Von Günter Müchler

Günter Müchler

Auch Politiker sollen nicht lügen. Tun sie es dennoch, sollten sie sich dabei nicht erwischen lassen. Denn werden sie erwischt, droht ihnen Ungemach. Das gilt aber nur für die Demokratie. In einer Diktatur ist das anders. Der russische Präsident Putin kann seinen Krieg gegen die Ukraine hartnäckig eine „militärische Spezialoperation“ nennen, und Patriarch Kyrill runzelt noch nicht mal die Stirn. Ist die Bewertung der Lüge demnach eine Systemfrage? Ganz so einfach ist das nicht; man denke an Trump, den amerikanischen Lügenbaron. In unserer ehrenwerten Demokratie kommt eine Version der Unwahrheit vor, die sogar die Segnungen des Zeitgeistes genießt: die „edle Lüge“.

Philosophiegeschichtlich taucht die „edle Lüge“ in Platons „Politeia“ auf. Später kommt Macchiavelli, der Theoretiker des skrupelfreien Machterhalts, darauf zurück. Bei Platon ist es der höhere Zweck, der es rechtfertigt, Unwahrheiten in Umlauf zu bringen, z.B. der Zusammenhalt der Polis, des Gemeinwesens. Eine weitere Voraussetzung ist, dass diejenigen, die sie verbreiten, auf der Seite des Guten stehen. Dass sie „woke“ sind, wie man heute sagen würde. Treffen beide Voraussetzungen zu, ist Mythenbildung erlaubt, ja sogar geboten. In Deutschland gibt es eine Reihe aktueller Sujets, über die mythischer Nebel ausgebreitet ist. Nehmen wir zwei davon unter die Lupe: Die Atomkatastrophe von Fukushima sowie den sogenannten Gender-Pay-Gap.

Am 11. März 2011 löste das Töhoku-Seebeben einen Tsunami aus. Infolge der bis zu 40 Meter hohen Flutwellen starben in der Präfektur Fukushima 22 000 Menschen. 470 000 Menschen mussten evakuiert werden. Schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde das Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi. In vier von sechs Reaktorblöcken kam es zur Kernschmelze. In der ganzen Welt lösten die Nachrichten aus Japan Bestürzung aus. Zu einer unmittelbaren politischen Reaktion kam es in Deutschland.

Drei Tage nach dem Unglück erklärte die Regierung Merkel/Westerwelle den Atomausstieg. Acht Reaktoren, die bis 1980 in Betrieb gegangen waren, wurden sofort abgeschaltet. Die Regierung vollzog damit einen radikalen Kurswechsel. Erst wenige Monate vor den Ereignissen in Japan hatte sie den von der rot-grünen Vorgängerregierung beschlossenen Ausstieg rückgängig gemacht und eine Laufzeitverlängerung für die deutschen Atommeiler verkündet.

Ihre Entscheidung begründete die Regierung mit den unkalkulierbaren Risiken der Kernenergie, die sich in Fukushima bestätigt hätten. Sie wartete gar nicht erst die Klärung der Unglücksursache ab, sondern zog ihre Schlussfolgerungen wie in Panik. Dabei war rasch offenkundig, dass es sich bei den japanischen Ereignissen um eine Naturkatastrophe und nicht um einen Atomunfall gehandelt hatte. Anders als befürchtet und als anfänglich behauptet gab es kein einziges Strahlenopfer, weder im Kraftwerk selbst noch in der Bevölkerung.

Langzeitfolgen durch Radioaktivität, wie etwa erhöhte Krebserkrankungen, wurden nicht registriert. Vier Jahre später stellte die kernkraftkritische „taz“ im Ton des Bedauerns fest: „Zwar kam durch den GAU vom 11. März 2011 infolge eines Erdbebens und eines gewaltigen Tsunamis niemand direkt ums Leben. Doch sterben immer mehr Menschen an den gesundheitlichen Auswirkungen des harten Lebens in den provisorischen Behelfsunterkünften. Andere begehen Selbstmord.“

Gegen alle Evidenz nistete sich Fukushima als Chiffre für die unkontrollierbare Kernenergie ein. Bundesregierung und Bundestag unterließen es, die Ausstiegsentscheidung zu überprüfen. Auch die Medien unternahmen wenig, dem Mythos Fukushima zu Leibe zu rücken. „Noli me tangere!“- rühre bloß nicht dran. In Jubiläumsartikeln ist es auch heute üblich, Seebeben und Tsunamis als Unglücksursache auszublenden und Fukushima als Atomkatastrophe zu labeln. So sprach das katholische Kölner „Dom-Radio“ 2021 von der „schwersten Nuklearkatastrophe seit dem ukrainischen Tschernobyl“. Eine „edle Lüge“, die man nicht beichten muss.

