Autor Gisbert Kuhn

 Wenn ein Satz schon mit „eigentlich“ beginnt, könnte man eigentlich auch schon auf ihn verzichten. Denn der Begriff relativiert von vornherein alles in seiner wirklichen Bedeutung – jede Aussage, jegliches Geschehen. Zum Beispiel: Der perfide Mordanschlag jüngst auf die Mannschaft von  Borussia Dortmund, bei dem es nur einem Zufall zu verdanken war, dass es keine Toten gab. Da wäre doch „eigentlich“ in einer (zumindest einigermaßen) zivilisierten Gesellschaft eine bestimmte Nachwirkung zu erwarten gewesen  – ein Nachdenken vielleicht über bestimmte Wechselbeziehungen zwischen aggressivem Gruppenverhalten und tatsächlicher Gewalt. Immerhin schien es ja einen Moment so, als habe das Attentat selbst in jenen „Fan“-Kurven der Fußball-Stadien einen Schock ausgelöst, die ansonsten vor allem deshalb Samstag für Samstag in die Arenen strömen, um Böller zu zünden, Rauchbomben zu entfachen und die jeweiligen Gegner mit Schmähgebrülle zu überziehen.

Freilich: „Eigentlich“ hätte man auch gleich wissen müssen, dass die Hoffnung auf Vernunft, Anstand, Benehmen usw. vergebens sein würde. Nur wenige Tage nach dem dramatischen Dortmunder Ereignis spielte sich in der Kölner Rheinenergie-Arena das gewohnte Ritual ab – Schmähgesänge aus tausenden von Kehlen und unsäglich beleidigende Transparente gegen den zur Hassfigur erklärten Hauptsponsor der TSG 1894 Hoffenheim, Dietmar Hopp. Ähnliches widerfährt Woche für Woche dem vom erfolgreichen österreichischen Brausehersteller („Red Bull“)  mit erheblichen finanziellen Mitteln hochgepeppten RB Leipzig. Als Begründung für dieses Verhalten reicht den „Fans“ (welch falsche Bezeichnung für diese Spinner) der selbst gezimmerte Anwurf, die beide Vereine seien schließlich keine „Traditionsclubs“, sondern nur die Spielzeuge von Milliardären. Und deswegen seien sie wert, gehasst und beschimpft zu werden.

Sucht nach Randale

Was für ein Unsinn! Von denen, die in ihrer Sucht nach Randale inzwischen kaum mehr Grenzen kennen, hat  doch überhaupt niemand die Zeiten kennen gelernt, als (nehmen wir Schalke 04 als Beispiel) die umjubelten Idole der „Kampfbahnen“ (ja, so hießen die Stadien einmal) noch einfach in der Nachbarschaft lebten und täglich in den Schacht einfuhren. Wo besteht denn heute noch die Identifikation zu einem Verein, der vom russischen Energieriesen „Gazprom“ alimentiert wird? Wo ist da der Unterschied zu RB Leipzig? Oder was ist mit (sogar ausweislich des Namens) Werksvereinen wie Bayer Leverkusen? Nein, hier sind Kräfte am Werk, die krampfhaft – vielleicht sogar krankhaft – nach Ventilen suchen, um zu beleidigen, zu verletzen und sinnlos zu zerstören.

Was ist eigentlich los in diesem Land. Nein, in dieser Kolumne wird nicht Klage geführt, dass früher alles besser gewesen sei. Hier wird auch keine Weltverbesserei betrieben mit der Vorhersage, dass dieser Staat die Ausgeburt sozialer und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und „das System“ mit seinen „Eliten“ und den „ebenso unfähigen wie korrupten Politikern“ deshalb in Kürze dem Untergang geweiht sei. Ganz im Gegenteil – gerade weil diese Republik beim Blick nah und weit über den geografischen und politischen Tellerrand hinaus jedem Vergleich locker standhält, stellt sich umso drängender die Frage nach dem Zustand unserer Gesellschaft. Es kann doch nicht, achselzuckend, unter dem Stichwort Normalität abgeheftet werden, wenn (wie gerade in diesem Tagen geschehen) die jährliche Kriminalitäts-Statistik von einem ungebremsten Anwachsen der schweren Gewaltdelikte kündet.

