Von Günter Müchler                                                               

Günter Müchler

Wieder einmal steht die Wahl des Europaparlaments an, der – wechselweise in Brüssel und Straßburg tagenden Vertretung der in der Europäischen Union (EU) versammelten 27 Nationen. Es ist eine Volksabstimmung – für die Einen eine staatsbürgerliche Selbstverständlichkeit, für Andere allerdings eine lästige Nebensächlichkeit. Für die Einen ist Europa das geeinte, demokratische Europa die einzige Chance, um in der Auseinandersetzung der „Großen“ um Weltgeltung überhaupt noch eine Rolle zu spielen. Für die Anderen ist es allenfalls ein Moloch, ein gigantischer Gleichmacher und Vorschriften-Erlasser. Vor allem Letzteren ist dabei völlig fremd geblieben, dass im Zuge der grenzüberschreitenden Kooperation und politischen Verschmelzung jedem einzelnen Bürger enorme Vorteile, Gewinne und Freiheiten zuteilwurden, die in aller Regel halt leider als selbstverständlich angesehen werden. Es war ein langer Weg zur Europäischen Union von heute.

Mit der Errichtung der Bonner Republik 1949 rückte nach dem Zweiten Weltkrieg der Schwerpunkt Deutschlands wieder von der Spree an den Rhein. Zeitgleich formierte sich Kerneuropa mit den Rheinlanden als Herzzentrum. Ein Steuermann dieser parallelen Entwicklung war der Rheinländer Konrad Adenauer. Als der erste Bundeskanzler 1967 starb, war Deutschlands „langer Weg nach Westen“ unumkehrbar geworden. Mit dem pompösen Staatsbegräbnis des Patriarchen wich die junge Republik zum ersten und einzigen Mal von ihrem Gelübde der Unauffälligkeit ab. Sie feierte sich für einen Erfolg, den ihr kaum jemand zugetraut hatte, am wenigsten sie selbst.

Adenauer hatte kurz nach seinem 91. Geburtstag einen Herzinfarkt erlitten, von dem er sich nicht mehr erholte. Sein Tod war also keine Überraschung. Für die meisten Bundesbürger war er eigentlich schon immer „der Alte“ gewesen – ein Beiname, der damals noch nicht unter Diskriminierung-Verdacht stand, sondern vor dem man den Hut zog vor Erfahrung, Souveränität und Schläue. Adenauer selbst nutzte, wenn es ihm zupasskam, seine Betagtheit als Trumpfkarte, zum Beispiel bei einer Konferenz mit Parteifreunden im Sommer 1949. Thema der Zusammenkunft in seinem Rhöndorfer Privathaus war die nicht nebensächliche und keineswegs vorentschiedene Frage, wer von der CDU/CSU im Fall eines Wahlsieges Kanzler werden solle. Adenauer ergriff das Wort. Wie jeder wisse, sei er nicht mehr der Jüngste.  Sein Arzt, Professor Martini, gebe ihm „noch ein – zwei Jährchen“, erzählte er in seiner lakonischen Art und nahm etwaigen Rivalen den Wind aus den Segeln. Dass aus den „ein-zwei Jährchen“ vierzehn Kanzlerjahre werden sollten, hätte sich in diesem Moment niemand träumen lassen.

Lange Amtszeiten sind nicht die Regel im demokratischen Wechselspiel. Wer sich 14 Jahre an der Spitze der Regierung behauptet, hat einen starken Gestaltungswillen und weiß mit der Macht umzugehen. Beide Eigenschaften hatte Adenauer bereits in den 16 Jahren als Kölner Stadtoberhaupt und den 12 Jahren als Präsident des Preußischen Staatsrats bewiesen. Als er 1917 Oberbürgermeister wurde, schrieb man Köln noch mit ‚C‘, und in Deutschlands herrschte Wilhelm II. von Gottes Gnaden, nicht ahnend, dass er bald in Holland Holz hacken würde. Adenauer war 41 Jahre alt und der jüngste Oberbürgermeister Preußens. Kurz vorher hatte er einen schweren Verkehrsunfall. Sein Fahrer war eingeschlafen, der Dienstwagen rammte eine Straßenbahn. Adenauer wurde durch die Trennscheibe geschleudert. Vom Unfall blieben ihm die Male der Schnittwunden, die sein Gesicht so charakteristisch machten und ihm den Ruf eintrugen, er habe den Kopf eines Indianerhäuptlings.

