„Europas“ Pulsschlag wird hörbar

Ja, geschenkt – es ist gegenwärtig nicht besonders „cool“, über Europa zu schreiben. Genauer: Sich positiv zu äußern. Das passt nicht in die allgemein transportierte Stimmungslage. Nicht zum intellektuellen mainstream, um es neudeutsch auszudrücken. Zustimmendes Nicken und sogar lautstarken Applaus erntet in aller Regel, wer „Europa“ mit „Brüssel“ übersetzt und diesen Namen dann mit schmückenden Beiworten würzt wie „undurchschaubar“, „raffgierig“, „verfilzt“, „abgehoben“, „regelungwütig“ und wie die Freundlichkeiten sonst noch alle heißen. Fragt man die darob entrüsteten Zeitgenossen freilich nach konkreten Beispielen, reduzieren die sich – nach zumeist vielen „ähs“ (die auf angestrengtes Nachdenken schließen lassen) – in aller Regel auf die Krümmungsneigung der Gurke und die EU-Richtlinie zur Glühbirne.
Nichts ohne nationale Zustimmung
Altgediente Europa-Korrespondenten könnten Romane über die vielen vergeblichen Anstrengungen verfassen, den Bürgern zu verdeutlichen, dass nichts von den angeblichen Brüsseler Dummheiten in Rechtsform gegossen wird, das nicht zuvor von den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedsländer gebilligt, oder sogar von ihnen ausdrücklich initiiert worden war. Die nicht geneigte Öffentlichkeit nahm es einfach nicht zur Kenntnis. Stattdessen geistert die berühmte (übrigens von Dänemark einst kompromisslos zur Voraussetzung für den EU-Beitritt erklärte) Gurke noch immer in den Köpfen herum, obwohl die Handelsklassen-Vorschrift längst nicht mehr besteht. Aber auch davor war schon kein Markthändler gehindert worden, weniger schön gestaltete, dafür aber schmackhaftere Gewächse anzubieten. Bloß: Er wurde sie nicht los, weil die Kunden (!) nach dem optisch gefälligeren Produkt verlangten. Aus ähnlichen, sogar noch skurrileren Beispielen und nicht selten auch bewusst lancierten Unwahrheiten ließe sich mühelos eine lange Kette bilden.
Das soll jedoch hier nicht Thema sein. Denn die aktuelle Krise in der Gemeinschaft greift viel tiefer als alle Schwierigkeiten, die in der Vergangenheit zu bewältigen waren. Es geht um nichts weniger als um die Existenz eines grandiosen, in der Geschichte bislang einmaligen politischen und wirtschaftlichen Werks, das herausragende, weitblickende und starke Persönlichkeiten aus den Trümmern zweier verheerender Kriege schufen – die Einigung Europas mit der Überwindung von Grenzen und Hass und anstelle dessen der Verpflichtung gegenseitiger Solidarität. Von all dem, freilich, ist momentan nichts mehr zu spüren.
Betretenes Schweigen der Mehrheit?
Manche Gründe für die gegenwärtige Stimmung lassen sich – in der Rückschau – benennen. Es war gewiss kein Fehler, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus neue Freiheit erlebenden Völker Osteuropas an die Europäische Union herauszuführen und sie mit Rat und Geld zu unterstützen. Aber es war grundfalsch, 2004 mit einem Schlag gleich zehn Länder (und drei Jahre danach mit Rumänien und Bulgarien noch einmal zwei weitere) aufzunehmen, die zum größten Teil weder politisch, noch gesellschaftlich, noch wirtschaftlich die Grundvoraussetzungen dafür erfüllten. Und es war geradezu desaströs, dass (ausgerechnet mit Deutschland und Frankreich an der Spitze) in jenen Jahren auch noch massiv gegen die – selbst auferlegten – Stabilitätskriterien beim Euro verstoßen wurde, was sich nicht viel später in der Griechenland-Krise verheerend auswirkte.
