Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

In den Frühzeiten der westdeutschen Republik bis zu seinem Tod im Februar 1967 war der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete, Außen- und Sicherheitsexperte Fritz Erler wegen seiner analytischen Brillanz und Scharfzüngigkeit bei Freund und Feind hochgeschätzt, aber auch gefürchtet. Während einer hitzigen Parlamentsdebatte schleuderte er einmal  diesen Satz in Richtung der damals regierenden CDU/CSU: „Was Sie hier betreiben, ist nichts anderes als Brückenschlagen über den wegelosen Bereich des Unsagbaren“! Das Protokoll verzeichnete danach „Beifall bei der SPD, Lachen und empörte Rufe bei CDU/CSU und FDP“. Einer der lautesten Zwischenrufer war der Unionspolitiker Lothar Haase aus Kassel in der ersten Reihe des Plenums. Unter anderem mit diesem Satz: „Sie, immer wieder mit Ihren Allerweltsweisheiten…“! Erler, sich direkt an den Rufer wendend: „Als gebildeter Zeitgenosse wissen Sie, Herr Kollege Haase, natürlich, was meine Aussage bedeutete“. Der CDU-Mann: „Na klar, was denken Sie denn“!? Daraufhin Erler, unter dem Gejohle seiner Genossen: „Ich gratuliere Ihnen, Herr Kollege. Denn damit wissen Sie mehr als ich. Meine Bemerkung bedeutet nämlich gar nichts. Sie klingt zwar ungemein wichtig, ist aber in Wahrheit nur Blödsinn“

Warum die Erinnerung an diese Episode? Weil sich die deutsche Sprache schon seit längerem in eine Richtung bewegt, wie sie schon vor mehr als einem halben Jahrhundert von redegewandten Fritz Erler benannt worden war – Blödsinn. Oder genauer: Sie wird in diese Richtung bewegt. Von Politikern, die Nichtssagendes in neue, bunte und nicht selten auch verniedlichende Verbalformen zu kleiden versuchen. Außerdem von sich selbst dazu ernannten Moral-Aposteln, die sich zwar um keine Grammatik-Regeln kümmern, aber fest entschlossen sind, der – in ihren Augen – gesellschaftspolitisch zurückgebliebenen Mehrheits-Bevölkerung mit Doppelpunkten, Quer-, Unter- und Überstrichen die unbedingte vokale Erwähnung jeder, aber auch wirklich jeder sexuellen Ausrichtung und aller Bekenntnisse einzubläuen. Und nicht zu vergessen jene, die sich mit zum Teil aberwitzigen, aber in den Ohren mancher Zeitgenossen dennoch besonders gebildet klingenden Neu-Vokabeln den Anstrich herausgehobener Intellektualität verpassen möchten.

In diese Kategorie gehört das in jüngster Zeit immer häufiger zu vernehmende Wort „proaktiv“. Das klingt, kein Zweifel, ziemlich dynamisch und scheint seinem Benutzer die Eigenschaft besonderer Energie und Handlungs-Entschlossenheit zuzuweisen. In Wirklichkeit verbirgt sich dahinter nichts anderes als ein weißer Schimmel oder ein schwarzer Rabe oder eine weibliche Bundeskanzlerin. Also eine simple Verdoppelung eines gleichen Begriffes. Eine  tautologie, wie die Sprachwissenschaftler sagen. Oder hat schon mal jemand von antiaktiv“ gehört. Das Gegenteil von aktiv (also tätig sein) ist doch bekanntlich ganz einfach passiv (also untätig). Das reicht allemal, und das davor gehängte pro ist lediglich ein selbstverliebter Versuch, sich mit gebildet klingendem   Scheinwörtern auf ein höheres intellektuelles Niveau zu hieven. Weitere Beispiele gefällig? Bitte sehr. Das schwammige zeitnah zählt dazu. Was soll man denn darunter verstehen? Muss vielleicht irgendetwas innerhalb von 30 Tagen erledigt werden? Oder während einer Woche, vielleicht sogar schon nach zwei Tagen? Klingen umgehend, alsbald, unverzüglich, so schnell wie möglich usw. in den Ohren der Neusprech-Schöpfer womöglich zu simpel, überholt, altmodisch und nicht mehr cool genug für komplexe Kommunikationen in einer von social media und Algorithmen bestimmten Epoche? Dann sollte darüber dringend diskutiert werden. Und zwar ergebnisoffen, selbstverständlich. Bei dieser Aufforderung mag der zum Nachdenken neigende Zeitgenosse möglicherweise einwenden, dass es doch eigentlich selbstverständlich sei, bei der Suche nach Problemlösungen das Resultat nicht von vornherein zu kennen, sondern für Vorschläge aufgeschlossen zu sein – ergebnisoffen also.

