Erinnerungen an eine ferne Zeit und andere Welt

Von Gisbert Kuhn

© Alexei_other/pixabay.com

Von dem im oberfränkischen Wunsiedel geborenen Dichter Jean Paul stammt der Satz: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“. In jungen Jahren hat diese Erkenntnis nicht viel Bedeutung. Woran sollte man sich denn auch erinnern wollen? Mit jedem Jahrzehnt (später schon jedem Jahr), das ins Land geht und dem eigenen Leben seinen Stempel aufdrückt, ändert sich das allerdings. Dann geht der Blick schon häufiger zurück, tauchen vor dem inneren Auge plötzlich Bilder von Orten und Begegnungen auf, werden längst vergessene Erlebnisse wieder wach, vermengen sich nicht selten Nostalgie und Freude mit Wehmut und Trauer. Mitunter vielleicht sogar auch mit Bitterkeit.

Doch unser Gedächtnis besitzt, zum Glück, weitaus mehr Speicherraum für das Gute und Schöne als für das Böse und Hässliche. So, als habe die Erinnerung eine Art lebensbejahenden Filter eingebaut, der dafür sorgt, dass selbst im Falle schlimmer Erfahrungen zumeist die Fähigkeit zum Verdrängen und Vergessen die Oberhand behält. Daraus erwächst neuer Lebensmut und auch Kraft, mit Optimismus die Zukunft anzugehen. Noch immer markieren die Advents- und die Weihnachtszeit das Datum, an dem viele Menschen tatsächlich das eine oder andere Mal innehalten und die Gedanken schweifen lassen. Obwohl häufig genug im öffentlichen wie im privaten Leben die christliche Feier der Geburt Jesu entweder ganz ausgeblendet oder aber vom kommerziellen Rummel überlagert ist.

“Früher war mehr Lametta”

Sogar Loriots berühmter Opa Hoppenstedt bemühte die Erinnerung, als er in dem unnachahmlichen Weihnachtssketch am Heiligen Abend unter dem Lichterbaum quengelte: „Früher war mehr Lametta“. Er grummelte nicht, dass früher angeblich alles besser oder gemütlicher gewesen sei, sondern beklagte einfach nur das fehlende Lametta. Also den Schmuck, der – so lange man denken konnte – eigentlich immer das Aussehen der Christbäume in erster Linie prägte. Wie sorgfältig waren die Silberfäden stets über die Tannenzweige gelegt und später (nach dem „Abputzen“ des Baumes) wieder geglättet und in die Aufbewahrungstaschen zurück gelegt worden! Bis zum nächsten Jahr.  Die silbern glänzenden Fäden gibt es schon geraume Zeit selbst auf den Weihnachtsmärkten nicht mehr. Sie sind „out“, der Publikumsgeschmack hat sich geändert. Und deshalb musste auch vor sieben oder acht Jahren im Sauerland der letzte Lametta-Hersteller schließen.

Kinderwunsch: Traktor mit Anhänger © bibabeth/pixabay.com

Das eigene Gedächtnis freilich greift deutlich weiter zurück. Und diese Erinnerung ist verknüpft mit viel Schnee und ansonsten ganz wenig. Die Winter nach dem Krieg waren extrem schneereich und bitter kalt. Vor allem in den zerbombten Städten litten die Menschen erbärmlich. Der heute am Beginn der 80-er stehende und sein Gedächtnis befragende Autor war 1946 fünf Jahre alt. Der Zeitpunkt hat sich deshalb eingebrannt, weil er mit einem besonderen Geschenk verbunden ist. Die älteren Jungens in dem nordhessischen Dorf, wo die Familie nach Krieg und Vertreibung Zuflucht fand, hatten hölzerne Spielsachen als Weihnachtsgaben für die Kleinen gebastelt; keine technischen Kunstwerke, aber handfest und strapazierfähig. Vor der Verteilung hatte ein Traktor mit Anhänger heiße Wünsche geweckt. Tatsächlich aber gab es dann einen Lastwagen. Der jedoch erwies sich noch lange Zeit als unverwüstlich.

