Europa-Kreuze mit braunen Haken
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Von Gisbert Kuhn

Wer in diesen Tagen eine, nach den Ergebnissen der Wahl zum neuen Europäischen Parlament, parteipolitisch eingefärbte Deutschlandkarte betrachtet, könnte leicht den Eindruck bekommen, die Wiedervereinigung von 1989/90 habe gar nicht stattgefunden. Da gibt es zwei, jeweils so gut wie vollständig colorierte Blöcke. Der eine, größere, im Westen von winzigen anderen Farbpünktchen abgesehen, praktisch durchgehend schwarz – was auf große Erfolge von CDU und CSU deutet. Und dann ist da der kleinere im Osten, der sich unisono blau präsentiert – in der Farbe der extremen Rechtsaußenpartei, die sich „Alternative für Deutschland“ (AfD) nennt. Dass die Trennungslinie zwischen den beiden Farbblöcken exakt dort verläuft, wo von Kriegsende bis 1989 die mit Stacheldraht und Minen bewehrte innerdeutsche Grenze war, ist damit ein trauriges Stück aktueller, „gesamt“deutscher Wirklichkeit.
Doch so richtig verblüffend war das nicht. Denn schon seit geraumer Zeit weisen die Meinungsumfragen ein spürbares Anwachsen „rechten“ Gedankenguts und damit wachsende Zustimmung zu den Kernthesen der AfD aus. Deshalb hatten die drei Parteien der Berliner „Ampel“-Koalition wohl mit einer schmerzhaften Klatsche gerechnet. Doch dass die Europawahl am 9. Juni für Sozialdemokraten, Grüne und Liberale dermaßen katastrophal ausgehen würde, hat denn doch überrascht. Zumal der eigene Niedergang direkt einherging mit einem nahezu triumphalen Abschneiden der rechtsextremistischen „Alternative für Deutschland“ (AfD) in allen ostdeutschen Bundesländern. Das kann nicht ohne Auswirkungen auf das politische – vor allem das innenpolitische – Geschehen bleiben. Beginnt sich die deutsche Landschaft braun einzufärben?
Es ist ja richtig und wahr, dass die Kreuzchen auf dem Wahlzettel über die Zusammensetzung des künftigen Europäischen Parlaments entschieden. Also nicht über eine nationale (oder gar regionale) Volksvertretung. In Wirklichkeit jedoch ließ sich die überwältigende Mehrheit der Wahlberechtigten zwischen Flensburg und Konstanz sowie zwischen Rhein und Oder nahezu ausschließlich von innenpolitischen Überlegungen leiten. Auf den Punkt gebracht: Von ihrem Ärger, ihrer Wut und ihrer Enttäuschung über die Politik der rot-grün-gelben Bundesregierung. Zu Recht oder Unrecht – immer mehr Bürger fühlten (und fühlen) sich mit ihren Ängsten und Sorgen von „denen da oben“ nicht mehr ernst genommen.
Und zwar nicht erst seit heute. Allerspätestens seit den bayerischen und hessischen Landtagswahlen im vorigen Herbst war an sich für jedermann erkennbar, dass der als unkontrolliert empfundene Zustrom von Menschen vor allem aus Nahost und Zentralafrika vielen Bürgern hierzulande zunehmend Sorgen bereitete. Meldungen über – keineswegs nur medial aufgebauschte -spektakuläre Kriminalfälle taten ein Übriges. Dazu angebliche oder auch tatsächliche Betrügereien bei Sozialleistungen, Messerstechereien – alles Wasser auf die Mühlen vor allem der AfD. Weil die verantwortliche Politik außer Floskeln wie der „ganzen Härte des Rechtsstaats“ kaum Lösungen anbot, sondern meistens nur das Bild eines zerstrittenen Haufens abgab.
Allein schon vor diesem Hintergrund sind die „Abstürze“ der Ampel-Koalitionäre in der Wählergunst erklärbar. Das gilt besonders für die Grünen, in denen noch vor wenigen Jahren vor allem junge Menschen regelrechte Heilsbringer und Hoffnungsträger sahen. Und denen wird natürlich am wenigsten verziehen, dass Regierungsbeteiligung oft genug schmerzliche Kompromisse erzwingt. Aber dass eine als in Teilen gesichert rechtsextrem eingestufte und von inneren Skandalen geschüttelte Partei wie die AfD in allen ostdeutschen Ländern (Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und Brandenburg) zur mit Abstand stärksten Kraft gekürt wurde, musste eigentlich sämtliche Alarmglocken schrillen lassen.
