Angemerkt: Dummheit, Frust oder Lust am Untergang?
Von Gisbert Kuhn

Ja, es stimmt. Die Luft ist rauer geworden im Land, das Klima beim Umgang miteinander kälter. Die Menschen (zumindest sehr viele) sind erkennbar ängstlicher beim Blick in die für sich und ihre Kinder zu erwartende Zukunft. Die Sorge vor Armut hat zugenommen zwischen Flensburg und Konstanz, dem Rhein und der Elbe. Nicht so sehr bei den Bürgern, die – vielfach wirklich ohne eigene Schuld – ohnehin schon angewiesen sind auf Sozialhilfe und die Unterstützung durch „Tafeln“. Die wissen längst um die tägliche Not. Nein, die Sorge ist angekommen auch in der so genannten Mitte der Gesellschaft. Jener breiten Masse also, die in den ganzen siebeneinhalb Jahrzehnten seit Gründung der Bundesrepublik die Stütze des Staates war und ihn immun gemacht hat gegen alle Verlockungen und Bedrohungen durch extreme bis extremistische Kräfte an den politischen Rändern rechts und links.
Dabei hilft es nicht viel, diesen offen ausgesprochenen oder auch nur unterschwellig empfundenen Ängsten vor Wohlstandsverlust mit Hinweis auf die wirtschaftlich unvergleichbar härteren Nachkriegs- und Aufbaujahre zu begegnen. Für die Jetzt-Generationen zählen Geschichte und historische Erfahrung nichts bis kaum etwas. Der Begriff „Verzicht“ ist für große Teile der deutschen Öffentlichkeit zum Fremdwort geworden. Längst vergessen, dass zu den bedeutendsten, tragenden Säulen unseres Staates eigentlich das in der christlichen genauso wie in der sozialdemokratischen Soziallehre verankerte „Subsidiaritäts-Prinzip“ gehörte. Ein Prinzip, das besagt: Zunächst einmal ist jeder und jede für das eigene Fortkommen und das der Angehörigen zuständig. Und nur dann, wenn er oder sie dazu außerstande sein sollte (natürlich gibt es genügend solcher Fälle), muss die Solidarität eingreifen. Das kann der Staat sein oder die Kirche, kann durch caritative Vereinigungen oder in welcher Form auch immer geschehen. Aber erst einmal ist, nach dem Prinzip der Subsidiarität, Eigenverantwortung gefordert.
Tatsächlich aber sind wir in Deutschland doch längst ein Volk der (gegen nahezu alles) Versicherten und Staatsbetreuten geworden. Und zwar keineswegs gezwungen, sondern freiwillig und freudig. Das Prinzip des Gebens (der Staat) und Forderns (die Gesellschaft) hat sich im Laufe der Dekaden immer mehr perfektioniert: Der „Staat“ (Regierung, Parteien, Parlamente) verteilt – weil ja die Wähler günstig gestimmt werden sollen – Wohltaten in Form vielfältiger und wachsender Sozialleistungen. Diese werden dann von uns in der Regel als ganz selbstverständlich und ohne Dankeschön (schließlich ist Dank keine politische Kategorie) einkassiert und anschließend ziemlich schnell mit neuen Wünschen und Forderungen erwidert. Meistens versehen mit dem Hinweis „Gerechtigkeit“.
Dieses lustige, auf jeden Fall aber ergiebige, Spiel scheint jetzt in Gefahr geraten zu sein. Nicht etwa plötzlich. Mit einem Mal sozusagen. Nein, da hat sich schon lange, besonders aber auch im 21. Jahrhundert ziemlich viel zusammen gebraut, was sich nun nicht selten mit Blitz und Donner entlädt: Die EU nahm 2004 mit einem Schlag zehn neue Mitglieder auf und verschluckte sich nachhaltig daran. Nicht genug damit – 2007 kamen Rumänien und Bulgarien dazu, und 2013 auch noch Kroatien. Ergebnis: Die schon zuvor kaum noch vernünftig lenkbare Union wurde durch die Erweiterung um die vielen, sagen wir: systemfremden, neuen Partner praktisch völlig bewegungsunfähig. Es folgten: In der Konsequenz des Zusammenbruchs der amerikanischen Bank Lehman Brothers 2007/8 die europäische Finanzkrise, die das Vertrauen der Bürger in die neue Euro-Währung bis in die Grundfesten erschütterte. Währenddessen wurde die gewaltsame russische Vereinnahmung der Krim 2014 im Westen erstaunlich achselzuckend hingenommen. Wichtiger als dieser Bruch des Völkerrechts erschien Politik und Öffentlichkeit (und das sind wir alle!) die Aussicht auf unabsehbar lange Zeit aus Russland zulaufende billige Energie in Form von Gas und Öl.
