Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

„Freiheit, die ich meine“ und „Die Gedanken sind frei“ – es sind zwei bis in die 50-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein sehr bekannte und auch gern gesungene deutsche Volkslieder. Das eine erkennbar von Hoffnung getragen, das andere eher selbstbewusst und trotzig. Beide entstammen der Zeit der napoleonischen Kriege und sollten die Erwartung der Menschen ausdrücken, dass endlich die Joche von Unterdrückung und Knechtschaft abgeworfen werden könnten. Heute sind die Texte nicht nur bei den Jungen weitgehend unbekannt, auch aus deren Elterngeneration werden sich vermutlich nur noch Wenige erinnern, die Weisen je gesungen zu haben. Warum auch?

Freiheit, sie ist (zumindest in Westdeutschland) seit Kriegsende zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Allenfalls wer noch den 2. Weltkrieg und die Nazi-Diktatur erlebt hat, weiß sie vielleicht als kostbares Gut zu schätzen und (hoffentlich) zu schützen. Freilich, wie hätten die Schöpfer des Grundgesetzes denn auch ahnen sollen, dass mehr als sieben Jahrzehnte nach der schlimmsten Katastrophe in der deutschen Geschichte der Gesellschaft hierzulande wieder Kräfte entwachsen würden, die mit den hehren Begriffen der Verfassung auf den Lippen schamlos Schindluder treiben würden: Gedankenfreiheit, Redefreiheit, Demonstrationsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Streikfreiheit und so weiter.

 Nun, da sich die Warnungen aus der Politik wie von Seiten der Gesundheitsexperten vor allzu laxem Umgang mit Schutzmaßnahmen zunehmend bewahrheiten und die Fallzahlen der Corona-Ansteckungen wieder deutlich ansteigen, sieht man sie schon wieder marschieren. Immer mit „Freiheit“ auf den Lippen und oft genug auch mit der gedruckten Verfassung in den Händen. Ihre „Rechte“, schreien sie, würden beschnitten. Zum Beispiel die Demonstrationsfreiheit. Und was tun sie zur selben Zeit? Demonstrieren! Sogar eskortiert und geschützt von der Polizei! Ihre Proteste richten sich gegen Schutzmaßnahmen wie etwa das Tragen von Masken. Wobei sie in ihrer Ich-Verliebtheit keine Sekunde dem Gedanken Raum geben, wie sehr dadurch die Gesundheit der Mitmenschen gefährdet werden könnte.

Es ist müßig, hier alle Themen aufzuzählen, die mittlerweile von einer ganz offensichtlich wachsenden, lautstarken und aggressiven bis zu Gewalttätigkeiten entschlossenen Minderheit auf die Straßen und Plätze getragen werden. Erneut: Stets mit dem Wort „Freiheit“ auf den diversesten Bannern. Allerdings ist es die Freiheit, die  s i e  meinen. Die ihnen (und nur ihnen) gilt. Es ist die Freiheit, der sie all jene Rechte abtrotzen, die sie für sich beanspruchen. Ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl. Es ist ihre Freiheit, von der sie das Anrecht ableiten, sich als patriotische „Vaterländler“ zu gebärden und sich dabei selbstherrlich über andere zu erheben. Über Flüchtlinge, über Angehörige anderer Rassen und Hautfarben oder eines anderen Geschlechts. Dass zwischen Flensburg und Konstanz, zwischen Weser und Oder wieder – nicht selten sogar offener – Antisemitismus aufbricht, ist eigentlich unfassbar. In einem Land, das für die Ermordung von rund sechs Millionen Juden verantwortlich zeichnet!

 Was ist los in Deutschland? Es kann doch nicht nur der brandbeschleunigenden Wirkung der schnellen, digitalen Medien zu „verdanken“ sein, dass Querdenker, verschrobene Verschwörungsjünger, Spökenkieker, eingefleischte Demokratiefeinde und sonst noch Logik, Vernunft und Mitmenschlichkeit Ablehnende in steigenden Zahlen lauthals Straßen und Märkte bevölkern. Klar, deren Auslegung von „Freiheit“ ist (um es sehr zurückhaltend zu formulieren) eine deutliche „Überdehnung“ des Begriffs. Dafür braucht es überhaupt keiner juristischen Expertise dessen, was die „Väter und Mütter“ der Verfassung sich wohl gedacht haben könnten, als sie vor ziemlich genau 70 Jahren mit dem Grundgesetz die beste Verfassung schrieben, die dieses Land und dieses Volk je hatten.

