Judenhass – Dummheit, Scham und Versagen
Von Günter Müchler
Dieser Tage in Köln: Bei einer Pro-Israel-Demonstration verlieren sich anderthalbtausend Menschen auf dem Roncalli-Platz am Dom. Zwei Tage vorher in Düsseldorf: Geschätzte 17 000 Menschen ziehen mit Fahnen und Transparenten durch die Innenstadt als Werbeträger für die Hamas. Kein Wort über deren Gräueltaten. Das Missverhältnis ist unübersehbar. Vier Wochen nach dem Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten ist der Protest der Deutschen noch immer ein Protest mit gestopften Trompeten. Der Staat Israel verkraftet das. Er kann sich selbst verteidigen. Die Diaspora-Juden hierzulande aber fragen sich, was die zum Bestandteil deutscher Staatsraison erhobene Unterstützung Israels für sie eigentlich bedeutet. Können sie sich noch auf die Deutschen verlassen?
Verlass ist auf die Politik, jedenfalls überwiegend. Deutschlands Enthaltung bei jener Abstimmung in New York, die in schäbiger Weise die Aggressoren mit keinem Wort erwähnte, bleibt dennoch rätselhaft. Immerhin haben sich Politiker aller Parteien des demokratischen Zentrums auf die Seite Israels gestellt, und es gibt keinen Zweifel, dass sie es ernst meinen. Der sonst gern geschmähten politischen Elite lässt sich weder Zaudern noch Relativierung vorwerfen.
Anders verhält es sich mit der Zivilgesellschaft. Den Posaunisten des Protests, die üblicherweise bei jeder (und sei es auch nur scheinbaren) Mikro-Diskriminierung zum Barrikadenkampf aufrufen, hat es die Stimmer verschlagen. Sie lassen den in seiner Existenz herausgeforderten Judenstaat ebenso im Stich wie die Juden in Deutschland. Schlimmer noch: Organisationen wie „Fridays for future“ mit der von Pastören, Lehrern und Publizisten voreilig selig gesprochenen Greta Thunberg an der Spitze verkleistern in Trump-Manier, wer in diesem Konflikt die Täter und wer die Opfer sind.
Eine gängige Rechtfertigung dieser auffälligen Sehschwäche lautet, es müsse erlaubt sein, den Staat Israel und seine Regierung zu kritisieren. Dieses Recht hat in der Tat jedermann. Es wird auch von Freunden Israels wahrgenommen, von der Bundesregierung genauso wie von den Repräsentanten der Vereinigten Staaten, der Schutzmacht des Judenstaats. Muss daran erinnert werden, dass auch die Opposition in Israel immer wieder Kritik übt, zum Beispiel an Gewaltakten jüdischer Siedler im Westjordanland? In Tel Aviv und anderen Städten sind in den vergangenen Monaten Hunderttausende gegen Netanjahus Pläne für eine Justizreform auf die Straße gegangen. Diejenigen, denen es schwerfällt, in dem seit mehr als hundert Jahren wabernden Konflikt Position zu ergreifen, finden hier einen Haltepunkt für wertgebundenes und rationales Urteilen: Israel ist eine Demokratie, die einzige im Nahen Osten übrigens. Es sollte für die westlichen Demokratien selbstverständlich sein, diesem Staat in der Stunde der Not beizustehen.
Die Hamas will Israel auslöschen. Dasselbe Ziel haben der Iran, weltweiter Brandstifter Nummer eins, und die von ihm gesteuerte Hisbollah im Libanon. „From the river to he sea, Palestine will be free“. In dieser Projektion bleibt kein Jude übrig. Mit ihrer Vernichtungsabsicht halten die Terroristen nicht hinter dem Berg. Sie werben damit in der muslimischen Welt, und niemand muss glauben, dass sie ihren Worten keine Taten folgen lassen. Das Massaker vom 7. Oktober ist von unschlagbarer Beweiskraft.