Und nicht nur das. Eher noch bedrohlicher ist das Ergebnis von repräsentativen Nachfragen bei AfD-Wählern nach deren Beweggründen. Mehr als 80 Prozent gaben an, es sei ihnen völlig egal, ob diese Partei rechtsextremes oder gar nationalsozialistisches Gedankengut in sich trage, „solange sie nur die richtigen Fragen stellt“. Mit anderen Worten: Diesen Wählern war sehr wohl bewusst, dass ihr Kreuzchen auf dem Wahlzettel (jedenfalls gedanklich) mit braunen Haken versehen wurde – und damit ein Haken-Kreuzchen war.
Das führt, fast zwangsläufig, zur Frage, inwieweit diese Europawahl sozusagen als Testlauf für die im September anstehenden Urnengänge zur Bildung der neuen Landtage in Sachsen, Brandenburg und Thüringen gelten kann. Überall dort weisen die Umfragen die politischen Rechtsaußen vor der AfD unverändert als Favoriten aus. Eine Partei also, deren führende Repräsentanten die Zeit der Hitler-Barbarei immerhin auch schon mal als einen bloßen „Fliegenschiss der Geschichte“ abtaten.
Wohin also treibt diese Republik? Will sie, wollen wir, es wirklich zulassen, dass sich in unsere schwarz-rot-goldene National-Trikolore braune Flecken mischen? Ist es, möglicherweise, kein Zufall, dass der nationalistische Vormarsch in der Volksgunst praktisch zeitgleich erfolgt mit einem hör- und spürbaren Wiedererstarken des Antisemitismus und des Absingens ausländerfeindlicher Lieder zu Schlager-Melodien auf lustigen Parties? Diese Fragen richten sich, logischerweise, an die deutsche Gesellschaft als Ganzes. Aber sie zielen zuvorderst auf die Kräfte, die schließlich gewählt worden waren, um das Land zu führen, seinen Nutzen zu mehren und möglichst Schaden von ihm abzuwenden.
Im Grunde hätte Olaf Scholz, der Bundeskanzler, im Parlament die Vertrauensfrage stellen müssen. Das tat er natürlich nicht. Und das wird (abgesehen von verbalen Pflichtübungen) auch die christdemokratische Opposition nicht wirklich von ihm verlangen. CDU und CSU befinden sich gegenwärtig in der relativ komfortablen Situation, ganz gut beim Wähler davon gekommen zu sein und sich als verbliebenen Hüter demokratischer Werte präsentieren zu können. Für sie wird die wirkliche Bewährungsprobe nach den Landtagswahlen im Herbst kommen. Sollte nämlich in den ostdeutschen Bundesländern die AfD wie zu erwarten, wirklich stärkste Kraft werden, wird die CDU beweisen müssen, ob sie – etwa mit vielleicht noch weiter geschrumpften Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen – eine Regierungsmehrheit basteln und damit ein Bollwerk gegen braun bauen kann.
Eines ist nach dieser Europawahl jedenfalls sicher – dass nämlich nichts mehr sicher ist. Schon gar nicht die Berechenbarkeit der Wähler. Mehr als anderthalb Millionen Stimmen sind am Sonntag von SPD, Grünen und FDP zur AfD abgewandert. Die wort- und argumentationsgewandte Ex-Linke Sahra Wagenknecht konnte zudem mit ihrer erst vor einem halben Jahr gebildeten Sammlungsbewegung aus dem Stand heraus mehr als 6 Prozent Stimmen mobilisieren. Und die Jungen (zum Beispiel Erstwähler) sahen mehrheitlich im (von früheren Generationen hart und nicht selten blutig erkämpften) demokratischen Wahlrecht so eine Art Playstation und versuchten sich weitgehend an Mini- und Jux-Parteien.
Zu den Unsicherheiten gehört auch, ob sich Scholz und seine Koalitionäre nach diesem Nackenschlag nicht am Ende doch noch einmal berappeln und auf ihren Amtseid besinnen – nämlich zu regieren und zu entscheiden. Die erste, schwer zu überwindende Messlatte wird dazu bereits am 3. Juli aufgelegt. Denn spätestens bis dann muss der Entwurf des Haushalts 2025 vorgelegt werden, für den noch rund 30 Milliarden Euro besorgt werden müssen. Soviel Geld trägt man ja nicht einfach so in der Hosentasche mit sich herum
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.
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