Frauen verdienen weniger, bloß weil sie Frauen sind. Oder doch nicht? Alle Jahre wieder gibt das Statistische Bundesamt Zahlen über die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern heraus. Das geschieht meist am „Equal-Pay-Day“, am 7. März. 2022 war die entsprechende Pressemitteilung so überschrieben: „Frauen verdienten pro Stunde weiterhin 18 Prozent weniger als Männer“. Fernsehen, Radio und Zeitungen übernahmen den Duktus. Durch ständiges Wiederholen ist die angebliche Lohndiskriminierung der Frauen zu einer Sache geworden, die man nicht mehr infrage stellt.

Wer sich freilich die Mühe machte, die Mitteilung aus Wiesbaden zu Ende zu lesen, kam dann aus dem Staunen nicht heraus. Das Amt korrigierte sich nämlich selbst. In zwei Schritten enthäutete es die dramatische Überschrift, so dass von ihr nicht viel mehr übrig blieb als das Skelett einer Fake-News. Schritt eins:  Die 18 Prozent, räumte die Mitteilung irgendwo unter ferner liefen ein, meine den sogenannten „unbereinigten Pay Gap“. Dieser ergebe sich aus der in ein Verhältnis gesetzte Summierung der Bruttostundenverdienste Frauen/Männer, „ohne die ursächlichen Faktoren für den Gender-Pay-Gap zu berücksichtigen“.

Als mögliche Faktoren nannte das Bundesamt: Frauen arbeiten häufig in weniger gut bezahlten Berufen und seltener in Führungspositionen. Berücksichtige man „die ursächlichen Faktoren“, seien von der „Gerechtigkeitslücke“ 12 Prozent abzuziehen. Bleiben 6 Prozent, immer noch ein Skandal, möchte man meinen. Indessen, auch der „bereinigte Pay-Gap“ ist eine Luftnummer. Denn, so gab die Behörde (noch ein Stück weiter unten in der Mitteilung) kleinlaut zu: „Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Unterschiede geringer sein würden, wenn weitere Informationen über lohnrelevante Einflussfaktoren (zum Beispiel Angaben zu Erwerbsunterbrechungen aufgrund von Schwangerschaft, Geburt von Kindern oder Pflege von Angehörigen)“ vorlägen (Quelle: DISTATIS/Statistisches Bundesamt. Pressemitteilung 088 vom 7. März 2022).

Da diese Informationen nicht vorhanden sind, weiß niemand zu sagen, wieviel von den 6 Prozent übrig bleibt, wahrscheinlich nichts. Die Wahrheit ist: Es gibt keine Lohndiskriminierung der Frauen. Was es gibt, sind unterschiedliche Erwerbsbiographien. Die aber kommen nicht zustande durch die Bevorzugung von Männern, sondern durch private Entscheidungen.

Dies alles könnte man wissen – Politiker, Journalisten, Bürger. Sie könnten wissen, dass es unredlich ist, Zahlenmengen in Verbindung zu setzen, die isoliert ohne Aussagekraft sind. Sie könnten wissen, dass in Deutschland jedem Arbeitgeber eine Strafanzeige droht, der Frauen und Männer bei gleicher Arbeit ungleich entlohnt. Sie könnten es wissen und wissen es. Aber „edle Lügen“ genießen längst Bestandsschutz. Weshalb die Mär von der Lohndiskriminierung ganz gewiss weiterhin erzählt werden wird, gewiss auch vom Statistischen Bundesamt. Wahrscheinlich wieder am 7. März, dem nächsten „Equal-Pay-DAY“.

 

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

       

 

- ANZEIGE -