Gewiss, die Bilder aus Gaza, die uns allabendlich zur Tagesschau-Zeit begegnen, sind schrecklich. Ganze Stadtteile in Ruinen, Menschen auf der Flucht, Leichenberge – Folge israelischer Bombardements. Das Mitgefühl mit den Unschuldigen darf jedoch nicht zu falschen, weil vordergründigen Schlussfolgerungen führen wie der Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand. Wer von den israelischen Soldaten verlangt, an Zivilpersonen im Gaza-Streifen vorbeizuschießen, spricht Israel das Recht auf Selbstverteidigung ab. Denn es ist nun einmal so, dass die Nichtunterscheidbarkeit der Kämpfer von Unbeteiligten eine Waffe ist, die die Hamas bewusst einsetzt. Der Kollateralschaden ist gewollt. Die Bilder des zivilen Leids tragen der Hamas mehr Nutzen ein als die Raketen, die sie auf israelische Städte abfeuert. Sie sollen die Welt dazu bringen, Israel in den Arm zu fallen. Im beispiellosen Zynismus der Hamas-Kriegführung gehört der massenhafte Tod von Zivilisten zur Essenz der Kriegführung.
Wer das nicht sehen will, muss mit Blindheit geschlagen sein oder aus vergiftetem Wasser schöpfen. Es war immer zu einfach, Antisemitismus ausschließlich der extremen Rechten zuzuordnen, gleichsam als geistige Ausstattung der Ewiggestrigen. Es gibt auch linken Antisemitismus. Antisemitisch infiziert waren Teile der RAF und ihres Sympathisantenumfelds. 1969 legten Berliner „Tupamaros“ einen Sprengsatz in ein Jüdisches Gemeindehaus. Planer des Attentats, das wegen eines veralteten Zünders schief ging, war wahrscheinlich der Kommunarde Dieter Kunzelmann.
Geschichtskundig hatten die „Tupamaros“ seinerzeit den 9. November als den Tag gewählt, an dem die Bombe explodieren sollte. Am 9. November 1938 waren in der sogenannten „Reichskristallnacht“ von SA-Banden überall in Deutschland die Synagogen angezündet, jüdische Geschäfte geplündert, Juden getötet und gedemütigt worden. Im selben Jahr 1969 versuchten in München „Spartakisten“ und andere Links-Gruppen Arm in Arm mit Palästinensern eine Veranstaltung im Audimax der dortigen Universität zu sprengen. Gastredner der Veranstaltung war der Botschafter des Staates Israel, Asher Ben-Natan, der am Reden gehindert werden sollte. Was linke Kreise gern verschweigen: Die RAF und neben ihr die Roten Zellen sowie die Bewegung 2. Juni ließen in palästinensischen Camps für den Terroreinsatz schulen. Alles alte Kamellen?
Die fatale Geistesverwandtschaft von deutschen Linken und palästinensischen Extremisten wurde nie aufgelöst. Erst jetzt dringt ins öffentliche Bewusstsein, wie stark an deutschen Universitäten inzwischen der Einfluss postkolonialer Theorien ist, in denen Israel als Apartheid-Staat firmiert. Die nach der Nazi-Parole „Kauft nicht beim Juden“ operierende Boykottbewegung BDS hat unter deutschen Linken viele Gleichgesinnte. Und dass Antisemitismus in unserer Kulturszene kein „No go“ ist, wurde beim Skandal um die vorige Kasseler „Documenta“ offenbar. Von Blindheit geschlagen?
Lange Zeit galt es als unanständig und geradezu hanebüchen, den linksgerichteten Antisemitismus zu thematisieren. An das Denkverbot hielten sich auch deutsche Behörden. So wurden in der amtlichen Kriminalstatistik ungeklärte antisemitische Vorfälle routinemäßig der Abteilung Rechtsextremismus zugeordnet. Mit der Folge, dass andere Gestehungsarten kaum oder gar nicht zur Kenntnis genommen wurden. Mittlerweile hat das Bundesinnenministerium die Sortiermethoden der Kriminalstatistik geändert.
Erforderlich ist ein generelles Umdenken. Wer nach Erklärungen für die erschreckende Teilnahmslosigkeit der Zivilgesellschaft gegenüber dem Hamas-Terror sucht, wird an der Tatsache nicht vorbeikommen, dass die erprobten Organisationsmaschinen für den Protest hierzulande ausnahmslos im linken Milieu angesiedelt sind. Beim Thema Israel springen sie nicht an, allen Bildern von brutal vergewaltigten Frauen und im Angesicht ihrer Eltern geschlachteter Kinder zum Trotz. Es ist an der Zeit, den linken Antisemitismus offen zu benennen. Er verknäult sich mit dem „klassischen“ Antisemitismus von rechts, den zu bekämpfen er vorgibt.