Pflaumenkerne statt Mandeln

Ein Gang heute über den Weihnachtsmarkt ohne Stopp vor einem Mandelröster – unmöglich. Der Duft der kandierten Kerne zieht nahezu magnetisch an. Und doch, merkwürdig. Wieder macht die Erinnerung einen Sprung über beinahe acht Dezennien zurück zu dem damals 6- oder 7-jährigen Bub, der – unter der Anleitung vom Großvater – eifrig mit dem Hammer auf Pflaumenkerne einschlug, um an das Innere zu kommen. Adventszeit hieß in der Familie selbst in Umständen des Mangels  Backzeit. Das, wiederum, bedeutete Stollenzeit. Und wenn wichtige Zutaten – wie etwa Mandeln – fehlten, musste halt Ersatz her. In diesem Fall Pflaumenkerne. Erst vor kurzem, als diese Geschichte mal die Runde machte, rief eine Bekannte schreckensbleich, das sei doch hoch gefährlich gewesen wegen der in den „Ersatz-Mandeln“ angeblich enthaltenen Blausäure. Keine Ahnung. Alle hatten seinerzeit den Stollen genossen, und keiner klagte über Probleme.

Aus dem vergangenen Jahr stammt die Meldung, dass – einer Umfrage des „Handelsverbands Deutschland“ zufolge – angeblich im Durchschnitt pro Kopf zwischen 500 und 600 € für Weihnachtsgeschenke ausgegeben wurden. 2011 waren es noch 338,00 €. Wohlgemerkt: Statistisch pro Person und im Durchschnitt! Wenn man in diese Summe die Tatsache einfließen lässt, dass für große Gruppen der Bevölkerung solche Beträge nicht einmal ansatzweise aufzubringen sind, lässt sich leicht ermessen, in welchen Höhen sich die Weihnachtsausgaben auf der Sonnen- und Habenseite des Lebens bewegen. Die Corona-Seuche und ihre Auswirkungen waren auf das erfragte Kaufverhalten der Bürger statistisch “eingepreist”.  Pro Kind bedeutende das für Weihnachtsgeschenke – erneut als Durchschnittsmarke – 155,00 €. Auch wenn in diesem Jahr, erneut wegen des Ukraine-Kriegs und der aufgrund der drastisch gestiegenen Energiekosten ausgelösten allgemeinen Teuerung die Kauflust nachgelassen haben mag, dürfte sie nicht wesentlich unter der früherer Jahre  liegen.  Das stößt nicht überall auf Begeisterung. Für den Erziehungsexperten und Autor Albert Wunsch, beispielsweise, öffnet sich angesichts solcher Eltern-Großzügigkeit sogar eine „Verwöhnungsfalle“. Wenn Kindern jeder Wunsch erfüllt und jede Unannehmlichkeit ferngehalten werde, nehme man ihnen die Chance zu einem tatsächlich eigenverantwortlichen Leben. Soweit, in deutlicher Sorge, der Fachmann.

Nicht gut für den Hohlschliff

Hudora-Schlittschuhe

Von derartigen, damals total unvorstellbaren, Verhältnissen wagte in der oben beschriebenen Zeit mit Schnee, Kälte und sonst so gut wie gar nichts natürlich niemand auch nur zu träumen. Wohl, freilich, von einem Paar Schlittschuhen. Natürlich gab es keine Eissporthallen. Sogar in erreichbaren Städten wie Göttingen oder Kassel nicht. Aber die Dorfstraßen im kalten Weserbergland waren ja nicht mit Salz vermatscht, sondern lediglich von einem einfachen, mit zwei Pferden bespannen Holz-Schneepflug von der weiß-pulvrigen Oberfläche befreit worden. Und die darunter liegende, fest gefahrene Schneeschicht eignete sich durchaus zum Schlittschuhlaufen. Allerdings litt der Hohlschliff darunter, was sich jedesmal störend bemerkbar machte, wenn bei Tauwetter der Bach über seine Ufer trat und der anschließende neue Kälteeinbruch aus den überschwemmten Wiesen wunderbare Eisflächen zauberte. Dann griffen nämlich die im Schnee zuvor rund gefahrenen Kufen meistens nicht mehr, und die kühnen Skater landeten öfter auf den Hosenböden als ihnen lieb war. Die heiß begehrten Gleiter kamen übrigens meistens von der Firma Hudora; auch das ist, komischerweise, in den kleinen grauen Zellen des Kopfes hängen geblieben. Die Schlittschuhe wurden einfach an den normalen Straßentretern festgeschraubt. Das war, einerseits, sehr praktisch, hatte allerdings den Nachteil, dass häufig hinterher die Absätze fehlten – abgerissen.