Um ein gedeihliches Zusammenleben zu bewerkstelligen, könnten eigentlich durchaus zwei Leitsätze genügen, die schon unsere Großeltern kannten: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg´ auch keinem Andern zu“ und „Deine eigene Freiheit findet dort ihre Grenze, wo die Freiheit des Anderen beginnt“. Ein solches Verhalten wäre auch trefflich mit dem Wort „Anstand“ zu übersetzen. Dieser Begriff klingt mittlerweile seltsam antiquiert, altmodisch. Sicher, es kann (und wird ja auch) immer wieder Notwendigkeiten geben, in denen sich etwa Arbeitnehmer und deren Gewerkschaften oder gesellschaftlich Benachteiligte im weitesten Sinne genötigt sehen, ihre Rechte und Interessen durch Streiks und andere Protestaktionen in die Öffentlichkeit zu tragen. Nicht umsonst wird das schließlich in unserem Lande per Verfassung garantiert. Einschließlich möglicher damit verbundener unangenehmer Einschränkungen der Mehrheitsgesellschaft. So wie es zum Beispiel bei einem Streik der Lokführer oder Piloten der Fall ist.

Was aber treibt Menschen bis hin zur Gewalt, bloß weil sie sich gegen das Tragen von Schutzmasken wehren? Wie kommt es, dass sich Menschen, die vorgeben, Impfgegner zu sein, mit Demokratiefeinden verbünden und gemeinsam einen Sturm auf das Reichstagsgebäude versuchen? Es ist wirklich eine verrückte Situation. Da ist einmal eine Gesellschaft, die sich jedesmal geradezu überbietet, wenn es gilt, für Opfer von Katastrophen und Hunger in der Welt zu Spenden. Und das sind zum anderen jene, die beim Verteidigen und Einfordern tatsächlicher oder vermeintlicher Freiheiten längst das „Wir“ durch ein „Ich“ ersetzt haben. Beispiele dafür gibt es in Fülle. Und die müssen überhaupt nicht spektakulär sein. So berichtete kürzlich der Bürgermeister des zwischen Aachen und Düsseldorf gelegenen Städtchens Jüchen von einer „heftigen Diskussion mit Bürgern“, die sich vehement gegen das Aufstellen einer Sirene in ihrem Ortsteil gewehrt hätten. Dieses Warninstrument sei „zu laut und störe das Stadtbild“.

Man muss sich nur einmal vergegenwärtigen: Bürger laufen Sturm gegen ein kleines technisches Ding, das ihrer eigenen Sicherheit dient Und gleichzeitig versucht wenige Kilometer weiter nördlich, im Düsseldorfer Landtag, ein Untersuchungsausschuss die Frage zu klären, warum bei der Flutkatastrophe vor einem Jahr an der Ahr und an der Erft die Gefahrenwarnung nicht vorhanden war oder nicht funktioniert hatte! Ein groteskes, ja bizarres Exempel? Kann sein. Aber es beweist dennoch, dass bei uns Menschen im Einfordern ihrer vermeintlichen Freiheiten kaum noch Grenzen kennen.

Bei den auf den Straßen und Plätzen ausgetragenen Kämpfen um das Recht des Stärkeren sind verbal die Grenzen des Anstands ohnehin längst verschwunden Und nicht nur dort. Auch das in den diversen Kurven der deutschen Fußballstadien gilt offensichtlich das Faust- bzw. Böllerrecht. Nun ist es ja nicht so, dass es keine Gesetze dagegen gebe. Es gibt auch Verbote für das Zeigen von Nazi-Symbolen und gegen den Hitler-Gruß. Das Problem ist halt nur, dass nicht von Anfang an energisch dagegen vorgegangen wurde. Ein liberales Land wie das unsrige, hieß es zumeist, sei stark genug, derartige „normale“ Auswüchse auszuhalten. Es könnte sein, dass dem Land und unserer Gesellschaft (das sind wir übrigens alle) die Nagelprobe darauf bald bevorsteht. Zum Beispiel, falls wir uns als Folge von Putins Krieg gegen die Ukraine wirklich spürbar einschränken müssten. Falls Zusammenstehen tatsächlich so etwas wie patriotische Pflicht würde.

Welche Freiheit würde dann wohl obsiegen. Hoffentlich nicht die Freiheit, die sie meinen.

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

 

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