Zivilisation – nur eine Fassade?

Na klar, man sieht sie schon wieder vor sich, die Heere der – angeblich wissenschaftlich fundierten – Relativierer. Die einem schlüssig erklären, es liege nun einmal in der menschlichen Natur, von Zeit zu Zeit Dampf ablassen zu müssen, um nicht selber unter dem Druck von Stress und täglichen Anforderungen zu zerbersten.  Nach dieser Logik wäre dann das Internet mit seinen grenzenlosen Verbreitungsmöglichkeiten ja offenkundig ein durch nichts zu toppendes Therapie-Medium – bestens geeignet, auf Krankenschein verschrieben zu werden. Und was unverbesserlich altmodische Zeitgenossen mit „gestrigen“ Umgangsformen als unerträgliche Sprachkotzerei empfinden, müsste als psychologisch dringend zu empfehlendes Heilmittel gegen drohende seelische Verkrustungen empfohlen werden. Das kann es doch wohl, im Ernst, nicht sein.

Dass digitale Netzwerke wie facebook der erkennbaren Verrohung der Sprache und des allgemeinen Umgangs miteinander Vorschub leisten, lässt sich kaum bestreiten. Aber ursächlich dafür, sind sie gewiss nicht. Mit anderen Worten, diese Lust ungezählter Menschen am sinnlosen Provozieren, jener offenkundige Trieb, Hass zu verbreiten und Hetze gegen Einzelne wie ganze Gruppen von Menschen – das muss doch irgendwo schon vorhanden gewesen sein und hat in den neuen Medien lediglich ein Ventil gefunden. War (und ist) mithin das, was wir als Zivilisation rühmen, in Wirklichkeit nur Fassade? Ist es das, in Wahrheit, schon immer gewesen?

„Das tut man, und das nicht“

Das ist keine stimmige Erklärung. Ganz gewiss nicht. Damit mag man manche verbale Entgleisung und ungehobeltes Benehmen begründen können. Nicht jedoch die nicht zu bestreitende Gewaltbereitschaft vor allem von Jugendlichen. Sicher doch, auch früher wurde gestritten, wurde gerauft und auch geprügelt. Jetzt jedoch umgeht man verbale Auseinandersetzungen immer häufiger, indem gleich das Messer zum Einsatz kommt. Oder es wird auf bereits Darniederliegende eingetreten, manchmal sogar bis der Tod eingetreten ist. Nicht zu vergessen das gespenstisch-kriminelle neue Phänomen, dass inzwischen sogar Rettungkräfte wie Notärzte und Feuerwehr angegriffen und an ihrer Arbeit gehindert werden. Dass unser Strafrecht (vor allem das Jugendstrafrecht) einen Schwerpunkt in der Resozialisierung von Tätern besitzt, ist ohne Zweifel vom Grundsatz her richtig. Nicht zu vermitteln (und damit absolut kontraproduktiv) ist freilich, dass Prozesse häufig erst lange, lange nach der Tat kommen und selbst zig-fache Mehrfachtäter im Heranwachsenen-Alter immer wieder mit „Bewährung„ davonkommen. Es ist wahr, mit repressiven Maßnahmen wie Polizei und Justiz allein können gesellschaftliche Probleme nicht bewältigt werden. Aber ohne sie geht es eben auch nicht.

Es gab einmal eine Zeit, da mahnte die Großmutter, „das tut man, und das tut man nicht“. Das klingt nicht nur altbacken, sondern ist es auch. Und doch steckt in dieser simplen Regel zumeist mehr Wahrheit als in so manchem sozi-wissenschaftlichen Wälzer. Einfach deshalb, weil es verständlich war und klare Grenzen setzte. Genauso einfach ist, angesichts der augenblicklichen Wirklichkeit, der Befund: „Es läuft etwas schief bei uns. Und zwar ziemlich“.

Gisbert Kuhn                          

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