Die deutschen Hochschulen, der Bund und die Länder (1) 

Von Wolfgang Bergsdorf

Autor Wolfgang Bergsdorf

Sogar in einer Zeit, in der sich fast alles ändert, gibt es Konstanten, die veränderungsresistent sind. Das gilt zum, Beispiel, für die Finanzierung der deutschen Hochschulen, die seit Jahrzehnten strukturell defizitär ist. Universitäten wie Oxford (Großbritannien) oder auch Stanford (USA) sind deshalb so exzellent, weil sie optimale Betreuungsmöglichkeiten bieten. Ein Professor braucht sich dort nur um eine Handvoll Studenten zu kümmern. Bei uns hat er im Schnitt 16 zu betreuen. Natürlich variiert diese Zahl von Fach zu Fach, von Hochschule zu Hochschule und von Bundesland zu Bundesland. In den (im Verhältnis) noch immer neuen Ländern in Ostdeutschland sind dabei die Verhältnisse günstiger für die Studierenden als in den „alten“.

„Explosion“ der Studentenzahlen 

Wie es zu dieser strukturellen Unterfinanzierung der Unis in Deutschland kam, kann nur erklärt werden, wenn man die Entwicklung des Hochschulwesens hierzulande wenigstens skizziert. Dabei sind sechs Merkmale charakteristisch sind für die Prozesse, welche die deutschen Hochschulen seit 1945 durchliefen. Das erste Merkmal ist die gewaltige Expansion der Studentenzahlen: 1950 gab es 130 000 Studierende an 143 Hochschulen, davon 56 im Rang einer Universität. 2020 waren 2,9 Millionen Personen an deutschen Hochschulen immatrikuliert, davon 1,78 Millionen an Universitäten und mehr als eine Million an Fachhochschulen. Letztere hatten lange Zeit den Ruf, zweitklassig zu sein. Mittlerweile nennen sie sich University of Applied Sciences, um den hohen praktischen Anwendungscharakter ihres wissenschaftlichen Engagements zu unterstreichen. Längst  machen sie den Universitäten Konkurrenz und greifen inzwischen auch deren bisheriges Alleinstellungsmerkmal an, nämlich das Promotionsrecht.

Universität Oxford © Meatle auf Pixabay.com

Zweites Merkmal ist die Zusammenführung der verschiedenen Hochschularten – also der Universitäten, Pädagogischen Hochschulen, Theologischen Hochschulen, Kunst- und Musikhochschulen und Fachhochschulen zu einem tertiären Bildungsbereich. Heute gibt es im Land 400 öffentliche und private Hochschulen, davon 120 Universitäten, 221 Fachhochschulen und 58 Kunst- und Musikhochschulen. Die Zahl der öffentlichen Hochschulen liegt bei 310. Deutschland stellt 1,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes als Ausgaben für den tertiären Bildungsbereich zur Verfügung. Spitzenreiter mit 3,0 Prozent ist in dieser Dimension Kanada, gefolgt von den USA, Japan, Frankreich und – erstaunlicherweise (?) – Russland. Für Deutschland also noch viel Luft nach oben. 

Ende der klassischen Ordinarien-Uni 

Drittes Merkmal ist die durchgreifende Änderung der inneren Organisation der Hochschulen. Die klassische Ordinarienuniversität wurde abgelöst durch Mitbestimmung und Selbstverwaltung der Gruppen. Also: Hochschullehrer, Wissenschaftliche und Nicht-Wissenschaftliche Mitarbeiter, Studierende. Die Fachbereiche wurden gestärkt zulasten der Fakultäten, die Rektoratsverfassung ist von der Präsidialverwaltung abgelöst worden.

Viertes Merkmal ist die Einschränkung der Hochschulautonomie zugunsten staatlicher Regulierung durch Gesetze, Verordnungen, Prüfungs- und Studienordnungen. Dieser Abbau an Autonomie wurde haushalterisch kompensiert durch Pauschalzuwendungen im Rahmen von Verträgen zwischen der einzelnen Hochschule und dem jeweils zuständigen Ministerium. Daraus ergab sich ein größerer Gestaltungsspielraum im Detail. Zum Beispiel wurde die Übertragbarkeit nicht verausgabter Mittel für das nächste Haushaltsjahr erreicht, was für längerfristige Planungen wichtig ist.

Höchstmaß an Fingerspitzengefühl

Fünftens schließlich kam es nach 1990 darauf an, das DDR-Hochschulwesen mit der westdeutschen Hochschullandschaft zu vereinigen. Hier wurde ein Höchstmaß an Flexibilität, Improvisationskunst und Fingerspitzengefühl verlangt. Und zwar unabhängig von den gesetzgeberischen, administrativen, personellen und finanziellen Innovationen.

