Gisbert Kuhn

Von Gisbert Kuhn

Endlich herrscht wieder einmal Freude im Land des Griesgrams – der Fußball beherrscht, wenigstens für eine kurze Zeit, die Schlagzeilen und die Nachrichtensendungen. Genauer: Die Europameisterschaft. Und das auch noch im eigenen Land. Hier soll nicht die überall und immer wieder gestellte (unsinnige) Frage um noch eine weitere Facette erweitert werden, ob es denn wohl (vielleicht, möglicherweise usw.) zu einer Wiederholung des vielzitierten „Sommermärchens“ von 2006 kommen werde. Damals, als in Deutschland die Fußball-Weltmeisterschaft stattfand. Die Frage ist nicht zuletzt deshalb überflüssig, weil die Hoffnung auf Neuauflagen von etwas schon Gewesenem in aller Regel in Enttäuschungen mündet. Ein Aufguss hat eben keinen neuen Geschmack.  

Warum also nicht nach etwas Neuem Ausschau halten, wenn das Euro-Gekicke unbedingt mit einem Prädikat versehen werden soll. Die Welt hat sich verändert in den vergangenen 17 Jahren, praktisch total verändert. Damals glaubten (oder hofften zumindest) viele Menschen auf dem über hunderte von Jahren von Kriegen geplagten „alten“ Kontinent, dass nach den dramatischen Ereignissen gegen Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Zusammenbruch des Sowjet-Sozialismus, der Befreiung der ost- und südost-europäischen Völker vom Moskauer Joch und der deutschen Wiedervereinigung tatsächlich der ewige Frieden ausgebrochen sei. Dabei donnerten schon längst wieder die Waffen – und zwar so nah, wie seit 1945 nicht mehr. Nämlich auf dem Balkan. Auf jenem – unter dem Namen Jugoslawien mehr oder wenige gewaltsam zusammen gehaltenen – ethnischen und religiösen „Flickenteppich“ wütete bereits seit 1992 so ziemlich das Schlimmste und Brutalste, was man sich überhaupt vorstellen kann – ein Bürgerkrieg, der am Ende mindestens 100 000 Menschenleben kostete.

Diese Rückblende habe, mögen Kritiker einwenden, doch gar nichts mit dem „Sommermärchen“ oder mit Fußball generell zu tun. Weit gefehlt, hat sie doch. Im Zusammenhang mit der Europameisterschaft 1992 in Schweden hatte der Europäische Fußball-Verband (UEFA) nämlich das eigentlich qualifizierte Jugoslawien wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen, beginnend mit Serben gegen Bosnier, vom Turnier ausgeschlossen und die bereits im Urlaub weilenden Dänen nachnominiert. Diese (nur ganz nebenbei) bedankten sich für die unverhoffte Einladungen nachdrücklich, indem sie („danish dynamite“) munter bis ins Finale stürmten und dort – ausgerechnet! – Deutschland 2:0 besiegten. Wenn jetzt also jemand auf den Gedanken käme, mit Hinweis auf den russischen Überfall auf die Ukraine und den Krieg im Gaza-Streifen nach dem von Hamas-Terroristen verübten Massaker am 7. Oktober vorigen Jahres das bejubelte Sportereignis für „unerträglich“ zu deklarieren – es ist alles schon dagewesen, wie der weise Rabbi Ben Akiba in immer neuen Abwandlungen zu sagen pflegte.

Man sollte also wirklich endlich die vor allem medial hochgejazzte Erwartung auf eine Wiederholung des „Sommermärchens“ begraben. Nicht nur ist seit 2006 – man sieht es nicht zuletzt am Alter vieler junger Spieler – eine ganz neue Generation herangewachsen, sondern die 17 Jahre waren auch geprägt von Krisen, Kriegen und Katastrophen. Von Ereignissen also, die sich in der Entwicklung auch unserer Gesellschaft niederschlugen. Von der Eurokrise über den Ausbruch der Corona-Seuche bis zu dem, lange Zeit kaum mehr vorstellbaren, brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine – jedes einzelne dieser Geschehen hätte eigentlich schon ausgereicht, um furchtsame Geister (von denen es hierzulande wirklich genügend gibt) in Schockstarre verfallen zu lassen. Und dann passieren sie nacheinander! Wie auf einer Schnur gezogen. Ohne der Gesellschaft Zeit zum Atmen zu lassen.

Der Mensch lebt bekanntlich „nicht nur vom Brot allein“. Er kann auf Dauer auch nicht ohne Freude sein. Was kommt da berufener als dieses Fußballfest. Mit Jubeln und Tränen, mit Himmelhochjauchzen und Zu-Tode-Betrübtsein, mit grenzenloser Kickerkunst und grenzübergreifender Verbrüderung und mitunter auch Albernheit.  Dazu passt die Erzählung eines Freundes, der das deutsche Eröffnungsspiel gegen Schottland (nur zur Erinnerung: 5:1) ausgerechnet in einem Pub der schottischen Hauptstadt Edinburgh verfolgte. Auch noch mit einem schwarz-rot-goldenen Schal um die Schultern. Blöde Anmache, Anfeindungen gar? Nicht die Bohne. „Im Gegenteil“, erzählte er, „am Ende lagen sich der Sieger und die Besiegten in den Armen und waren sich darin einig, dass wenigstens England den Cup nicht gewinnen dürfe“. Überhaupt diese Schotten. Also die Fans. Ihre von Dudelsackklängen begleiteten Paraden haben nicht nur die an Umzüge gewöhnten Kölner begeistert, sondern die Menschen in jedem anderen Ort auch, in dem sie erschienen. Eigentlich ein Lehrstück für Freude am Leben – und am Lebenlassen.

Könnte deshalb – vorausgesetzt, die Stimmung bliebe bis zum Ende des vierwöchigen Turniers so erhalten – von diesem Fußballfest nicht vielleicht tatsächlich ein Impuls ausgehen, um den hochtrabenden Begriff “Wunder“ zu vermeiden? Die vergangenen Jahre haben ja, ohne Zweifel, gezeigt, dass ein immer breiter und tiefer werdender Graben durch die deutsche Gesellschaft läuft. Und es ist zugleich offenbar geworden, dass die jahrzehntelang politisch scheinbar gefestigte „Mitte“ der Bevölkerung in Auflösung zu geraten droht. Man reist zwar ungebremst in exotische Feriengebiete und könnte mithin etwa die sozialen Verhältnisse mit den heimischen vergleichen – aber bei Wahlen wird deutlich, dass Demokratie und Weltoffenheit an Zustimmung verlieren. Beispiele wie dieses könnten nahezu endlos weiter angeführt werden. Andererseits: Wer die jubelnden Menschen in den Stadien, auf den Plätzen und in den Kneipen sieht, für den heben sich in diesen Momenten all die geschilderten Widrigkeiten, Abneigungen, unterschiedlichen Ansichten und Weltanschauungen auf – zugunsten gemeinsamer Freude.

Wenn also schon nicht von einem Sommermärchen sozusagen 2.0 gesprochen werden sollte, warum dann nicht von einem Fußballfest der Freude? Wenn das zuträfe, könnte der Sport auf dem grünen Reisen wirklich das werden, was er immer zu sein behauptet – nämlich die grenzenlose Verbindung zwischen Völkern und Staaten. Und er könnte hierzulande der Kitt sein, der die Gesellschaft wieder zusammenhält.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

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