Unter dem Oberbürgermeister Adenauer nahm die Colonia Claudia Ara Agrippinensium (wie Köln zur Römerzeit hieß) einen weithin beachteten Aufschwung. Die Universität wurde eröffnet, mit der bemerkenswerten Begründung, das Rheinland brauche, nachdem durch den Krieg Straßburg und die dortige Kaiser-Wilhelm-Universität Krieg verlorengegangen seien, wieder eine Heimstatt von Wissenschaft und Forschung. Einer solchen Begründung bedurfte die Gründung der Kölnmesse nicht. Bereits Napoleon hatte die Bedeutung Kölns als Handelsstadt unterstrichen, indem er eine Handelskammer einrichten ließ, die erste im Rheinland. Lieblingsprojekt Adenauers war freilich die Umwandlung des Festungsgürtels in Grünanlagen. Damit verschaffte sich Köln den Ruf einer „grünen Stadt“. Vorausschauend erkannte Adenauer zudem, dass die immer mobiler werdende Gesellschaft bessere und schnellere Straßen brauchte. Es war nicht der „Führer“, wie die Nazis später behaupteten, der die erste Autobahn bauen ließ, sondern Adenauer.  Die heutige A 555 zwischen Köln und Bonn wurde 1932 eingeweiht.    

Ein Jahr später war Adenauer arbeitslos. Für die Nationalsozialisten kam ein Vertreter des katholischen Zentrums im Kölner Rathaus nicht infrage. Sie hatten auch nicht vergessen, dass Adenauer, als Hitler kurz vor der „Machtergreifung“ zu einer Wahlveranstaltung in die Domstadt Köln kam, die Beflaggung der Deutzer Brücke mit der Hakenkreuzfahne untersagt hatte. Adenauer wurde entlassen und nach dem Röhm-Putsch verhaftet, ein weiteres Mal später im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944. Mehrere Wochen verbrachte er im Gefängnis Brauweiler.  

1919 hatte Adenauer in der rheinischen „Los-von-Preußen-Bewegung“ eine Rolle gespielt. Dreißig Jahre später stand des Stück mangels Grundlage nicht mehr auf dem Spielplan. Preußen existierte nicht mehr, und bei der Festlegung der Ländergrenzen ließen sich die Besatzungsmächte nicht hineinreden. Briten und Franzosen verständigten sich darauf, die ehemals preußische Rheinprovinz zu teilen. Aus dem nördlichen Teil wurde – unter Hinzufügung von Westfalen – Nordrhein-Westfalen, aus dem südlichen ein Stück des heutigen Rheinland-Pfalz.

Das Rüstzeug für sein politisches Comeback suchte und fand Adenauer in einer Partei neuen Typs, der CDU. Er stellte sich gegen die Wiedergründung des Zentrums – eine nicht einfache Entscheidung, die sich aber auszahlte. Erst dadurch, dass die neue Partei auch für Protestanten wählbar war, hatte sie das Zeug, zur Volkspartei zu werden. In der CDU-Rheinland, deren Vorsitz er 1946 übernahm, schuf sich Adenauer eine Hausmacht. Er wurde Fraktionschef im nordrhein-westfälischen Landtag, dann Präsident des Parlamentarischen Rats, schließlich Bundeskanzler. Was im Rückspiegel wie ein leichter Durchmarsch erscheint, war in Wirklichkeit ein mit mannigfachen Hindernissen gespickter Parcours. Adenauer meisterte ihn mit der ihm eigenen Unerschütterlichkeit und einer Portion Glück. Die erste Kanzlerwahl im September 1949 gewann er mit nur einer Stimme Vorsprung. Es war die seine. „Et hätt noch immer jut jegange“, raunte er seinerzeit seinem Sitznachbarn im Bundestag und Freund Robert Pferdmenges gut gelaunt zu.

Bei der Bestimmung des Ortes, an dem die Regierung der neuen Bundesrepublik sitzen sollte, ließen die Alliierten den Deutschen freie Hand. Berlin schied von vornherein aus, weil es geteilt war. Außerdem stand es für Zentralismus, preußischen Militarismus und Drittes Reich. Mit alledem wollte man nichts mehr zu tun haben. „Lieber gehe ich zu den Hottentotten als zu den Preußen!“ So schrill wie der Bayernpartei-Generalsekretär Falkner drückten sich nur die wenigsten aus, aber große Sympathien besaß Berlin nicht.

Gute Karten hatte Bonn. Die Beste war, dass es gleichsam als Gegenentwurf zu Berlin durchgehen konnte. Durch die kleinstädtische Prägung war die Stadt am Rhein mit ihren gerade mal 100 000 Einwohnern die schlechthinnige Absage an jegliche Form von neu aufkeimenden Allmachtfantasien und die passende Antwort auf den Größenwahn der Nationalsozialisten. Verglichen mit den meisten kriegszerstörten Städten war Bonn relativ gut davongekommen. Es hatte das Flair einer Pensionisten-Polis bewahrt und verfügte rheinabwärts über Villenviertel sowie über eine Reihe ansehnlicher, aber nicht protziger öffentlicher Anwesen, die sich nun nutzen ließen.

