Europa heißt konkret: Im Aufwind befinden sich Kräfte, welche die Ertüchtigung Europas zurückschrauben wollen. Die ernsthaft glauben, nationalstaatliche Liliputaner könnten den Wettbewerb zum Beispiel mit dem aggressiven China im Alleingang besser bestehen als im Verbund. Die, um ein Bild zu gebrauchen, aus Frust über die ewigen Verspätungen der Bahn den Umstieg aufs Pferdefuhrwerk predigen.
Allerdings muss man genau hinsehen. Nicht überall haben die Integrationsfeinde gesiegt. In Polen haben sie einen Denkzettel bekommen, auch in Ungarn. Und festhalten muss man, dass Italiens erfolgreiche Rechtsregierung unter Georgia Meloni bisher versucht, ihre Ziele kooperativ zu verfolgen. Meloni, die Anführerin der neofaschistischen „fratelli“, trägt auch die Unterstützung der Ukraine mit, wie sie auf dem jüngsten G-7-Gipfel wieder deutlich gemacht hat. In diesem Punkt ist sie meilenweit entfernt von den Emporkömmlingen der AfD und der Wagenknecht-Partei. Deren Vertreter glänzten neulich, als der ukrainische Präsident Selenski vor dem Deutschen Bundestag sprach, durch Abwesenheit. Bei einem Besuch des Massenmörders Putin wären sie vermutlich mit Hofknicks erschienen.
Was ist rechts, rechtsextrem, rechtspopulistisch? Pure „Gesäßgeographie“ war schon immer eine unzuverlässige Landkarte. Im Europa der 27 verlässt man sich besser nicht darauf. Ein Blick auf die aktuelle Entwicklung in Frankreich lehrt, wie zweifelhaft eingemeißelte Stereotype sind. Wer weiß, ob der Rassemblement Nationale von Marine Le Pen wirklich der gefährlichere Wolf im Revier ist als die linksradikale La France Insoumise des Deutschlandhassers, Europagegners und Palästinenserfreundes Jean Luc Mélenchon, der jetzt in der neu gebildeten Volksfront die erste Geige spielt? Französische Juden werden Le Pen wählen, um den judenfeindlichen Mélenchon zu verhindern. Serge Klarsfeld, der hochbetagte Nazi-Jäger, hat seine Absicht schon zu Protokoll gegeben.
Einfach war das europäische Puzzle noch nie. Es dürfte noch schwieriger werden. Zu den wenigen Lichtblicken gehört das gute Abschneiden der Europäischen Volkspartei, das wiederum wesentlich zurückgeht auf den Achtungserfolg, den die deutschen Christdemokraten unter Parteichef Friedrich Merz errungen haben. Der Führungsanspruch der EVP im Europaparlament ist wohlbegründet. Bundeskanzler Scholz und die europäischen Grünen werden hoffentlich nicht so töricht sein, die christdemokratische Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen durch ein Trotzbündnis der Verlierer zu verhindern.
Olaf Scholz ist angezählt. Zweifel am Kanzler werden sogar im eigenen Lager laut. Die Hinterbänkler, die um ihre Mandate bangen, dürften spätestens nach wiederholten Wahlschlappen im September zum Hallali blasen. Paradoxerweise ist Scholz‘ Stärke die Schwäche seiner Regierung. Die Angst vor dem Tod lässt die Ampelpartner unisono vor Neuwahlen zittern und könnte der dünne Lebensnerv der Regierung wenigstens für ein weiteres Jahr im Amt sein. Also noch ein Annus horribilis, ein schreckliches Jahr? Viel hängt vom Haushalt für 2025 ab, der vor der Sommerpause eingebracht werden soll.
Im Haushalt liegt die Wahrheit, nicht im Wolkigen, von dem vor 300 Jahren der britische Philosoph Alexander Pope meinte, man könne es getrost den Narren überlassen. Was allein zähle, sei gutes Regieren. Beim Wolkenschieben kann die Ampel unstreitig auf Leistungen verweisen, als Beispiele wären die Zulassung von Cannabis und die Freischüsse bei der Geschlechtsbestimmung zu nennen. Reichlich Luft nach oben hat sie dagegen beim Setzen von Prioritäten. Genau darum geht es beim Haushalt. Hier muss das Essentielle vom Wünschbaren unterschieden werden. Sicher ist das leichter gesagt als getan. Die Einnahmen sind rückläufig, die Herausforderungen (auch Wünsche der Bürger) wachsen, und natürlich möchte jeder Partner sich im Ergebnis, wie man sagt, „wiedererkennen“. Aber dieses Karo ist klein. So wie es um die Ampel als Ganzes steht, dürfte sich der Eindruck entschlossenen Handelns für sie ganz sicher mehr auszahlen als das beckmesserische Bedienen ihrer Teile.
Entschlossenes Handeln ist ein Mittel, den Populisten von rechts und links das Wasser abzugraben. Wähler mögen billigen Parolen hinterherlaufen und uneinsichtig sein. Ihr Hang zu Selbstmitleid und ständiger Übellaunigkeit ist oft nicht mehr als der Ersatz für fehlendes Vertrauen. Was sie wollen und was man ihnen nicht als Untertanengeist ankreiden sollte, ist Führung, die den Namen verdient. Wie wenig davon momentan vorhanden ist, zeigt das Wahlergebnis des 6. Juni in schonungsloser Schärfe.
Vertrauen braucht glaubwürdige Führung. Es wird auch dadurch hergestellt, dass sich Wähler sich mit ihren Sorgen und Problemen ernst genommen fühlen. Auch hier bräuchte es seitens der Sozialdemokraten und Grünen eine Zeitenwende. Lange taten sie diejenigen, die ihr Kreuzchen hinter die AfD setzten, als Idioten oder Unbelehrbare ab. Der Nazi-Vorwurf war rasch bei der Hand und ist doch besonders einfältig. Nicht bloß, weil er den Hitlerismus verharmlost. Sind die jungen Leute, die zum Entsetzen der Erfinder des herabgesetztes Wahlalters jetzt für die AfD votierten, sind die heute 16 Jährigen denen vergleichbar, die sechs Millionen Juden ermordeten und die Welt in ein beispielloses Gemetzel stürzten? Und was ist mit den Hunderttausenden, die am Wahltag von der SPD und auch von den Grünen zur AfD wanderten? Wären auch diese Nazis, was würde das über sie aussagen, über SPD und Grüne? Wären sie dann, um mit Bert Brecht zu sprechen, der Schoß, „aus dem das kroch“?
Die SPD hat das schlechteste Ergebnis aller Zeiten eingefahren. Die Grünen wurden halbiert. In der Summe brachte es die regierende Dreier-Koalition noch nicht einmal auf ein Drittel Zustimmung. So viel Jammertal gab es noch nie. Trotzdem beantwortete Saskia Esken, Co-Vorsitzende der Sozialdemokraten, die Frage, ob ihre Partei nicht ihre Konzepte ändern müsse, mit nein. Die Ampel müsse friedvoller arbeiten, die Politik besser verkauft werden. Ende der Werkstattanalyse. Es wäre das erste Mal, dass ein schrottreifes Auto durch Lackierung wieder flott gemacht wird. Nur Überheblichkeit oder ein fataler Hang zur Selbstzerstörung können die Einsicht verweigern, dass Wirkungen immer Ursachen haben. Frau Esken könnte Rat holen beim großen Lehrmeister Fußball. Auf dem Platz verliert in der Regel der, der es verdient hat.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
Schreibe einen Kommentar