Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Das Kopfschütteln will gar nicht mehr aufhören. Leben wir wirklich in einem von der Aufklärung geprägten, freien, demokratischen, liberalen, zivilisierten Land mit Toleranz, Gedanken- und Redefreiheit? Oder hat sich in unsere Gesellschaft nicht längst schon eine Tendenz eingeschlichen, in der immer mehr Gruppen und Grüppchen mit offensichtlichem Erfolg versuchen, für ihre (und zwar nur ihre) jeweilige Sicht und Vorstellung von Recht, Gerechtigkeit, Freiheit, Lebensart, Kultur, ja sogar Sprache Anhänger und Verfechter zu finden? Dass dies durchaus gelingt, zeigt – als vorerst jüngstes prominentes Beispiel – der renommierte Ravensburger Verlag. Seine Entscheidung (nicht zuletzt auch die verquast-verschwurbelte Begründung dafür), die gedruckten Geschichten rund um den „Jungen Häuptling Winnetou“ aus dem Programm zu nehmen, ist nichts anderes als ein peinliches Einknicken gegenüber ein paar wenigen, in den (un)sozialen Netzen auf die Darf-man-nicht-Pauke hauenden, selbsternannten Sprach- und Kulturmoralisten.

Wäre es nur dieses Vorkommnis, könnte man getrost mit den Schultern zucken und es unter „Pipifax“ abtun. Nach dem Motto, was soll der Quatsch? So einfach ist die Geschichte aber nicht. Sondern vielmehr Teil einer bereits seit geraumer Zeit stattfindenden, aggressiven Attacke auf unsere Sprache, unsere Denk- und Ausdrucksweise, unsere Begriffsvielfalt – kurz: auf unsere Kultur. Anderes ausgedrückt: Wir stehen nicht vor dem Versuch einer Kultur-Diktatur, wir befinden uns bereits mittendrin. Jeden Tag werden wir bombardiert mit Begriffen wie Gendern, Geschlechtervielfalt, kulturelle Aneignung, politische Korrektheit, unbedingte sprachliche Rücksichtnahme darauf, cancel culture, safe areas und Trigger-Wörter. Das alles jeweils verbunden mit direkten Verbots-Anleitungen oder zumindest sehr ernsthaft vorgetragenen „Empfehlungen“, dieses oder jenes (weil angeblich „diskriminierende“) Wort nicht auszusprechen, dieses oder jenes Buch entsprechend sprachlich zu reinigen, sogar diesen oder jenen Autor zu boykottieren.

Alles natürlich immer versehen mit der Behauptung, nur das Beste damit zu bezwecken. Dass weiße Schauspieler nicht mehr den farbigen Othello spielen dürfen sollen – angeblich, um die Gefühle von „cp“ zu schonen. Von „coloured people“ also, von Farbigen. Wohlgemerkt: Es sind keineswegs die auf diese Weise angeblich zu schützenden Personen, die (zumindest bei uns) dies verlangen. Es sind vielmehr ganz „normale!“ zumeist hellhäutige Bio-Deutsche, die sich anmaßen, den vermeintlich von der Umwelt Diskriminierten und daher zu Beschützenden vorzuschreiben, wie sie sich zu fühlen hätten. Das Sammelsurium der englischen Begriffe zeigt schon, woher diese moralistische Bewegung ursprünglich kommt. Nämlich, wie so häufig, aus den USA. Und dort vornehmlich sogar aus den führenden Hochschulen wie Columbia, Yale oder Stanford. Aber, mindestens genauso alarmierend, auch aus britischen Star-Unis wie Oxford oder Cambridge, wo bereits Werke von Shakespeare, Dickens, Jane Austen und sogar Agatha Christie wegen angeblich rassistischer, sexistischer, kolonialistischer Texte den Weg auf den Index fanden.

 Natürlich hat die Welt für diese Nebenwelt auch schon eine treffende Bezeichnung gefunden: „woke“. Klar, auch aus dem Englischen. Dort bedeutet es soviel wie „wach“ bzw. „aufgewacht“. Auf unsere Gesellschaft übertragen: Wachsein für das Erkennen angeblicher oder auch tatsächlicher sozialer, ethnischer, rassischer Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen. Eigentlich eine sympathische, nachahmenswerte Vorgehensweise. Wäre da bloß nicht dieser missionarische Eifer eines „Und willst Du nicht mein Bruder sein, dann…“

Ist es vor diesem Hintergrund Zufall, dass bei einer repräsentativen Allensbach-Umfrage 66 Prozent der Befragten angaben, gute Manieren besäßen keine Bedeutung mehr für sie. Eigentlich schon, weil gleichzeitig und gleichbleibend wiederum zwischen 70 und 90 Prozent der Befragten bekunden, weder mit den Zielen von Sprach- und Begriffsverboten, noch mit der inhaltlichen Bevorzugung von sich selbst als „queer“ bezeichnender Personen in den Öffentlich Rechtlichen Sendeanstalten übereinzustimmen. Als „queer“ – zur Erläuterung – sehen sich Menschen, die sich selber als weder männlich noch weiblich erkennen und deshalb das Recht einfordern, von den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft auch entsprechend bezeichnet und angesprochen zu werden. Aber was heißt das zum Beispiel bei einer brieflichen oder verbalen Anrede? Vielleicht: “Sehr geehrter bzw. geehrte Divers Müller-Meier-Schulze?”