Sechstens endlich ist der so genannte Bologna-Prozess zu erwähnen, den die Hochschulen seit den 2000-er-Jahren durchlaufen haben. Die in diesem Zusammenhang übernommene Studienstruktur hat auch die strukturelle Unterfinanzierung der unserer Hochschulen verstärkt.

Die nach dem Krieg begonnene Wiederaufbauphase der deutschen Hochschulen wurde 1960 abgeschlossen. Sie stand, nicht zuletzt, unter den Vorzeichen einer Wiederanknüpfung an die Universitätsstruktur Humboldt‘scher Prägung, in der die nationalsozialistischen Elemente entfernt und die Selbstverwaltung der Hochschulen von der Re-education-Politik (d. h. Erziehung zur Demokratie) der westlichen Besatzungsmächte forciert wurden. In den ersten Jahren nach 1948 gab deshalb es so viel Hochschulautonomie wie noch nie zuvor und danach. Selten war die Einheit von Forschung und Lehre überall so erfahrbar wie damals. Auch wenn es schon in jenen Jahren zahlreiche Initiativen zur Reform der Strukturen gab, obsiegte zumeist und zunächst das Beharrungsvermögen der Institutionen.

Viele Neugründungen

Dies änderte sich grundsätzlich, als die Zahlen der Studienanfänger und der Studierenden insgesamt stetig anstiegen. Zwischen 1950 und 1977 wuchs deren Zahl von 171 000 auf 913 000 an. Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl der Universitäten auf 97. Dieses Wachstum der Studiennachfrage beflügelte die Neugründung von Universitäten und in diesem Zusammenhang vor allem von Fachhochschulen. Eine Entwicklung, die etwa 1970 abgeschlossen wurde. In jenem Jahrzehnt wetteiferten die Länder mit Hochschulneugründungen und ließen sich bei der Planung des Ausbaus vom Wissenschaftsrat beraten, in dem sich die Einflusssphären der Regierungen von Bund und Ländern sowie der Hochschulen in einem „labilen Gleichgewicht“ hielten.

Das waren jene Jahre, in denen der Philosoph, Pädagoge und Theologe Georg Picht unter dem Druck eines drohenden Lehrermangels einen „Bildungsnotstand“ prognostizierte. In seinem legendär gewordenen Essay in der damaligen Wochenzeitung Christ und Welt hatte er sich unter anderem darüber beklagt, dass der Anteil der Ausgaben für Forschung und Lehre am staatlichen Bruttosozialprodukt von 3,6 Prozent in 1958 auf 3,0 Prozent 1964 zurückgefallen waren. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass seinerzeit das deutsche Wirtschaftswunder aus diesem 3,6-Prozent-Anteil für Forschung und Entwicklung entstanden ist. Heute liegt er mit einem Prozent allerdings deutlich höher als der EU-Durchschnitt mit 0,8 Prozent. Das betrifft allerdings nur die universitären Forschungsausgaben, nicht die industriellen.

Bürgerrecht auf Bildung

In jenen Jahren proklamierte der später nach London gewechselte freidemokratische „Vordenker“, Prof. Ralf Dahrendorf, das „Bürgerrecht auf Bildung“, und der Bildungs-Ökonom Friedrich Edding plädierte für eine dramatische Expansion der Hochschulen. Der internationale Vergleich mit den Bildungskennzahlen in den USA, in Schweden und in der UdSSR dominierte seinerzeit den hochschulpolitischen Diskurs.

Man kann die dritte Nachkriegsperiode in der Entwicklung der Hochschulen mit dem Jahre 1968 beginnen lassen, als Studierende mit heftigen Manifestationen in der alten Bundesrepublik, aber auch in Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten für eine drastische Umgestaltung nicht nur der Hochschulen auf die Straße gingen. Man glaubte, den ultimativen Durchblick auf die Gesellschaft zu haben und wollte sie optimieren. Für die geistigen Lehrstätten sollten die Stichworte Gruppenuniversität, Drittelparität und Gesamthochschule die Reformen kanalisieren. Tatsächlich wurde die alte Humboldt‘sche Universität sprichwörtlich ins Museum geschickt und durch eine Gruppenuniversität ersetzt. In den überall von den Landtagen verabschiedeten Hochschulgesetzen wurden die Mitwirkungsrechte kodifiziert, aber auch die staatlichen Regulierungskräfte über die Haushalte verstärkt.

(Wird fortgesetzt)

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jg. 1941) ist Politikwissenschaftler in Bonn. Er war Büroleiter des damaligen CDU-Chefs Helmut Kohl, später nacheinander Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamts und der Kultur-Abteilung im Bundesinnenministerium. Von 2000 bis 2007 war Bergsdorf Präsident der Universität Erfurt.

 

 

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