„Friedensdividende“ lautete das verheißungsvolle Zauberwort, das Ende der 1980-er Jahre, nach der deutschen Wiedervereinigung und dem Zusammenhang von Sowjetunion und Ostblock, freudig die Runde machte. Gewiss, nicht nur hier in Deutschland. Aber bis uns besonders laut. Wozu brauchen wir eigentlich noch eine Bundeswehr und Sicherheitspolitik? Weg mit dem ganzen Zeug, die Welt ist sicher geworden. Wer ein wenig nachdenkt, wird sich erinnern – Außen- und Sicherheitspolitik fehlte keineswegs erst in den deutschen Wahlkämpfen seit dem Jahr 2000. Nein, kritische Fragen nach der äußeren Sicherheit waren durchaus auch schon davor politisch, medial und gesellschaftlich unerwünscht geworden. Die Wirtschaft brummte, und störende Gedanken über vielleicht irgendwann einmal drohende ökonomische Abhängigkeiten von fragwürdigen Großmächten machten sich die Wenigsten.
Und nun das! Der von Wladimir Putin befohlene Überfall auf die Ukraine hat alles verändert. Die vertraglich vereinbarte Sicherheit und Unverrückbarkeit der bestehenden Grenzen. Die entsprechend garantierte Unverletzlichkeit staatlicher Existenzen. Den für alle Seiten förderlichen, friedlichen und weltweiten Handel. Stattdessen wieder, wie im kältesten Kalten Krieg, Embargos, Lieferstopps, Drohungen und Gegendrohungen. Wer früher, also in den Zeiten von Frieden und scheinbar unbegrenzt zunehmenden Wohlstand, heranwuchs, wird – logischerweise – Schwierigkeiten haben, sich in einer derart veränderten Welt zurechtzufinden. Wie soll er mit der ihm bislang total unbekannten, aber demnächst vielleicht tatsächlich drohenden Notwendigkeit klarkommen, auf irgendetwas verzichten zu müssen. Möglicherweise auf einen vierten oder sogar dritten Kurzurlaub „all inclusive“ in der Türkei oder auf Mallorca?!
Das ist keineswegs sarkastisch. Es bewegt sich vielmehr hart an der Realität. Interessanterweise aber streben im Moment die Zahlen der in den Urlaub drängenden Fluggäste ganz offensichtlich auf neue Höchstmarken zu. Und zwar ungeachtet der Tatsache, dass unsere Gesellschaft gleichzeitig von der Angst vor der (weiß Gott, realen) Klima-Erwärmung geschüttelt wird und gerade das Fliegen als extrem schädlich anprangert. Welch seltsame Zeit, welch skurriles Land, welch merkwürdige Bürger, welch absonderliche Widersprüche. Da reisen die Deutschen aus Ost wie West ungebremst per Wohnmobil oder Flugzeug an die Traumstände in aller Welt oder genießen in vollen Zügen die all-inclusive-Verführungen auf Kreuzfahrtschiffen – und gleichzeitig verbreiten nicht wenige aus genau diesen Kreisen daheim Angst vor „exotischen“ Zuwanderern (besonders: Geflüchteten) bis hin mitunter unverstellten Fremdenhass.
Es ist ja wahr – es läuft in der Tat eine Menge schief im Lande Teutonia. Zwar ist bei Weitem nicht an allen Fehlentwicklungen die in Berlin regierende rot-grün-gelbe Ampel-Koalition schuld, aber doch an vielen. Oberster Anspruch an alle Regierungen ist und muss ja auch sein, mit ihrem Auftreten und Beschlüssen Handlungsfähigkeit und am besten jederzeit Deutungshoheit bei schwierigen Problemen zu vermitteln. Genau das aber ist bei Olaf Scholz und seiner Truppe gegenwärtig nicht der Fall. Freilich muss man ihnen zu Gute halten, dass der Ukraine-Krieg all die Vorhaben schlagartig zunichte gemacht hat, die sie eigentlich hatten anpacken wollen. Und eine, durch die Kriegsfolgen radikal veränderte, „Zeitenwende“ ist nun einmal wirklich nicht mit einer bloßen Handbewegung zu bewältigen.
Das erinnert noch einmal an das Thema „Dankbarkeit in der Politik“. Anders gesagt, Lob oder wenigstens vielleicht Anerkennung der Bürger für gewisse Leistungen. Nehmen wir zum Beispiel die Lage der Energieversorgung vor einem Jahr. Machte sich damals nicht fast schon Panik breit im Lande bei der Frage, ob wir im kommenden Winter wohl genügend Wärme haben werden? Dieses Problem ist von Robert Habeck, wenigstens zuvorderst, überzeugend gelöst worden. Auch wenn Habeck damit gewaltig gegen viele eigene, auf jeden Fall gegen massive Glaubenssätze seiner grünen Partei verstoßen hat. Dank aus der Gesellschaft aber hat er – vernehmbar – nie erhalten. Zudem bewahren ihm die damaligen Leistungen nicht vor Prügeln wegen des unter seiner Verantwortung entstandenen, total verkorksten, Entwurfs eines Heizungsgesetzes.