“Winnetou II” weckte Fernweh und Neugier  

Karl May: „Winnetou II

1952 lag dann der erste Band von Karl May unter dem Weihnachtbaum – „Winnetou II“. Das Jahr lässt sich wegen des Erscheinungsdatums des Buchs im Klappentext festmachen. Es spielte überhaupt keine Rolle, zu erfahren, dass der phantasie-begabte Sachse die so spannend beschriebenen Abenteuer nur erfunden hatte. Wichtiger war, dass die Lektüre bei dem kleinen Jungen jene Neugier und Reiselust weckte, die er später – zum Glück – beruflich befriedigen konnte. Es muss im Jahr davor gewesen sein, als auf dem Wunschzettel „Eisenbahn“ stand. Natürlich nicht mit dem Zusatz „Märklin“ oder „Trix“, Gott bewahre. Erhofft war ein ganz einfaches Gefährt mit Lok, Tender und drei Waggons, von einem Federwerk angetrieben und immer nur im Kreis herumfahrend. Und tatsächlich, am 1. Weihnachtstag (wir stammten aus Böhmen, und im Egerland wurde am 25. Dezember beschert) lag auf dem Gabentisch ein Karton mit eben dieser Eisenbahn. Die Sehnsucht danach hatte die Sinne des Jungen derartig beschäftigt, dass er das eigentliche, viel wertvolle, Geschenk an jener Weihnacht zunächst gar nicht wahrnahm – ein Fahrrad mit 24-er Rädern.

Dann war da noch die Geschichte mit dem Spielzeug-Bauernhof und dem Kaufladen. Aus irgendeinem unbekannten Grund hatten diese beiden, doch ziemlich sperrigen, Gegenstände die Kontrollen der tschechischen Zöllner im Sammellager vor dem Beladen des Vertreibungs-Transportzugs passiert. Und nun gehörten sie für etliche Jahre zu den Traditions-Geschenken unterm Tannenbaum. Immer bis Ende Februar, dann waren sie wieder verschwunden und wurden unter Großvaters geschickten Händen heimlich ausgebessert und mit neuem Glanz versehen. Dass Hof und Laden mit einem Mal nicht mehr zum Spielen zur Verfügung standen, wurde nicht als schlimm empfunden; nach mehrwöchiger intensiver Benutzung hatten sie ohnehin zunächst wieder ihren Reiz verloren.

Wasser aus der entfernten Pumpe

Und jedes Jahr Schnee. Viel Schnee. Und Kälte. In der ersten zugewiesenen Wohnung nach Vertreibung und Ankunft in dem nordhessischen Dorf gab es kein fließendes Wasser; das musste mit Eimern von einer vielleicht 150 Meter entfernten Pumpe geholt werden. Und diese war oft zugefroren. Oder  trügen Erinnerung und Gedächtnis am Ende? Hat der „Filter“ nur Teile der einstigen Wirklichkeit durchgelassen? Es sind tatsächlich im Grunde fast nur angenehme Erinnerungen, obgleich die Zeiten objektiv alles andere als paradiesisch waren. Zu Beginn der 50-er Jahre betrug der durchschnittliche Wochenlohn eines Facharbeiters 50 D-Mark – sofern er überhaupt in Arbeit, Lohn und Brot stand. Und für Organisationen, wie sie mittlerweile permanent statistisch „relative“ und “tatsächliche” Armut errechnen,  gab es damals noch keinen Platz. Dafür aber (besonders in den Städten) überall und damit unübersehbar Kriegsinvalide und Menschen mit Schildern in den Händen oder am Rücken befestigt und der Aufschrift „Übernehme jede Arbeit“. Die Weihnachtszeit bildete da keine Ausnahme.

Und doch hat Jean Paul Recht mit seiner Weisheit „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“. Denn die Erinnerung weigert sich, glücklicherweise, hartnäckig, die schönen Dinge im Leben auszublenden.

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.     

 

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