Von Günter Müchler

Günther Müchler

Wer möchte, dass die Welt so aussehe wie bei sich zu Hause, kann sich teure Reisen sparen. Beispielsweise die nach Katar. Das Emirat am Persischen Golf mit seinen Wolkenkratzern und Wüsten ist ein autokratischer Staat. Die Verfassung beruht nicht auf der Erklärung der Menschenrechte, sondern auf der Scharia. Frauenrechte sind eingeschränkt, Homosexualität ist strafbar. Das war schon so, als 2010 die Austragung der Fußballweltmeisterschaft 2022 dorthin vergeben wurde. Damals zuckte man die Schultern. Erst jetzt, knapp vor Anpfiff, skandalisieren Politik und Medien das Turnier und reden Fußballfans, die die Spiele sehen wollen, ein schlechtes Gewissen ein. Freunde des Sports sollten cool bleiben und sich auf die Spiele freuen.

So furchtbar kann Katar doch eigentlich gar nicht sein. Im Frühjahr startete Robert Habeck eine spektakuläre Einkaufsreise in die Emirate. Die neureichen Scheichs baggerte er um Ersatz für das Russland-Gas an. Viel kam bei der Akquise nicht heraus. Doch schon der Versuch wurde Habeck gutgeschrieben. Die Wirtschaft und die oppositionelle CDU/CSU zollten dem Grünen-Politiker Respekt, weil er angesichts der nationalen Notlage über seinen Schatten gesprungen sei.

Wenige Monate später rückte die Ampel-Regierung den Eindruck dann zurecht. Nun war es Nancy Faeser, die Bundessportministerin, die nach Katar jettete, nur um auf dem Boden des vor Vorfreude bebenden Wüstenstaats zu verkündigen, die Entscheidung für Katar als Austragungsort der WM sei eine schlechte gewesen. Im Berliner Ampel-Match Realpolitik gegen Gesinnungspolitik stand es unentschieden.

Doppelmoral ist im Beziehungsgeflecht Sport und Politik nichts Neues. Aktuell erlebt das Pharisäertum allerdings einen Höhenflug. Natürlich wäre es besser gewesen, die WM in Andorra oder auf den Faröer-Inseln stattfinden zu lassen. Oder doch nicht? Postkolonialisten und Antirassisten hätten gezetert, wieder einmal werde der Globale Süden vernachlässigt. Noch nie gastierte der Fußball-Zirkus in einem arabischen Land. Beim Weltsport Nummer eins müssten alle Zeit-, Klima- und Hautfarbezonen zum Zug kommen. Das erwartet die Politik von der FIFA. Weg vom Euro-Zentrismus! Vielfalt oblige!

Also erhielt 2010 Katar den Zuschlag. Beschlossen wurde außerdem, die WM 2018 an Russland zu geben. Schon damals war bekannt, dass Putin-Russland keine Heimstätte der Freiheit ist. Heute, neun Monate nach dem Überfall auf die Ukraine, weiß man das noch besser. Trotzdem fand die WM in Russland statt. Putin bekam seine Bühne. Kritik? Sie war moderat, ähnlich wie kurz danach bei den Olympischen Winterspielen im Staate China, auch dieser bekanntlich keine lupenreine Demokratie.

Ein bisschen muss man die FIFA in Schutz nehmen. Gewiss, es handelt sich bestimmt nicht um eine Vereinigung, die den Publikumspreis für Anstand und Wohltätigkeit verdiente. Viel Geld wurde „hingeblattert“, damit Katar aus der Lostrommel fiel. Aber es ist auch nicht einfach, es allen recht zu machen. Das Angebot austragungswilliger und demokratisch vorbildlicher Gemeinwesen ist nun leider mal beschränkt. Die Vorhersage, nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums werde die Demokratie bald die einzige Staatsform auf der Welt sein, ist dummerweise nicht eingetroffen. Global betrachtet, ist der Anteil der Demokratien in den zurückliegenden Jahren geschrumpft, momentan beträgt er 45,7 Prozent. Die Diktaturen sind auf dem Vormarsch. Und Diktaturen sind für Veranstalter wie die FIFA oder IOC zuverlässige Partner.

Hauptvorwurf an die Adresse der Wüstenscheichs ist ihre Unduldsamkeit gegenüber LGBTQIA. Für diese Gemeinde setzt sich auch der um Anschlussfähigkeit an den Zeitgeist bemühte DFB ein. Dementsprechend erhielt der Lufthansa-Airbus A330, mit dem Hansi Flicks Truppe in Richtung Golf abhob, eine Sonderlackierung. Sie zeigte eine Kette untergehakter Sportsmänner unterschiedlichen Aussehens und dazu den Slogan „DiversityWins“ (Vielfalt siegt). Den DFB-Funktionären verschafft das demonstrative Extra sicher ein gutes Gefühl.

Ob es allerdings auch die Kataris beeindruckt, ist zweifelhaft. Islamische Staaten sind üblicherweise homophob, auch wenn dies zu sagen in manchen Ohren vielleicht islamophob klingt. Homosexualität ist in 22 islamischen Ländern verboten, in 10 gar mit der Todesstrafe bedroht. Allein die islamische Republik Iran hat seit 1979 rund 4000 Todesurteile gegen Homosexuelle vollstreckt. Katar ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. 

Die Doppelmoral, die die Ampel-Koalition in Sachen Katar praktiziert, ist spiegelbildlich auch in den Medien anzutreffen, insonderheit bei ARD und ZDF. Früher waren Sportredaktionen dafür bekannt, das Lied der großen Verbände zu pfeifen. Inzwischen stehen investigative Dokumentationen hoch im Kurs. Man möchte halt nicht bei denen sein, die die Zweiteilung der Welt in gut und böse verpasst haben.

Mitten im Countdown der WM-Eröffnung entfesselten die Öffentlich-Rechtlichen eine regelrechte Kampagne.  Kein Tag verging ohne Horrorberichte über Menschenrechtsverletzungen im Emirat. So heftig war der Starkregen moralischen Empörung, dass Gebührenzahler mit Freude am Fußballsport darüber nachsinnen, ob sie sich vor dem Fernseher nicht besser maskieren sollten. Vollkommen unter ging dabei freilich, dass ARD und ZDF zu den großen Unterstützern der WM gehören. Sie übertragen 48 von 64 Begegnungen und haben für die Rechte gut 200 Millionen Euro „hingeblattert“.

„Fair is foul and foul is fair“: Macbeths Hexen würden über die Verwirbelung von Gutmenschentum und Interessenwahrnehmung staunen. Fußballfans sollten sich dagegen den Spaß nicht verderben lassen. Der Ball ist rund und der Fußball die schönste Nebensache der Welt – Hauptsache, Flicks Mannen spielen endlich wieder richtig gut.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

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