Von Günter Müchler

Günter Müchler

Runde Geburtstage sind ein Zwischenstopp. Wie geschaffen, einmal in Ruhe über sich selbst nachzudenken, über die Zeit und was diese aus einem gemacht hat. Die Grünen begehen dieser Tageden vierzigsten Jahrestag ihres Einzugs in den Deutschen Bundestag. Für eine Partei, die eigentlich nie eine sein wollte, ein respektables Etappenziel. Und doch ist den Grünen nach Feiern nicht zumute.

Politisch läuft es momentan ausgesprochen suboptimal. Die Demoskopie sendet ernüchternde Zahlen. Die Arbeit in der Koalition verschafft kaum Glücksmomente. Intern brechen alte, für überwunden gehaltene Widersprüche auf. Wie anders war es im Jahre des Herrn 1983! Natürlich, auch damals gab es Streitereien über Weg und Ziele. Im Kern aber, das heißt im „Gegen“, war man ganz bei sich: Gegen die amerikanischen Pershing-Raketen, gegen die kapitalistische Kernenergie, gegen das Parteienkartell.

Der Bonner Sitten-Kanon wurde rundum attackiert, immer mit Lust und manchmal einfallsreich. Zum Beispiel durch das Tragen revolutionärer Fußbekleidung. Oder indem man den Parlamentskantinier nötigte, das damals nur esoterischen Kreisen bekannte Tofu auf die Speisekarte zu setzen. „Plastikschnitzel“, spotteten die Kollegen von der Konkurrenz und platzten vor Häme, wenn sie Vertreter der neuen Fraktion dabei ertappten, wie sie, nach rückversicherndem Schulterblick aus der Tofu-Schlange ausscherend, in jene Abteilung überwechselten, die vor der Essensausgabe mit Frikadellen und Bratkartoffeln wartete.

Romantische Zeiten waren das – Zeiten, in denen die Politik noch ein Wunschkonzert zu sein schien. Kein Wunder, wenn heute mancher Grüne wehmütig mit Goethes Lynkeus, dem Türmer, aus Faust II seufzt: „Es sei wie es wolle / es war doch so schön“. So etwas wie den Zauber des Anfangs besaß auch der Start der Berliner „Ampel“-Koalition. Für die Grünen stand, als es 2021 losging, außer Zweifel, dass sie diejenigen waren, die im Kampf gegen die Klimakrise, die große Generationenaufgabe, die Rolle des Lotsen übernehmen würden.

Im ersten Ampel-Jahr kam dann Putins Krieg, der Überfall auf die Ukraine, störend dazwischen. Doch Vizekanzler Robert Habeck, zuständig für das Klima, hatte auch in der sicherheitspolitischen Zeitenwende eine starke Performance. Überhaupt Habeck: Unaufdringlich, aber deshalb umso auffälliger, gefiel er sich in der Rolle als Vorturner der Regierungsmannschaft. Neben ihm mit seiner medialen Omnipräsenz und seinem umarmenden Kommunikationsstil schrumpfte der spröde Olaf Scholz eine Zeitlang zum Titularherrscher – mit Wohnrecht im Kanzleramt, aber von wirklicher Amtsgewalt ferngehalten wie der letzte Merowinger-König von seinem Hausmeier Pippin.

Inzwischen ist die theatralische Aufstellung eine andere. Scholz zeigt, in seiner sehr speziellen Art, dass er die Zügel nicht aus der Hand geben will. Im Streit um das Heizungsgesetz ließ er die FDP für sich arbeiten. Der neue Entwurf ist noch nicht das Ende, doch was immer aus dem parlamentarischen Durchgang herauskommt: In den Augen der Öffentlichkeit wird es ein Gesetz sein, das gegen seine Urheber vor dem Makel der Unvernunft gerettet werden musste.

Die Beule, die die Karosse der Grünen im Zuge des Heizungsgesetzes davontrug, ist nicht die einzige. Und doch ist sie eine, die die Partei als Versicherungsnehmer mit hoher Eigenbeteiligung nachhaltig belastet. Erstens weil die Affäre um Habecks Staatssekretär Graichen mehr als nur den Verdacht geweckt hat, dass bei ihnen Vetternwirtschaft kein Ausrutscher ist, sondern im Gestrüpp der zahllosen Öko-NGO’s mit halbstaatlicher Verflechtung systemisch sein könnte. Zweitens unterstreicht der Wärmepumpen-Dogmatismus des ursprünglichen Entwurfs, dass es mit dem Vorhalt, die Grünen seien eine unbelehrbare Oberlehrerpartei, halt doch etwas auf sich hat.

Ist Einbahnstraßendenken, als alternativlos markiert und in Brutalomanier den Bürgern serviert, das, was die Grünen-Politik kennzeichnet? Darüber lässt sich streiten, doch jedenfalls hat Liberalen-Chef Christian Lindner es mithilfe von Olaf Scholz hinbekommen, dass es so aussieht. Die FDP feiert sich als Kraft der Vernunft. Dass sie den Grünen an den Karren gefahren ist, hat sich für sie gelohnt. Himmelsstürmer Habeck jedenfalls ist erst einmal geerdet. Man wird beobachten, wie er damit zurechtkommt.