Also – schuld sind in den Augen der Wähler immer „die da oben“. Das war immer so, und das wird mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit auch immer so bleiben. Nun hat es aber in der 70-jährigen Geschichte der Bundesrepublik – parteiübergreifend – immer starke Persönlichkeiten gegeben, die gerade in Krisenzeiten großes Vertrauen im Volk besaßen. Nicht wenige Namen klingen heute wie aus dem ausgehenden Mittelalter: Konrad Adenauer, Willy Brandt, Karl Schiller, Franz-Josef Strauß. Aber auch aus der Neuzeit: Helmut Schmidt, Helmut Kohl und – ja auch – Angela Merkel. Solche Persönlichkeiten – keine Frage – wird man im gegenwärtigen Polit-Angebot tatsächlich nicht einmal mit der Lupe finden. Zudem haben sich die Parteienlandschaft und das Wählerverhalten stark verändert. Die 1990 „beigetretene“ DDR brachte (wie hätte es anders sein können?) mit der „Linken“ eine ansehnliche kommunistische SED-Mitgift ins nun wieder gemeinsame Deutschland. Und auf der äußersten Rechten gelang es einem Kern entschlossener und gut organisierter (nennen wir sie sehr zurückhaltend) „Nationalisten“, ein ursprünglich EU-kritisches und professoral geführtes Häuflein Namens Alternative für Deutschland (AfD) total umzukrempeln.
Das war schon ein veritabler Coup, der da veranstaltet wurde. Wer und was sich dort heute um den ehemaligen hessischen Geschichtslehrer Björn Höcke tummelt, kann selbst relativ gefestigte Zeitgenossen mit Kenntnissen vor allem der jüngeren deutschen Geschichte in Wallung bringen. Ein wahres Konglomerat überzeugter Nazis, Reichsbürger, eingefleischter Impfgegner, Putin-Verehrer, Weltverschwörer. Und die AfD erhält Zulauf. Ganz gewiss nicht nur von ebenfalls in der Wolle gefärbten Demokratiefeinden. Nicht wenige AfD-Wähler geben an, sich durch die „Alt-Parteien“ nicht mehr vertreten zu fühlen. Das ist nachvollziehbar. Aber ist dann eine Partei wirklich eine überzeugend neue politische Heimat, die nur aus „Nein“ und keiner eigenen Lösung besteht? „Nein“, zur europäischen Einigung – also der größten Leistung, die auf diesem Kontinent in seiner ganzen Geschichte erreicht wurde. „Nein“ zu Zuwanderung, stattdessen „Deutschland den Deutschen“. Und dies in einer Zeit, in der die Wirtschaft händeringend um Facharbeiter buhlt; woher auch immer. Dass Deutschland nicht allein das gesamte Elend der Welt wird meistern können, ist dabei den Allermeisten enauso bewusst wie die Tatsache, dass wir allein nicht das Klima zum Besseren werden wenden können.
In diesem Herbst, am 8. Oktober, werden in Hessen und Bayern neue Landtage gewählt. Klar, es geht dabei nicht um das Schicksal der Bundesrepublik. Aber es sind zwei wichtige Bundesländer. Natürlich sind Umfragen noch keine Wahlen und Stimmungen auch noch keine Stimmen. Aber sie lassen Trends erkennen. Und es regt schon sehr zum Nachdenken an, dass im aktuellen Stimmungsbild der Bürger diese AfD gleichauf liegt mit der einstmals großen und traditionsreichen SPD. Geschichtliche Ereignisse, das weiß man, wiederholen sich niemals eins zu eins. Aber sie können – auch und gerade in der Rückschau – Trends wieder erkennbar werden lassen. Natürlich ist die heutige Situation in keiner Weise vergleichbar mit dem Elend der Arbeiterschaft zu Beginn der 30-er Jahre. Aber damals war sie auch da – nämlich jene Stimmung, man müsse „denen da oben“ mal einen Denkzettel verpassen. Und „den mit dem Bärtchen“ werde man schon zügeln.
Wie es weiter ging, ist bekannt. Es endete mit millionenfachem Leid, unfassbaren Verbrechen und der größten Katastrophe in der deutschen Geschichte. Von dem in Augsburg geborenen Dichter und Dramatiker Bert Brecht soll (so genau weiß das keiner) der berühmte Satz stammen, „nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber“. Nun ist nicht bekannt, was wohl die klugen Kälber wählen. Aber, im übertragenen Sinne dieser Erkenntnis, stellt sich wirklich die Frage, worin der tiefere Sinn liegen soll, dass jemand aus Dummheit (oder ganz einfach nur Frust bzw. Wut) eine Partei und damit einen Weg wählt, der vielleicht wieder direkt in den Untergang führt.
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.