Damit kommt, logisch, das so genannte „Gendern“ ins Spiel, das (wieder laut Umfragen) sogar von 90 Prozent der Bevölkerung mehr oder weniger strikt abgelehnt wird. Also jene Wortschöpfung, bei der die meisten maskulinen Hauptwörter – wahlweise mit einem Doppelpunkt, Quer-, Ober- oder Unterstrich verziert – jeweils mit dem femininen Zusatz „in“ dekoriert werden. Damit sich sprachlich möglichst niemand mehr ausgegrenzt wähnt. Dass dies bei manchem Moderator schon mal zu verbalen abenteuerlich-akrobatischen Sprach-Absurditäten wie „Krankenschwesterin“ führt – geschenkt. Damit muss in diesem Fall der Heimatsender WDR klarkommen. Aber, einmal ganz abgesehen von der unvermeidlich damit einhergehenden Verhunzung unserer Sprache, wer hat eigentlich die Rundfunkanstalten autorisiert, die Hörer und Zuschauer mit derartigen Sprach-Ungetümen zu überhäufen. Zeitungen können von verärgerten Lesern immerhin abbestellt werden, beim Öffentlich Rechtlichen Rundfunk besteht diese Möglichkeit nicht.

Wenn man also den Meinungsumfragen mit den im Großen und Ganzen über die Jahre hin stabil gebliebenen ablehnenden Ergebnissen glauben darf, dann erhebt sich natürlich geradezu zwangsläufig die Frage, warum lässt sich die Gesellschaft diese Art von moralisierender Zwangsbeglückung, von Dauerangriffen auf die Sprache, von Attacken auf die Kultur in ihrer ganzen Breite gefallen? Und warum erzielen die diversen Gruppen und Gruppierungen von Kultur-Terroristen – wenigstens momentan – erkennbar immer mehr Erfolg? Ob das tatsächlich auf Dauer anhält, muss die Zukunft zeigen. Auf jeden Fall beherrschen sie gegenwärtig eindeutig die Medien und die öffentlichen Dispute. Dass die Gesellschaft darauf so träge reagiert, erklärt sich freilich sozusagen von selbst. Man misst den Sachen, jeweils einzeln betrachtet, keine Bedeutung bei. Vorkommnisse wie der Verzicht des Ravensburger Verlags auf ein paar (zugegeben) literarisch relativ unwichtige Druckerzeugnisse werden in der Regel zwar belächelt, vielleicht auch kopfschüttelnd kritisiert, aber gewiss nicht als das gewertet, was sie in Wirklichkeit sind. Nämlich das peinliche Einknicken eines eigentlich dem freien Geist verpflichteten Kultur-Unternehmens gegenüber einer selbst besessenen, von sich selber und der „politischen Korrektheit“ überzeugten, zugleich aber anonymen Zensur-Community.

Ähnliches geschieht nahezu täglich im Zusammenhang mit einer ähnlichen, noch relativ jungen Begriffsschöpfung: „Kulturelle Aneignung“. Dahinter verbirgt sich das Verdikt, dass Menschen aus einem bestimmten Kulturkreis bestimmte geistige oder materielle Dinge aus einem anderen übernehmen. Und zwar nicht, wie etwa in der Kolonialzeit, durch die bloße Plünderung kultureller Einrichtungen. Nein, es geht bereits um simple Äußerlichkeiten. In Zürich wurden, zum Beispiel, Konzerte abgebrochen, weil weiße Musiker in der Band so genannte dreadlocks (Filzsträhnen) trugen und einige Zuhörer deswegen „Unwohlsein“ äußerten. Was bedeutet das zu Ende gedacht? Sollen etwa künftig nur noch Farbige Jazz, Soul oder Reggae spielen dürfen? Und weiße Europäer ausschließlich Klassik? Sollen (erneut zu Ende gedacht) zum Beispiel für Deutschen, die Geschmack an asiatischer oder afrikanischer Küche gefunden haben, künftig stattdessen nur bei Sauerkraut und Rippchen oder Schweinsbraten verharren?

Das mag satirisch überzogen sein. Aber der Kernpunkt bei der Kritik an dieser unseligen Forderung nach Ablehnung von „kultureller Aneignung“ ist doch, dass sich in der ganzen Geschichte der Menschheit deren Kultur ausschließlich durch Aneignungen, Vermengungen, Übernahmen entwickelt hat – sprachlich, musikalisch, literarisch, kulinarisch… Und nun reichen bereits Gefühle wie „Unwohlsein“ aus, um Musikveranstaltungen zu beenden? „Wehret den Anfängen“, warnte vor mehr als 2000 Jahren der römische Dichter Ovid. Und aus dem Mittelalter kennen wir die Mahnung: „Was Du auch tust, handle klug und bedenke das Ende“. Schade, dass solche Weisheiten mittlerweile offensichtlich ungelesen in den Mülltonnen des selbst ernannten gesellschaftlichen „Fortschritts“ und dessen männlichen wie weiblichen und diversen Jüngern gelandet sind. Denn Bildung besteht aus deutlich mehr als Sternchen, Ober-, Unter- oder Querstrichen.

Warum die ganze Aufregung? Weil diese Entwicklung mit Gefahren verbunden ist, die von weiten Teilen der Gesellschaft überhaupt nicht bemerkt oder bewusst beiseite geschoben werden. Dabei kennt die Geschichte der Menschheit ungezählte Beispiele, dass es gut organisierten und von ihren eigenen Vorstellungen überzeugten Minderheiten stets gelang, amorphe Mehrheiten zu majorisieren. Und seien diese zahlenmäßig auch noch so stark. Außerdem – wer nach außen Erfolg hat, wird auch weitere Anhänger gewinnen. Man ist nun einmal gern “auf der richtigen Seite” und “bei den Gewinnern”. Das hat sich, unheilvoll, oft genug in der Politik gezeigt. Und letztlich ist auch Kultur Politik. Deshalb – wehret den Anfängen und stoppen wir diese gefährlichen Moralapostel.

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

     

 

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