Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit
Von Gisbert Kuhn
Es steht völlig außer Frage – die Bilder vom Geschehen im kriegszerbombten Gaza-Streifen sind fürchterlich. Die Medien sind täglich voll davon. Zu Recht. Denn sie zeigen, was Menschen anderen Menschen antun. Aber über die TV-Bildschirme flimmern in aller Regel leider nur filmische Dokumente, welche allein die Schicksale der einen Seite beleuchten. Und praktisch das Gleiche vollzieht sich in den gedruckten Spalten der Zeitungen. Vom Ausgangspunkt, also der Ursache des grausigen Geschehens, ist so gut wie nichts mehr zu sehen oder hören. Allenfalls in einer kurzen Nebenbemerkung am Ende einer Nachricht.
Also von der Tatsache, dass total enthemmte Terrorkommandos der palästinensischen Hamas am 7. Oktober vorigen Jahres israelische Kibbuzim sowie ein Musik-Festival überfielen, weit mehr als 1 000 Menschen massakrierten, Frauen vergewaltigten, Kinder bei lebendigem Leib verbrannten, über 300 Geiseln verschleppten und triumphierend Videos davon ins Netz stellten. Auch solche von jubelnden Zivilisten, welche die Opfer noch schlugen und – erkennbar von Hass erfüllt – bespuckten. Das macht zwar das Leiden der ausgebombten und auf einer schier ausweglosen Flucht befindlichen Menschen und die Verzweiflung der hungernden Kinder in Gaza nicht geringer. Aber die Erwähnung der Ursache würde die öffentliche Diskussion bei uns im Lande und darüber hinaus (keineswegs nur an den Universitäten) möglicherweise in rationalere Bahnen lenken. Doch in den Protestcamps auf dem Bonner Hofgarten und dutzendfach auch anderswo wird an die Opfer des 7. Oktober und die noch immer gefangen gehaltenen Geiseln kein Gedanke verschwendet.
Das führt, geradezu zwangsläufig, zu der Frage, in welche Richtung sich unser Land und unsere Gesellschaft eigentlich bewegen. In Deutschland ist erkennbar etwas geschehen, was Jahrzehnte lang undenkbar schien – Antisemitismus (sogar offener) ist nicht nur wieder möglich geworden, sondern gehört anscheinend erneut zum Tagesgeschäft. Und das im Land der Mörder von Auschwitz und anderswo! Im Land der Erfinder des mit industrieller „Tüchtigkeit“ betriebenen Völkermords! In dem Land, das sich und der Welt angesichts der zerbombten Städte und im Wissen um die Millionen Toten einmal ein „Nie wieder“ verordnet und geschworen hatte.
Und dieses Land lässt es heute zu, dass hier lebende Juden – wie einst – mit Hass überschüttet und körperlich bedroht werden. Keineswegs nur anonym in den (un) sozialen Netzen, sondern auf offener Straße! Seine Politiker, Sicherheitsorgane, Gerichte und Universitäten belassen es zumeist bei bloßer Verbal-Empörung, wenn jüdische Studenten am Studieren gehindert oder gar zusammengeschlagen werden! Wo regt sich dagegen Protest in den Gaza-Democamps vor den Hochschulen? Was ist das? Mangelndes Wissen um die Geschichte. Ein völlig einseitiges und undifferenziertes Politikbild?
Eine simple – viel zu simple! -, aber immer wieder zu hörende Erklärung ist: Gegen die israelische Politik zu sein, sei kein Antisemitismus. Dabei ist doch völlig unstreitig, dass der jüdische Staat und dessen Politiker nicht sakrosant sind. Es gibt wirklich genug Gründe, die Regierung von Benjamin Nethanjahu und deren Politik sogar als verhängnisvoll für den Judenstaat zu erachten. Besonders die Erlaubnis zur Besiedelung der besetzten palästinensischen Territorien. Und es stimmt einen schon sehr nachdenklich, wenn man die im Zuge der Masseneinwanderung von extrem konservativen bis nationalistisch gesinnten Juden aus Osteuropa und Russland stattfindende gesellschaftliche Veränderung des ursprünglich vor allem westeuropäisch (nicht zuletzt natürlich deutsch) und amerikanisch geprägten Landes verfolgt.