Die demoskopische Delle ist zunächst eine Momentaufnahme. Ob sie einen Trend weist, ist keinesfalls gewiss. Immerhin scheint der Zeitgeist die Grünen nicht mehr so unbedingt und zufallssicher zu tragen. Die Zeiten sind bewegt. Die Zeitenwende bedroht per definitionem Heilige Kühe. Und davon haben die Grünen auch im einundvierzigsten Jahr ihrer parlamentarischen Existenz immer noch mehr im Stall als die durch viele Wetter gegangenen Christ- und Sozialdemokraten.

Da ist die Heilige Kuh Pazifismus. Ihre Anbeter, eine unter den Alt-Grünen verbreitete Spezies, hat die Frontstellung der pragmatischen grünen Parteiführung gegen Putins Imperialismus stark verunsichert. Verwirrung herrscht auch im öko-orthodoxen Flügel der Partei. Ursächlich sind hier Habecks im neuen „Deutschland-Tempo“ errichteten Flüssigkeit-Terminals, herabgestufte Umwelt-Standards und hochgefahrene Kohlekraftwerke – alles Maßnahmen, zu denen sich der Wirtschaftsminister verstehen musste, um das Schlachten einer noch heiligeren Kuh zu vermeiden, der Kuh mit Namen Anti-Atomkraft.

Selbstverständlich geht die Annäherung an die Wirklichkeit, die Habeck und Annalena Baerbock betreiben, nicht ohne Schrammen am ideologischen Mobiliar ab. Viele Anhänger erleben die Entwicklung als Heimatverlust. Das wird beim aktuellen Konflikt um die europäische Asylreform besonders deutlich. In diesem Konflikt ist die Partei gespalten. Nach zähen Verhandlungen hatte der EU-Rat neue Verfahrensregeln beschlossen, mit dem Ziel, Menschen aus sicheren Herkunftsländern, Menschen ohne echte Bleibeperspektive also, erst gar nicht erst in die EU einreisen zu lassen.

Während Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) das Ergebnis als „Meilenstein“ feiert und Realos sowie Regierungs-Grüne den Kompromiss verteidigen, verlangen die grüne Jugendorganisation und mit ihr die Co-Parteivorsitzende Ricarda Lang eine umgehende Revision. Wie tief der Zwist reicht, zeigt eine Äußerung von Altgrün-Star Jürgen Trittins. Er bezeichnete den Brüsseler Kompromiss als Harmonisierung „auf dem Niveau der Schäbigkeit“.

Sind Baerbock und Habeck moralisch schäbig, weil sie der Einigung zugstimmt haben? Selbst wenn der bevorstehende Kleine Parteitag einen der üblichen Formelkompromisse gebären sollte, droht den Grünen über kurz oder lang eine Zerreißprobe. Denn die Asylproblematik bleibt gebieterisch auf der Tagesordnung. Europa verzeichnet seit Monaten steigende Flüchtlingszahlen. Deutschland mit zwei Millionen Flüchtlingen, davon die Hälfte Ukrainer, ist eines der Hauptzielländer, und wird es wohl auch bleiben.

Und zwar keineswegs bloß wegen der Magnetwirkung hoher Sozialleistungen. Anziehend wirkt schon der Umstand, dass so viele Vertriebene hier Lande sind. Denn wer immer sich für den schwierigen Schritt der Ausreise entscheidet: Er orientiert sich am ehesten dorthin, wo sich bereits Familienangehörige, Bekannte und Landsleute aufhalten. Ein Umstand, den die Kanzlerin Angela Merkel übersah, als sie 2015 die Grenzen offenhielt.

Die Migrationskrise quält alle politischen Akteure. Den Grünen fällt sie am härtesten auf die Füße. Sie haben in der Vergangenheit noch jeden Vorschlag, der zu einer Milderung der Krise hätte führen können, starrköpfig zurückgewiesen. Sie haben das Problem der Illegalität ignoriert, das dadurch zustande kommt, dass jeder, der im Land ist, bleiben kann – egal ob sein Asylantrag genehmigt ist oder nicht. Sie haben sich gegen jede Rückführungsaktion gewehrt und dabei in Kauf genommen, dass das Asylrecht von einem Großteil der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert wird und dadurch wertlos geworden ist.

Aus der grünen Politik der Lösungsverweigerung bezog die rechtsradikal-völkische AfD jahrelang den Sauerstoff, den sie für ihren Aufwuchs brauchte. Aber diese Politik ist jetzt an ihr Ende gekommen. Städte und Gemeinden sehen sich am Rande des Ausnahmezustands. Es fehlt am Geld und noch mehr am Wohnraum. Parallel dazu nehmen Übergriffe auf Asylantenheime zu. Was tun? Weiterzumachen wie bisher und sich gebärden wie die NGO (Nichtregierungs-Organisation) „Pro Asyl“, für die jeder hinzukommende Flüchtling ein Gewinn ist, verbietet sich. Ein Klärungsprozess steht bei den Grünen an.

Dieser Prozess ist unvermeidlich, und die Partei spürt es. Sie fürchtet das Beben, zittert um ihre Heimat und ahnt doch, dass die Rückkehr in die Zeit vor vierzig Jahren, als sich das Reich des Guten noch scheinbar leicht vom Reich des Bösen scheiden ließ, nicht infrage kommt.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

 

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