Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Man mag es clever nennen oder auch frivol. Zufall war es jedenfalls nicht, dass Wladimir Putin exakt einen Tag nach dem Ende der Olympischen Winterspiele in Peking (!) der Welt demonstrierte, dass er entschlossen ist, die Regeln für Krieg und Frieden neu zu schreiben. Und zwar nach seinen eigenen Vorstellungen und ohne jede Scheu vor Gewaltanwendung. Wie immer der Überfall auf und das Drama um die Ukraine letztlich ausgehen wird – die politische Landschaft, das Zusammenleben der Völker, das Vertrauen ineinander und die wirtschaftliche Lage werden sich dramatisch verändert haben. Und zwar ganz bestimmt nicht zum Positiven.

 Die Duplizität der Ereignisse lässt den dahinter steckenden Zynismus besonders plastisch hervortreten. Da bejubelt Thomas Bach, der nicht umsonst umstrittene Chef des Internationalen Olympischen Komitees, geradezu pathetisch bei der bombastischen Schlussfeier der Winterspiele die Wirkung dieses Ereignisses für den Frieden. Und keine 24 Stunden später meint Russlands Präsident mit wütenden Gesten, Worten und Drohungen über die westliche Welt Gericht halten zu können. Mehr noch – er lässt seine Panzer rollen und damit erkennen, dass Verträge, internationale Abmachungen und sogar das Völkerrecht für ihn auf dem Weg zum Wiedergewinn der Weltmachtrolle das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben stehen.

Es wird ganz gewiss nicht lang dauern, bis sich keineswegs allein hierzulande die Relativierer, Putin-Versteher und Verharmloser zu Wort melden. Auf der politischen Szene (dort vermutlich vor allem äußerst links und ganz rechts außen), aber auch in weiten Teilen unserer Gesellschaft. Und nicht jede Kritik am westlichen Verhalten in den vergangenen Jahren gegenüber Russland ist unberechtigt. Aber das Übernehmen von Putins propagandistischer Behauptung von einer – noch dazu aggressiven – Umzingelung des flächenmäßig größten Landes der Erde ist nun wirklich absurd.

Geschichte wiederholt sich nie in derselben Weise. Aber sie vollzieht sich häufig in sich ähnelnden Phasen. Während der vergangenen Wochen, als Wladimir Putin es sichtlich genoss, den politischen Spitzen der westlichen Staaten und Organisationen Audienzen zu gewähren, wurde er nicht müde, seinen Willen nach Frieden zu unterstreichen. Russland wolle keinen Krieg! So lautete das Mantra des Kreml-Chefs. Und gleichzeitig ließ er – unter voller Beobachtung keineswegs bloß aus dem Weltraum – seine kampfbereiten Armeen, Panzerverbände, Raketen und Kriegsschiffe rund um die Ukraine Stellung beziehen.

Jetzt ist der nächste Schritt vollzogen und (nach der Krim) die zweite territoriale Eroberung erledigt. Nach dem – phasenweise abenteuerlichen – Vorspiel aus Diplomatie, gegenseitigen Androhungen, tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Entspannungssignalen gliche es einem Wunder, wenn der Machtmensch in Moskau sich damit begnügen würde. Was hätte er denn auch zu befürchten?!  Die Ukraine ist kein NATO-Mitglied, ein Überfall auf das bedrohte Land würde demnach auch nicht den so genannten Bündnisfall (also die Beistandspflicht) auslösen. Die von den USA und der EU angekündigten Wirtschaftssanktionen müssen ihre Wirksamkeit erst einmal erweisen – wenn sie denn überhaupt wirklich hart ausfallen sollten. Widerstand im Innern braucht der Möchtegern-Zar nicht zu befürchten. Die Opposition ist längst ausgeschaltet, die geheimdienstliche Überwachung funktioniert total, auf Polizei und Armee ist Verlass…

Und bei uns? Nimmt unsere Gesellschaft eigentlich die ganze Dramatik wahr, die von dem militärisch-abgesicherten, aggressiven Machtstreben Putins ausgeht? Ist den friedensbewegten Deutschen wirklich langsam bewusst, dass der Traum von Weltfrieden und Friedensdividende spätestens seit dem 21. Februar 2022 vorbei ist? Und wie steht es mit unserer neuen Regierung? Der „Ampel“, die doch unlängst erst mit dem Versprechen einer völlig neuen Politik angetreten war – absoluter Vorrang für Klimaschutz, totale Umkrempelung der Energieversorgung mit rascher Abkehr von Atom, Kohle, Öl und Gas, hohe Priorität für Soziales, mehr Hilfen für die Dritte Welt usw.

Jetzt, mit einem Mal, müssen sich Scholz, Baerbock, Habeck, Lindner und die Anderen mit „klassischen“ Problemen herumplagen. Wie organisiert man den für die Wirtschaft und zum Heizen unverzichtbaren Import von Öl und Gas? Und zwar, ohne dass die ohnehin schon nach oben geschnellten Preise noch weiter explodieren? Was passiert mit den noch ausstehenden Rechnungen der deutschen Konzerne, wenn Russland tatsächlich abgeschnitten werden sollte von den internationalen Zahlungssystemen? Was geschieht, wenn horrend steigende Preise das tägliche Leben immer mehr einengen? Wie sollen etwa höhere Löhne zum Ausgleich von Kaufkraftverlusten erwirtschaftet werden?

Natürlich ist ein Lebensstandard wie unser heutiger nirgendwo als einklagbares Grundrecht verbrieft. Und selbstverständlich ist man auch hierzulande bereits mit sehr viel weniger Besitz, Komfort und Reisen ausgekommen. Aber, das war einmal. Deshalb ist die Prophezeiung von nicht sehr weit hergeholt, dass spürbare materielle Verzichte nicht ohne heftige soziale Spannungen und Beben von statten gehen würden.

Ob das jedermann bereits bewusst ist? Wohl eher nicht. Erst jüngst ergab eine Erhebung, dass deutlich mehr als die Hälfte der befragten Deutschen die Auffassung vertraten: „Was geht uns die Ukraine an?“ Ohnehin findet Außenpolitik spätestens seit Mitte der 90-er Jahre im Bewusstsein der breiten Bevölkerung praktisch nicht mehr statt. Auch in den Wahlkämpfen nicht. Ob der von Putin jetzt ausgelöste Paukenschlag daran etwas ändert? Ob die Deutschen aus ihren Träumereien erwachen?

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.    

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