Klar, diese Sicht der Dinge ist vermutlich altmodisch – also old school. Wie wohl überhaupt die kritische Betrachtung der Beflissenheit überholt ist, in der hierzulande Anglizismen häufig „germanisiert“ werden. Nun ist ja wirklich nichts dagegen zu sagen, wenn eine Sprache sich an eine andere anlehnt. Vor allem dann nicht, wenn diese praktisch weltweit die technische Kommunikation sowie über große Strecken auch die kulturelle und nicht selten auch die sportliche bestimmt. Warum sollte ein Reporter nicht von einem team sprechen, wenn ihm einfach das Wort Mannschaft nicht über die Lippen kommen will, weil er Sorge hat, dass sich die Mitgliederinnen einer Frauenmannschaft sonst diskriminiert fühlen könnten. Noch besser allerdings wäre es, wenn Schüler nicht bloß massenweise von downloaden redeten, sondern englischen Satzbau, englische Vokabeln und englische Grammatik in möglichst korrekter Übersetzung und Anwendung auf ihre Speicherzellen herunterlüden. Zum Beispiel: Tatsächlich heißt es auf englisch „it makes sense“. Und in deutsch? Hier macht nicht etwas Sinn, wie nahezu alle Welt meint, sondern es ergibt sprachlich ein solcher. Und zwar keineswegs nur am – seit geraumer Zeit hierzulande – gern zitierten Ende des Tages (By the end of the day), sondern immer.

Nun muss, selbstredend, nicht jede Floskel unter einer Kontroll-Lupe auf ihre Sinnhaftigkeit hin untersucht werden. Floskeln (vom lateinischen „flosculus“ = Blümchen) können durchaus auch intelligente und lustige Füllsel sein, um mehr oder weniger elegant Sprechpausen zu überbrücken. Auch wenn einem so manche Formulierung schon auf den Wecker gehen kann – vor allem dann, wenn sie vom Gesprächspartner in einer Art Dauerschleife gebraucht wird. So, wie zum Beispiel „Ich sag mal…“ (bzw. „Ich sag mal so“). Dann würde man seinem Gegenüber gern nahelegen, das was er sagen möchte doch ganz einfach so zu sagen. Ohne die floskelhafte Einleitung. Oder jenes andere sprachliche Meisterstück, mit dem nicht zuletzt die schillernde bayerisch-schwäbische Grünen-Politikerin Claudia Roth geradezu meisterhaft jonglierend umzugehen versteht: „Da bin ich ein Stückweit bei Ihnen…“ Diese Verbal-Jonglage klingt, ohne Zweifel, erhaben. Und dennoch strotzt sie geradezu vor Sinnlosigkeit. Welches Stück ist denn jeweils gemeint, wenn von einer (sagen wir) Gesundheitspolitik die Rede ist, die sich angeblich ein Stückweit verselbständigt haben soll?  Oder ist der Bürger ein Stückweit verloren, wenn er sich vor Übergriffen fürchtet? Um der Wahrheit die Ehre zu geben, hat sich nicht allein Claudia Roth in diese Floskel verliebt, auch Wolfgang Schäuble würde es nicht schaden, seine Reden und Interviews einmal danach abzuklopfen.

Man braucht kein Sprachwissenschaftler und auch kein Unternehmens-Coach zu sein, um zu wissen, dass Sprache weit mehr ist als eine bloße Aneinanderreihung von Worten und Formulierungen. Sprache ist Inhalt. Sie transportiert unsere Sehnsüchte, Ängste, Freuden und Sorgen – kurz: Sprache ist der wichtigste Kulturträger überhaupt. Sie kann ermuntern und beruhigen, beschreiben und verniedlichen. Wer wüsste das besser als die Politik und dort besonders die Truppe, die sich professionell um die Transmission von Inhalten in die Öffentlichkeit kümmert. Wahre Verschleierungskünstler sind darunter. Oder ist es etwa keine Meisterleistung, den Eindruck zu vermitteln, bei einem Entsorgungspark handele es sich um ein Freizeit- und Erholungsareal und nicht um eine Müllhalde oder gar um ein atomares Zwischenlager?

Kaum anders stellt sich die Lage da bei den jüngsten Beglückungen, mit denen die Bundesregierung auf die sich krisenhaft zuspitzende Wirtschaftslage reagiert. Drei Entlastungspakete hat die Berliner Ampel-Koalition mittlerweile geschnürt, um die Bevölkerung vor allzu drastischen Einschnitten in ihr gewohntes, weitgehend sorgenfreies Leben zu schützen. Jedes davon Milliarden Euro umfassend. Das ist, einerseits, fraglos durchaus positiv, weil angenehm. Wer freut sich schließlich nicht über eine Entlastung, wenn Probleme drücken. Auf der anderen Seite – das Geld fällt ja nicht vom Himmel, sondern muss (so jedenfalls die Regeln wirtschaftlicher Logik) zuvor erarbeitet werden. Und von wem? Na, doch wohl von uns allen, die wir entlastet werden sollen. Das aber heißt doch, dass wir vor der Entlastung erst einmal belastet werden. Oder hinterher. Im Klartext: Wir haben es hier in Wirklichkeit mit einer Belastungsentlastung zu tun, wie es gerade ein kundiger Zeitgenosse formulierte. Aber das hat bisher weder in Berlin noch sonst wo im Lande jemand öffentlich gesagt. Jedenfalls nicht laut und vernehmbar. Oder haben wir, am Ende des Tages, etwa etwas überhört? Wurde vielleicht wieder einmal eine Brücke geschlagen über den wegelosen Bereich…?

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel

  

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