Tabuisiert über Jahre wurde auch der islamische Antisemitismus – eine Realitätsverweigerung, die sich nach dem, was zuletzt auf deutschen Straßen und Plätzen zu sehen war, nicht durchhalten lässt. Da wurden ja nicht bloß Palästina-Fahnen geschwenkt. Ein kreischender Pöbel skandierte Parolen, die die Hamas verherrlichten. Antijüdische Verschwörungstheorien und Hassbotschaften fluten die Sozialen Medien. Fachleute streiten, ob man von einem islamistischen oder einem islamischen Antisemitismus sprechen soll. Entscheidend ist: Antisemitische Einstellungen kommen in islamischen Ländern doppelt so häufig vor wie in den Ländern Europas. Wie lange diese Diskrepanz noch gilt, weiß niemand. Der Abstand wird geringer werden. Denn die Menschen, die nach Europa emigrieren, nehmen ihre Einstellungen mit. Der Co-Vorsitzende der Grünen, Omid Nouripur, der aus dem Iran stammt, schilderte kürzlich im Fernsehen, wie die Kinder im Schulsystem des Iran zum Hass auf Israel erzogen werden. Für die Schulen im Irak gelte dasselbe. Es sei naiv zu glauben, dass derart indoktrinierte Menschen bei der Einreise nach Deutschland plötzlich vergäßen, was sie gelernt haben.
Der importierte Antisemitismus, ob islamisch oder islamistisch, war in Deutschland bis jetzt ein gesellschaftliches „Rühr-mich-nicht-an“. Wer ihn ansprach, musste auf den Vorwurf gefasst sein, Islamophobie zu schüren. Mit Wegsehen und Verharmlosen aber löst man kein Problem. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, warnte 2016 einen Brief an die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel vor „Prägungen“, die im Zuge der Massenmigration nach Deutschland einsickern würden. Einen Kurswechsel in der Einwanderungspolitik verursachte diese Warnung bekanntlich nicht.
Heute besteht eine neue Chance. Städte und Gemeinden sind am Limit. Es fehlt an Wohnraum, es fehlt an Geld, es fehlen die Voraussetzungen, eine Integration zu fördern, die den Namen verdient. Die Sorge vor importierten rassischen Konflikten addiert sich zu dieser Mangellage und hat selbst unter Grünen die Erkenntnis reifen lassen, dass Migration und Antisemitismus verbundene Themen sind. Das fröhliche Multi-Kulti war eine Fatamorgana.
Die Beharrungskräfte sind jedoch beachtlich. Man kann sich bloß wundern über die Selbstgerechtigkeit, mit der durch nichts legitimierte Organisationen wie „Pro Asyl“ gegen jeden Versuch, die irreguläre Migration in den Griff zu bekommen, aufbegehren. Die praktizierte Verantwortungslosigkeit reicht hinein bis in die Kirchen. Vor kurzem äußerte die EKD-Vorsitzende Annette Kurschus, Deutschland nähme zu wenige Flüchtlinge auf. Die Aufnahme habe erst da ihre Grenze, „wo es zur Selbstaufgabe kommt“. Was um aller Welt meint Kurschus mit Selbstaufgabe? Wenn der Bürgerkrieg droht? Wenn der letzte deutsche Jude das Land fluchtartig verlassen hat?
Es ist schrecklich, die Wahrheit auszusprechen: Jüdische Kinder werden angehalten, nicht zu Schule zu gehen. Sie sollen keine Kipa tragen, um nicht aufzufallen. Juden in Deutschland leben wieder in Angst. Es ist besonders die Angst vor dem importierten Antisemitismus, vor den Hassevangelien, die in einigen deutschen Moscheen gepredigt werden und vor dem, was diese Botschaften in den Köpfen junger, ungefestigter Menschen aus der Sphäre des sogenannten Globalen Südens anrichten. Was denn die Sicherheit Israels als deutsche Staatsraison konkret bedeute, wird immer wieder gefragt. Heute bedeutet sie, sich schützend vor die Juden in Deutschland zu stellen. Dem Schriftsteller Rafael Seligmann ist zuzustimmen. Er schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Allein werden wir Juden uns von unsrer Angst nicht befreien können“.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.