Alles richtig. Aber es erklärt nicht die augenblicklichen Zerfalls- und Auflösungserscheinungen innerhalb der Union, wo eigentlich doch gemeinsame Anstrengungen zum Erhalt und zur Stärkung vonnöten gewesen wären. Es erklärt nicht diesen fatalen Hang vielerorts zur Renationalisierung und zur möglichst weitgehenden Abschottung – bei gleichzeitig natürlich fortbestehenden Wünschen und Forderungen nach Finanzhilfen. Ideologische und faktische Grenzziehungen in Polen, Ungarn, der Slowakei und der Tschechischen Republik, Rechtsextremismus in Frankreich, den Niederlanden und Dänemark, Rechtstendenzen bis an die Grenzen des Nationalsozialismus bei AfD und Pegida in Deutschland – ja, hat die Geschichte die Völker denn überhaupt nichts gelehrt? Wo bleiben denn die Warnrufe der Vernünftigen gegen den Irrglauben, man könne sich nationalstaatlich eine eigene Insel der Glückseligkeit ausgerechnet in einer Phase schaffen, in der stattdessen alle Energie nötig wäre, um die Auswüchse der Globalisierung zu bändigen?
Schweigende Mehrheit verschafft sich Gehör
Dabei prasseln die Einschläge von außen auf dieses „Europa“ immer schneller und heftiger ein. Mit dem neuen US-Präsidenten Donald Trump und dem türkischen Möchtegern-Pascha Erdogan (beides auch noch Verbündete!) befinden sich zwei Mitspieler auf dem internationalen Parkett, die völlig unberechenbar sind. In Russland macht Wladimir Putin gar kein Hehl daraus, dass die Uneinigkeit in der EU seinen Plänen von einer weltmachtpolitischen Renaissance Russlands voll entgegen kommt. Jeder auch nur einigermaßen bei Verstand befindliche Mensch müsste doch erkennen, dass nur gemeinsam das europäische Schiff durch diese Stromschnellen gesteuert werden kann.
Und tatsächlich – da ist ein Hoffnungsschimmer am Horizont aufgetaucht. „Pulse of Europe“ (Pulsschlag Europas) heißt das Phänomen. Erst im November 2016 von einem Frankfurter Juristen-Ehepaar gegründet ist daraus innerhalb weniger Monate eine regelrechte Bewegung entstanden. Eine neue soziale Bewegung, eine bislang unbekannte Bürgerinitiative, überparteilich und (besonders bemerkenswert) grenzübergreifend – zur Unterstützung der europäischen Idee. Noch ist es zu früh, in Optimismus zu verfallen. Aber hoffnungsgebend ist die Geschichte allemal. Denn es sieht so aus, als ob sich der „Pulsschlag“ aus jenem eher konservativ-liberalen Milieu speist, das traditionell nicht „auf die Straße“ geht. Nun aber könnte die normalerweise stets schweigende Masse aufgebrochen sein, sich eine Stimme zu verschaffen. Eine Stimme der Vernunft inmitten einer zunehmend irrationalen Kakophonie.
Für ein reformiertes Europa
Besonders seit Anfang Februar sind immer mehr Menschen auf die Straßen gegangen. Mittlerweile jeden Sonntag um 14 Uhr in mehr als 40 europäischen Städten und Metropolen, selbst in Großbritannien. Wobei sich die Anziehungskraft nicht zuletzt daraus speisen könnte, dass „Pulse of Europe“ sich nicht für einen revolutionären Wandel einsetzt, sondern ein reformiertes, moderneres Europa anstrebt mit Normen wie klaren Rechtstaatlichkeit und Transparenz. Hier, in der Tat, gilt es anzusetzen. So richtig es ist, immer wieder auf die in der Vergangenheit (nicht selten schwer genug erkämpften) Errungenschaften der europäischen Integration und die den Frieden erhaltenden Leistungen der EU zu erinnern, so sehr wird es darauf ankommen, die heutigen – jüngeren und kritischen – Wähler auf die aktuellen Herausforderungen zu verweisen. Dazu gehören die sozialen und ökonomischen Auswirkungen in der Eurozone und im Binnenmarkt ebenso wie deren gemeinsame Bewältigung und die Herausforderungen der Flüchtlingsproblematik.
Lange Jahre war Europa ein Thema für Sonntagsreden. Und ein Kernsatz dabei lautete: Aus Krisen ist die Gemeinschaft immer wieder gestärkt hervorgegangen. Nur: So gefährdet wie jetzt war die EU noch nie. Aber, vielleicht sind die Möchtegern-Zerstörer ja wirklich nicht die Mehrheit. Der europäische Pulsschlag jedenfalls ist hörbar geworden und gibt Hoffnung.
Gisbert Kuhn