Dennoch: Es wäre ganz nützlich, wenn sich die nicht-arabischen, aber dennoch unkritisch pro-palästinensischen, Protestler einmal die nahöstliche Landkarte anschauten. Und sei es nur, um bestimmte Größenordnungen zu begreifen. Israel mit etwa sechs Millionen Einwohnern hat ungefähr die Größe des deutschen Bundeslandes Hessen. Drum herum liegen Ägypten, Syrien, Jordanien, Saudi-Arabien und Irak. Mögen die Regierungen des einen oder anderen dieser Staaten ihre ehemals radikal anti-israelische Haltung (immerhin drei Kriege) auch verändert haben, ihre Bevölkerungen stimmen in ihrer Mehrheit noch immer in die alte Forderung ein, die Juden ins Meer zu werfen. Wer also ist in Nahost David, und wer ist Goliath? Und, ganz abgesehen davon, in welchem dieser Länder (nicht zu vergessen auch noch den radikal-islamistischen Iran) existieren auch nur im Ansatz demokratische Verhältnisse? In welchem, außer natürlich in Israel, gehen Hunderttausende für eine unabhängige Justiz auf die Straße?
Daran zu erinnern heißt nicht, den Krieg in Gaza gutzuheißen. Heißt nicht, Hunger, Elend, Heimatlosigkeit und Verzweiflung zu übersehen. Aber es ist der Versuch, wieder einmal klarzustellen, dass jede Wirkung eine Ursache hat. Auch die zerbombten Städte im verwüsteten Deutschland und die mehr als 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen am Ende des Zweiten Weltkriegs hatten eine Ursache. Deutschland hatte das unsägliche Völkermorden begonnen und praktisch über die ganze Welt gebracht – und war nun fürchterlich dafür bestraft worden. Zurück in den Nahen Osten: Glaubt wirklich ein auch nur einigermaßen klardenkender Mensch, die viele hundert Millionen Dollar und Euro betragende Zweckentfremdung von internationalen, humanitären Gaza-Hilfsgeldern für den gigantischen Tunnelbau der Hamas wäre von der „friedliebenden“ Zivilbevölkerung unbemerkt geblieben? Glaubt wirklich irgendjemand, die bei den diversen Hilfswerken Beschäftigten Zivilisten hätten wirklich nicht mitgekriegt, wie die Hamas mit den von ihr okkupierten Lebensmitteln und anderen Spenden umgegangen ist – und dies noch immer tut?
Es scheint wirklich allerhöchste Zeit zu sein, dass die gesellschaftliche Mitte in Deutschland nicht nur wach wird, sondern aktiv gegen Fehlentwicklungen Stellung bezieht. Der Aufstand vor einigen Wochen gegen die rechtsextremistische AfD war ein Hoffnung machender Beginn. Doch der Antisemitismus (und wer weiß, was daraus sonst noch erwächst) ist mittlerweile keineswegs nur auf die „klassischen Rechten“, die Höckes und sonstigen Neo-Nazis beschränkt. Gegenwärtig kann man beobachten, wie sich ein völlig neues, bisher noch nie gekanntes explosives Gemisch aus Radikalen von rechts und links sowie aus dem im deutschen Nährboden offensichtlich besonders gut gedeihenden Islamismus miteinander vermengt. Und dabei geht es ganz gewiss nicht um die Verteidigung von Meinungsfreiheit, Liberalität, Weltoffenheit und Toleranz.
Jetzt ist die Bereitschaft eines Jeden gefragt, für die Demokratie und das, was wir als deren „Werte“ schätzen, entschlossen einzutreten. Für jene Staatsordnung, die sich – nach den Erfahrungen der Nazi-Zeit – einmal auferlegt hatte: „keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“. Tatsächlich ist „Nie wieder“ jetzt.
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.
Schreibe einen Kommentar