So fand sich für den Bundeskanzler Adenauer, ehe er ins Palais Schaumburg umziehen konnte, ein erstes Arbeitszimmer im Zoologischen Museum Koenig, in dem schon der Parlamentarische Rat getagt hatte. Für den Bundestag wurde die direkt am Rhein liegende Pädagogische Akademie hergerichtet, ein flach hingestrecktes Gebäude im Bauhausstil. Bescheidener ging es nicht, aber auch nicht überzeugender. Denn man wollte ja keine Hauptstadt, sondern ein Provisorium – einen Wartesaal für den Tag der Wiedervereinigung, der, wie man mit schwankender Festigkeit glaubte, irgendwann kommen musste. Und für diese Funktion war Bonn, „A small town in Germany“, wie der Titel eines Krimi-Bestsellers von John Le Carré lautete, zweifellos hervorragend geeignet.

Dass Bonn in zwei knappen Abstimmungen Frankfurt, den von der SPD präferierten Hauptkonkurrenten, ausstechen konnte, lag gewiss auch an Adenauer, der alle Register zog. „Der Alte“ lebte seit seiner Vertreibung aus dem Amt als Oberbürgermeister im beschaulichen Rhöndorf. Von dort aus war es nicht weit bis Bonn. Man musste nur mit der Fähre über den Rhein setzen und dann mit dem Auto ein paar Kilometer der Straße folgen, an der einst die Römer des Castra Bonnensis ihre Toten begraben hatten, und schon war man im Regierungsviertel. Freilich wollte Adenauer Bonn nicht nur, weil es für ihn bequem war. Es machte einen Unterschied, ob man Politik aus Berlin, aus Frankfurt oder eben aus Bonn betrieb. Das Rheinland war eine Aussage. Es war die Brücke nach Frankreich. Was lag näher, als von hier aus die Verständigung mit dem „Erbfeind“ anzugehen, ohne die Deutschland nie im Westen ankommen würde?

Natürlich stürzten sich Karikaturisten und Satiriker genussvoll auf die gnomhafte Ersatz-Hauptstadt. Das Abziehbild des Provinziellen klebte unausweichlich an Bonn. Es gab ja auch wirklich nicht viel Zerstreuung für die Abgeordneten. Schon gar mangelte es an kulturellem Input, wobei freilich festzuhalten bleibt, dass sich darüber kaum jemand beschwerte. Der Arbeit war die Bonner Beschaulichkeit förderlich. Es fehlte die für den heutigen Politikbetrieb kennzeichnende, vom „Echtzeitjournalismus“ geprägte Dauererregtheit. Die großen Debatten fanden im Parlamentsplenum statt, nicht in Talkshows. Weil die Nachrichten Zeit brauchten, bis sie die Öffentlichkeit erreichten, war man nicht genötigt, mit Instant-Antworten auf Geschehnisse zu reagieren, deren Tragweite sich noch gar nicht ermessen ließ. Insgesamt war der Fluss ruhiger, was der Qualität der Gesetzgebung zugutekam.

Woran sich bis zum Schluss nichts änderte, war die Enge des Regierungsviertels. Abgesehen von den Wochenenden, wo die Hausmeister unter sich blieben, kreuzten sich die Wege der drei Volksstämme – Politiker, Beamte und Journalisten – gleich mehrfach am Tag und oft auch bei Dunkelheit. Daraus entstand eine gewisse Inzucht, die Wolfgang Koeppen in seinem Bonn-Roman „Das Treibhaus“ anschaulich, aber deutlich übertrieben geschildert hat. Während sich im Roman der Abgeordnete Keetenheuve desillusioniert von der Brücke stürzt, übte in der Realität das milde Klima im Treibhaus eine mäßigende Wirkung aus. Mentalitätshistoriker würden wohl einen Zusammenhang zwischen rheinischer Lebensart und dem besonderen Politikstil der Bonner Republik sehen, dem alles Lautsprecherische oder Auftrumpfende abging. Die Leidenschaftlichkeit im politischen Kampf war nicht eifernd, der Gegner nicht der Feind. Und am Ende zollten alle dem Grundgesetz Respekt. „Bonn ist nicht Weimar“, hieß ein viel zitiertes Buch des Schweizer Publizisten Fritz René Allemann aus dem Jahr 1956. Und das stimmte.

Fortsetzung folgt

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.    

 

 

- ANZEIGE -