Dieter Weirich

Poetisch und kraftvoll ist das deutsche Grundgesetz, das am 23. Mai seinen 75.Geburtstag mit einem Staatsakt in Berlin und auch einem Festival der Demokratie in seinem Geburtsort Bonn feiert. Ursprünglich als Provisorium gedacht, hat sich dieses vom Parlamentarischen Rat verabschiedete Dokument der Freiheit als Glücksfall der deutschen Geschichte erwiesen. Es steht für den längsten freiheitlichen Abschnitt in der Geschichte der Deutschen, ist eine Erfolgsstory. Bundeskanzler Scholz spricht zu Recht von der „besten Demokratie, die wir je hatten“.

Dass Frieden, Freiheit und Demokratie keine Selbstverständlichkeit sind, zeigt uns die von immer mehr Krisen erschütterte Welt. Meinungsfreiheit, Demokratie und vor allem auch die Freiheit der Wissenschaft stehen weltweit unter Druck.

„Geglückt, aber nicht garantiert“ ist die Demokratie aus Sicht der Berliner Politik im eigenen Land.  Mit Steuerzahlergeld soll deshalb demokratisches Bewusstsein gefördert werden, was in mancher Sonntagsrede zum Verfassungstag zum Ausdruck kommen wird. Ein – aber selbst in der Ampel-Regierung umstrittenes – Demokratiefördergesetz ist in Vorbereitung.

„Der Staat ist kein Erziehungs-, sondern ein Rechtsinstitut“. An diesen Satz des großen preußischen Gelehrten und Staatsmanns Wilhelm von Humboldt gilt es zu erinnern. Die Bemühungen um ein neues Wir-Gefühl erschöpfen sich häufig in der Hoffnung auf die Bildung von Gesinnungs-Gemeinschaften. Der Glaube an die Weisheit von Regierungen ist aber kein Ausweis von Demokratie.

Sorgen machen muss vielmehr die zunehmende Lösch- und Zensurkultur. „Cancel culture“, also die (wie noch so Vieles mehr aus den USA herübergeschwappte) systematische Bestrebung zum Ausschluss partieller sozialer Gruppen, entwickelt dermaßen autoritäre bis totalitäre Züge, dass es jedem Liberalen graust. Selbst im „progressiven“ Lager beschweren sich inzwischen immer mehr linke Professoren und Autoren über Sprachverbote und Gängeleien.

Wir sollten uns deshalb an einem großen Deutschen orientieren, der vor 300 Jahren am 22.April geboren wurde und die unantastbare Würde des Menschen im Grundgesetz als oberstes Ziel in seinen Werken vorgegeben hat. Für Immanuel Kant, den Philosophen der Aufklärung, war Freiheit zur Selbstbestimmung, nicht zur Erziehung da.

„Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“ rief er den Menschen zu. Ein am Verfassungsgeburtstag besonders aktueller Appell. 

 

Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als „liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.

 

         

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