Von Günter Müchler

Autor Günter Müchler

Nach einer Woche Tokio ist betrübt festzuhalten, dass der Bund Deutscher Radfahrer diesmal wohl nicht den Medaillenspiegel beherrschen wird. Mangels sportlicher Höchstleistungen sorgen wenigstens die Offiziellen für Schlagzeilen. BDR-Sportdirektor Patrick Moster wurde ins Flugzeug nach Hause gesetzt, um einen angeblichen Rassismus-Ausfall zu sühnen.

Was hatte Moster Strafwürdiges getan? Am Mittwoch, beim Zeitfahren der Männer, rief er dem Radrennfahrer Niklas Arndt vom Straßenrand aus zu: „Hol die Kameltreiber, hol die Kameltreiber!“ Einholen sollte der Aktive den vor ihm radelnden Eritreer Amanuel Ghebreigzabhier und den Algerier Azzedine Lagab.

Für Nichtkenner des Radsports muss hier der Hinweis erfolgen, dass Eritreer und Algerier erstklassig laufen können, als Pedalritter dagegen eher von der traurigen Gestalt sind. Moster lag also nicht prinzipiell falsch, wenn er Arndt nach dem Motto bei der Ehre packen wollte, „wenigsten die solltest Du kriegen!“ Schief war allerdings das von ihm gewählte Bild. Es lahmten ja nicht etwa der Eritreer und der Algerier, das Kamel war vielmehr und offenkundig sein Schützling Arndt, dem er als Kameltreiber glaubte, auf die Sprünge helfen zu sollen.

Aber das ist Ironie, und Ironie gehörte nie zu den Stärken des Sportjournalismus; heute ist die Zunft davon sogar noch weiter entfernt denn je. Jahrzehntelang schrien Sportjournalisten im Chor mit den Funktionären Hurra und kehrten unter jeden nur verfügbaren Teppich, was das Ansehen des angeblich aller irdischen Schwächen entbehrenden, völkerverbindenden, sauberen Sports zu beeinträchtigen drohte.

Inzwischen hat sich die Lage in ihr Gegenteil verkehrt. Kaum eine Sportsendung ohne mee-too-Story, ohne divers ausgeklügelte Podien und Gleichheitsgetue. So war es kaum verwunderlich, dass jetzt das Foto des anfeuernden Patrick Moster mit Wampe, Turnhose und weißen Socken (mithin ganz so, wie man sich einen Sportfunktionär vorstellt) in Anklagemanier hundertfach die Olympia-Sendungen der Fernsehkanäle frequentierte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, sonst eigentlich immer um Differenzierung bemüht, sprach ironiefrei das ultimative Urteil im Fall Moster: „Diskriminierungsaffäre“.

Diskriminierung heißt Entrechtung von Minderheiten, ist also starker Tobak. Wenigstens war das mal so. Inzwischen haben wir gelernt, dass Diskriminierung nichts mit dem geschriebenen Recht zu tun hat und im Übrigen auch nicht nachgewiesen werden muss. Es reicht für den Vorwurf, dass ein Betroffener sich diskriminiert fühlt oder (wie in diesem Fall) dass ein Sportredakteur meint, ein Betroffener müsse sich diskriminiert fühlen.

Hat der Sportdirektor diskriminiert? Vielleicht sogar den Radfahrer Arndt, indem er ihn verhöhnte und unterstellte, langsamer zu radeln als Amanuel Ghebreigzabhier und der Algerier Azzedine Lagab? Richtiger ist wohl, dass sich Moster im Wort vergriff und geschmacklos äußerte. Indessen wird auch der schärfste Kritiker einräumen, dass ein im Eifer des Gefechts hingeworfenes Wort ein anderes Gewicht hat als eine Hypothese, die ein Universitätsprofessor nach sieben Jahren des Nachdenkens aufschreibt.

Was den Geschmack angeht, sind die Maßstäbe bekanntlich relativ, im Sport ganz besonders. Wer ein Spiel BVB gegen S 04 und die entsprechenden Schlachtgesänge erlebt hat, weiß, dass Zeitungsseiten nicht ausreichen, um alle dort zutage tretenden Diskriminierungstatbestände zu notieren. In Fußballstadien ist die Diskriminierung ganzer Städte, ja ganzer Volksstämme („zieht den Bayern die Lederhosen aus!“) gewissermaßen Standard. Wer da gleich die Rote Karte zieht, sollte auf Zuschauer verzichten.

Fragen darf man auch, wie verletzend das Wort „Kameltreiber“ wirklich ist. Es gehört derselben Kategorie an wie andere törichte Stereotype. Die Engländer nennen die Franzosen verächtlich „garlics“ und sind trotz ihrer auf Unkenntnis beruhenden Abneigung gegen Knoblauch seit Jahrhunderten die treuesten Frankreich-Touristen. In Deutschland ist es durchaus verbreitet, Italiener als „Spaghetti-Fresser“ zu verhöhnen. Dabei sind Spaghetti außerhalb Italiens nirgendwo so beliebt wie in Deutschland.

Man sollte also die Kirche im Dorf lassen. Eine Ohrfeige wäre für den Sportdirektor angemessener gewesen als die moralische Enthauptung, eventuell verbunden mit Jobverlust. Die Karawane zieht weiter, und vielleicht sind die Kamele am Ende diejenigen, die verkennen, dass der Wunsch nach absoluter Reinheit zu einer gefährlichen und Leben zerstörerenden Droge werden kann.

Dr. Günter Müchler ist Journalist und Buchautor, promovierter Historiker, Politik- und Zeitungswissenschaftler – und, nicht zuletzt, Sportfan. Er war jahrelang Programmdirektor beim Deutschlandfunk.   

 

  

 

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